Stichwahl ums Präsidentenamt: Brasilien vor dem Showdown
Bolsonaro oder Lula? Der rechte Amtsinhaber liegt in den Umfragen hinten. Aber was heißt das schon: Auch ohne ihn dürfte der Bolsonarismus weiterleben.
In den letzten Umfragen liegt der Sozialdemokrat Lula vorne, doch Bolsonaro hat leicht aufgeholt. Mehrfach erklärte er außerdem, die Ergebnisse nur im Falle seines eigenen Sieges anerkennen zu wollen. Viele rechnen deshalb mit Gewalt, einige befürchten sogar einen Putschversuch. Was steht bei der Wahl am Sonntag auf dem Spiel? Und wo befindet Brasilien nach knapp vier Jahren unter Bolsonaro?
Bereits bei der Amtsübergabe am Neujahrstag 2019 ließ der rechtsradikale Rüpel keinen Zweifel daran, wohin die Reise mit ihm gehen würde. In einer flammenden Rede auf dem Praça dos Três Poderes, dem Platz der Drei Gewalten in der Hauptstadt Brasília wetterte er gegen „Sozialismus, politische Korrektheit und die Umkehrung der Werte“. Und in der Tat begann er ab Tag eins, sein rechtsautoritäres Projekt umzusetzen.
Allerdings kann Bolsonaro nicht durchregieren. Im Parlament erreicht er kaum Mehrheiten, er regiert per Dekret, und viele seiner Gesetzesprojekte sind gescheitert. Einige vertreten deshalb die Auffassung, Bolsonaro habe auf ganzer Linie versagt, er sei eigentlich ein schwacher Präsident, nichts mehr als ein zahnloser Tiger. Es stimmt zwar, dass ihm gerade der Oberste Gerichtshof immer wieder Grenzen aufzeigt. Doch in vielen Punkten war Bolsonaro extrem erfolgreich.
Bolsonarismus ist treu
Soziale und gesellschaftliche Errungenschaften, die nach der Militärdiktatur mühsam errungen wurden, sind bereits systematisch zurückgedreht. Mit Bolsonaros Segen konnten sich fundamentalistische Christ*innen in den politischen Institutionen festsetzen, während Goldgräber*innen und Holzfäller*innen ganze Landstriche in Amazonien erobert haben, und immer mehr Waffen im Umlauf sind.
Mit seiner unkonventionellen Art untergrub Bolsonaro zudem viele Grundsätze des politischen Systems oder höhlte sie aus. Die Inszenierung als Anti-Politiker hat er perfektioniert und die sozialen Medien setzt er als Waffe ein. Brasiliens Präsident steht für eine neue Art des Rechtsradikalismus, die keine Panzer mehr auf den Straßen braucht, und in einer Allianz aus Neoliberalen, Militärs und Fundamentalist*innen das Land nach ganz rechts zu drehen versucht.
Brasilien kurz vor dem Kollaps
Bolsonaro hat das größte Land Lateinamerikas an den Rand des Kollapses geführt: traumatisiert durch die Pandemie, als Aussätziger im Ausland gehandelt, zernagt durch die Wirtschaftskrise. Er hat alte Wunden aufgerissen, neue hinzugefügt. Dennoch kann sich der Rechtsradikale auf den harten Kern seiner Unterstützer*innen verlassen. Mit dem Bolsonarismus gibt es eine schlagkräftige Bewegung, die treu hinter ihrem Idol steht.
Der Blick in andere Länder lohnt, um mögliche Szenarien für die Zukunft Brasiliens zu skizzieren: In den USA ist der Trumpismus trotz Donald Trumps Abwahl weiterhin stark, die Gesellschaft tief gespalten. Bei der nächsten Wahl könnte ein*e Kandidat*in aus dem Trump-Lager mit derzeit erschreckend guten Aussichten in den Wahlkampf ziehen – oder im schlimmsten Fall sogar Trump selbst.
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Man sollte nicht den Fehler machen, autoritäre Staatschefs als individuelle Phänomene und nur im Rahmen ihrer Amtszeiten zu betrachten. Ihr Ziel war nie, einfach nur Wahlen zu gewinnen. Es geht darum, Gesellschaften zu verändern. Und damit sind sie bisweilen erschreckend erfolgreich.
Bolsonarismus repräsentiert eine Idee und eine neue Art, Politik zu machen – und das nicht nur auf der großen Bühne der brasilianischen Bundespolitik. In den Parlamenten im ganzen Land sitzen Tausende ultrarechte Ex-Polizist*innen und bibelschwingende Gotteskrieger*innen, die die Politik bereits nach ihren Grundsätzen mitgestalten. Bei der ersten Wahlrunde am 2. Oktober schafften etliche bolsonaronahe Politiker*innen den Einzug in die Parlamente. Das heißt: Es ist einfacher, Bolsonaro abzuwählen, als den Geist des Bolsonarismus aus der Politik zu entfernen.
Die zweite Amtszeit ist schlimmer
Bisher steckt der brasilianische „Autoritarismus durch Wahlen“ noch in den Kinderschuhen. Aber gewinnt Bolsonaro die Wahl, steht nichts weniger als die Demokratie auf dem Spiel. Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass autokratische Staatschefs Zeit brauchen, um demokratische Systeme auszuhebeln. Eine Wiederwahl gibt sie ihnen.
Die erste Wahl eines „Anti-Establishment-Kandidaten“ wie Bolsonaro ist oft die Folge schwerer gesellschaftlicher Krisen. In solchen Zeiten floriert der Hass auf vermeintliche Eliten, es gibt Feindbilder und den Wunsch nach dem radikalen Neustart.
Manche Wähler*innen mögen nicht mit allen Positionen eines Bewerbers übereinstimmen, sehen in ihm jedoch die Alternative zum Status quo. In vielen Fällen folgt die Desillusionierung auf dem Fuß: Nach ihrem Amtsantritt büßen die gewählten Autoritären zumeist an Zuspruch ein, ihre Umfragewerte fallen, Wähler*innen schämen sich für ihre Entscheidung.
In anderen Fällen bauen die unbequemen Regierenden ihre Beliebtheit aus. Kommt es zu einer Wiederwahl, steht das Tor zum autoritär gefärbten Staatsumbau weit offen.
In der zweiten Amtszeit beginnen autoritäre Machthaber damit, demokratische Institutionen zu schwächen und Gerichte zu kontrollieren. In Staaten wie Ungarn oder Venezuela waren Eingriffe in das Justizsystem der erste Schritt des autoritären Staatsumbaus.
Auch Bolsonaro hat in den letzten Wochen mehrfach angedeutet, den Obersten Gerichtshof umbauen zu wollen. Ähnlich wie in den USA, wo der Supreme Court unlängst das Recht auf Abtreibung kassierte, stünden auch in Brasilien viele Grundsatzurteile auf dem Spiel.
Außerdem würde Bolsonaro in einer zweiten Amtszeit erfahrener agieren. In den letzten dreieinhalb Jahren hat er viel verbockt, teils aus Unvermögen, teils aus ideologischer Verbohrtheit: Um sich als Anti-System-Politiker zu inszenieren, befand er sich anfangs auf Kriegsfuß mit dem Kongress. Doch bald lernte er, Arrangements zu suchen und Stimmen für Gesetze einzukaufen. Diese Erfahrung käme ihm zugute, um in einer zweiten Amtszeit etwa die gefürchtete Reform des Antiterrorgesetzes durchzubringen.
Gemeinsam gegen Bolsonoaro
Heute werden demokratische Prozesse zumeist nicht mehr über den klassischen Staatsstreich torpediert, sondern durch systematische Attacken. In Brasilien galten die unter Bolsonaro der Pressefreiheit, dem Respekt vor politischen Gegner*innen und einer zivilisierten öffentlichen Debatte. Solche Erosionen erreichen irgendwann einen Wendepunkt, der vieles kippen lässt.
Bolsonaro hat nie einen Hehl daraus gemacht, was er ist und wofür steht: Er ist ein notorischer Antidemokrat und ein Bewunderer von Militärdiktaturen. Dennoch hielten Brasiliens demokratische Institutionen bisher stand, und es gelang dem Präsidenten nicht, einen offenen Bruch zu provozieren – auch weil ihm dafür die nötige Rückendeckung fehlt.
Medien berichten kritisch, es gibt eine aktive Zivilgesellschaft und auch im Ausland setzen viele auf seine Abwahl. Deshalb ist es recht unwahrscheinlich, dass es einen klassischen Putsch geben wird. Dennoch: Dass Bolsonaro einfach so abtreten wird, gilt als so gut wie ausgeschlossen.
Viele setzen ihre ganze Hoffnung auf Bolsonaros großen Widersacher: Ex-Präsident Lula. Und der 77-jährige Ex-Gewerkschafter scheint tatsächlich die einzige Person zu sein, die es vermag, Bolsonaro in der Wahl zu schlagen. Lula wird nicht müde zu betonen, das tief gespaltene Land wieder zusammenbringen zu wollen.
Doch wie er das genau machen will, sagt er nicht. Es ist eine Illusion zu glauben, dass er im Fall eines Wahlsieges daran anknüpfen kann, wo am Ende seiner letzten Amtszeit 2011 aufgehört hat. Der Politiker der Arbeiterpartei PT wird viele Zugeständnisse an seine konservativen Partner*innen machen müssen, würde im völlig zersplitterten Parlament hart um Mehrheiten kämpfen und einem völlig radikalisierten Bolsonarismus gegenüberstehen.
Der alte Fuchs Lula ist sich der Kräfteverhältnisse bewusst und bewegt sich merklich zur Mitte. Zuletzt erklärte Lula, gegen Abtreibungen zu sein, polemisierte gegen Uni-Sex-Toiletten an Schulen. An der linken Basis löste das Unmut aus. Doch allzu große Kritik wird im Wahlkampf zurückgehalten. Es müsse erst einmal darum gehen, Bolsonaro zu schlagen, sagen viele. Dann könne man weiter schauen.
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