Steigende Löhne für PflegerInnen: Das Dilemma der Schwachen

Eine 89-Jährige kann ihre Pflege nicht mehr finanzieren, weil die PflegerInnenlöhne gestiegen sind. Über die Folgen einer gut gemeinten Initiative.

Pflegefachkraft, sitzt während ihrer Schicht in der ambulanten Pflege neben einer Klientin an einem Tisch

Pflege zuhause: Für Angehörige von Pflegebedrüften teils kaum noch zu bezahlen (Symbolbild) Foto: Sebastian Gollnow/dpa/picture alliance

BERLIN taz | Es ist doch eigentlich eine gute Nachricht: Wer in der Sozialstation der Diakonie in Berlin als Pflegekraft arbeitet, bekommt mehr Geld. Von etwas über 13 Euro auf fast 16 Euro ist der Stundenlohn einer Altenpflegehelferin in den Diakonie-Stationen seit 2019 gestiegen. Von knapp 17 Euro auf fast 20 Euro kletterte das Bruttoentgelt einer examinierten Altenpflegerin. Das ist das, was alle immer wollen: eine bessere Bezahlung in der Pflege. Doch für die Berlinerin Brigitte Salbach, 89 Jahre, ist das Leben dadurch schwerer geworden.

„Von ihrer Rente kann meine Schwiegermutter den höheren Eigenanteil für ihre ambulante Pflege nicht mehr bezahlen“, sagt Brigitte Salbachs Schwiegertochter Gise. „Ich unterstütze gute Tarife im Pflegedienst. Aber die Erhöhungen dürfen nicht nur an den Pflegebedürftigen hängen bleiben.“

Im Fall von Brigitte Salbach, die in Wirklichkeit anders heißt, ist der Eigenanteil um 400 Euro im Monat gestiegen. 650 Euro verlangt der ambulante Pflegedienst der Diakonie nun von der hochaltrigen Rentnerin als Eigenbeitrag. In einem Schreiben des Pflegedienstes heißt es: Nach „Abschluss einer Vergütungsvereinbarung mit den Kostenträgern“ werden die „Preise der Leistungskomplexe für 2021 um 20,94 Prozent gesteigert“.

Das Beispiel von Brigitte Salbach zeigt, wie sich Lohnsteigerungen auswirken, wenn sie eins zu eins auf die Pflegebedürftigen übertragen werden. Wenn Schwache – nämlich die Gebrechlichen – von anderen Schwachen – den hoch belasteten und mäßig bezahlten Pflegekräften – abhängig sind und umgekehrt. Der Fall zeigt aber auch, wie teuer Pflege heute schon ist. Auch wenn man, wie Salbach, nicht bettlägerig ist, sondern nur etwas Hilfe beim Aufstehen und Waschen und bei den Mahlzeiten braucht.

Jede Leistung jetzt teurer

Die 89-Jährige hat den Pflegegrad 3. Am Morgen kommt eine PflegerIn der Diakonie-Station und macht bei Salbach die sogenannte Kleine Körperpflege. Dazu gehören Aus- und Ankleiden, Waschen des Oberkörpers und Intimbereichs, Zahnpflege, Kämmen. 14,70 Euro kostet die Dienstleistung jeden Morgen. Vor der Lohnerhöhung, noch im Januar, verlangte der Pflegedienst nur 11,70 Euro für diese Unterstützung. Die Pflegerin hilft der alten Dame auch beim Frühstück und kommt dann nochmal später und macht das Abendessen. Die Zubereitungen der „Kleinen Mahlzeiten“ am Morgen und am Abend kosten jeweils 6,40 Euro. Vor der Lohnerhöhung waren es 5,10 Euro.

Die täglichen Anwesenheitszeiten der Pflegekräfte schwanken, hat die Schwiegertochter bei genauerer Beobachtung festgestellt. Im Schnitt verbringen die PflegerInnen zwischen 40 und 60 Minuten am Tag in der Wohnung von Brigitte Salbach, die alleine lebt. Es kann auch mal länger und mal kürzer sein.

Die Bundesregierung hat sich am 30. Mai laut medien auf Grundzüge bei der Pflegereform geeinigt. Kernpunkte der Pflegereform sind demnach verpflichtende Tariflöhne in Pflegeeinrichtungen und ein staatlicher Pflegezuschuss für HeimbewohnerInnen.

Zur Finanzierung soll es ab 2022 einen jährlichen Steuerzuschuss des Bundes von einer Milliarde Euro für die Pflegeversicherung geben. Außerdem soll ab Januar kommenden Jahres der Beitragssatz zur Pflegeversicherung für Kinderlose um 0,1 Prozentpunkte auf dann 3,4 Prozent erhöht werden.Ab September 2022 dürfen Heime und Pflegedienste nur noch mit der Pflegekasse abrechnen, wenn sie ihre Pflegekräfte auf Grundlage eines Tarifvertrags oder einer kirchlichen Arbeitsrechtsregelung bezahlen oder sich zumindest an entsprechenden Tarifregelungen etwa in der Region orientieren.

Um eine finanzielle Überforderung von Pflegeheimbewohnern zu vermeiden, soll deren Eigenanteil in den Pflegestufen zwei bis fünf schrittweise reduziert werden. Der Eigenanteil verringert sich nach einem Jahr um 25 Prozent, nach zwei Jahren um 50 Prozent und nach drei Jahren Heimaufenthalt um 75 Prozent. Der Entwurf soll als Änderungsantrag zu einem bereits bestehenden Gesetz im Juni vom Bundestag beschlossen werden. (afp)

Mit der Hilfe zum Duschen einmal wöchentlich, dem Putzen der Wohnung zweimal wöchentlich, den An- und Abfahrten und einem zusätzlichen Abrechnungsposten von zweimal täglich „Betreuung 6 Minuten“ – ein Zeitfenster, das Gespräche oder Organisatorisches abdecken soll – und Einsatzpauschalen summiert sich der Aufwand auf 1.870 Euro an monatlichen Pflegekosten.

Vor der Lohnerhöhung waren es 1.480 Euro gewesen. Die Pflegeversicherung trägt von den Kosten 1.298 Euro, dieser Satz ist nicht gestiegen. Salbach muss außerdem noch eine „Servicepauschale“ und „Investi­tionskosten“ bezahlen.

Warum muss das so teuer sein?

Monatlich fast 2.000 Euro kostet also die Pflege einer Hochaltrigen, die nur zweimal am Tag, vielleicht jeweils für eine halbe Stunde, etwas Hilfe braucht, plus ein paar Extraleistungen ab und an wie das Duschen und Putzen.

Die Sozialstationen legen ihre Kalkulationen nicht offen, aber im Internet kann man Beispiele dazu nachlesen. Mit den Einnahmen von Brigitte Salbach bezahlt die Diakonie-Station die Bruttolöhne der PflegerInnen samt Arbeitgeberanteil der Sozialversicherungen und Wochenendzuschläge sowie Kranken- und Urlaubstage, Weiterbildungszeiten und Fahrtzeiten. Mit dem Pflegepreis müssen auch die Kosten für die Verwaltung und Logistik der Sozialstationen, Büromieten, Fahrzeuge und Investionen abgedeckt werden.

Eine Einheit der besagten „Betreuung 6 Minuten“, Leistungskomplex 20, wird Brigitte Salbach laut Abrechnung jetzt mit 7 Euro in Rechnung gestellt. Eine Einsatzstunde vor Ort muss mit ­allen abgerechneten Leistungen rund 70 Euro bringen. Nur ein kleiner Teil des Geldes kommt bei den PflegerInnen als Stundenlohn an. Die Preissteigerungen für die Leistungen in Höhe von 20 Prozent sind höher ausgefallen als der Zuwachs bei den Tariflöhnen allein. Das sei „unverständlich“, rügt Gise Salbach.

„Wir haben uns nach der Preissteigerung nach anderen Pflegediensten umgesehen“, erzählt die Schwiegertochter, die Wert darauf legt, dass sie mit der Qualität der Pflege durch die Diakonie-Station ansonsten zufrieden sei. „Es geht mir nur um die Kostensteigerungen.“ Es sei aber schwer, jemand anderen zu finden. Die alte Dame, eine Diabetikerin, bekommt von der Diakonie-Station auch noch krankenpflegerische Versorgung, die von der Krankenkasse bezahlt wird. Diese doppelte Versorgung kann nicht jeder Pflegedienst leisten.

„Flexible“ Abrechnung

Ein privater Pflegedienst, der niedrigere Preise für die Leistungen verlangte, forderte von Salbach, im Falle eines Vertragsabschlusses in die Abrechnung „tägliches Duschen“ aufzunehmen, damit sich die Anfahrt und der Aufwand für den Dienst überhaupt lohne.

Letztlich fand sich eine Lösung mit der Diakonie-Station, die ein Licht wirft auf die flexiblen – man könnte auch sagen: nicht ganz transparenten – Abrechnungsmodalitäten der Pflegedienste. In der Abrechnung war von Anfang an der Leistungskomplex (LK) 20 enthalten, mit den genannten täglich zweimal „Betreuung 6 Minuten“ – der für die soziale Zuwendung gedacht ist, die von Pflegebedürftigen immer gewünscht wird. „Wir haben uns mit dem Pflegedienst geeinigt, den LK 20 einfach zu streichen“, sagt Gise Salbach.

Damit schrumpfte der Eigenanteil schlagartig wieder auf das alte Maß. „Die PflegerInnen kommen aber nicht kürzer zu meiner Schwiegermutter, sie erbringen die alten Leistungen“, hat Gise Salbach festgestellt. Beim Pflegedienst sagte man ihr, dass der Abrechnungsposten LK 20 eine Art „Puffer“ gewesen sei.

Verena Götze, Sprecherin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz (DWBO), sagte auf Anfrage: „Wir können nicht ausschließen, dass in Einzelfällen Pfle­ge­kun­dinnen und -kunden aufgrund des Eigenanteils die Leistungskomplexe verändert haben.“ Die Diakonie setze sich für eine Deckelung der Eigenanteile ein, auch in der ambulanten Pflege.

Gise Salbach sagt, die ambulante Pflege werde „stiefmütterlich“ behandelt. Es sei ihr klar geworden, wie abhängig die Familie vom Pflegedienst sei. „Man kann den Anbieter ja nicht mal eben so wechseln. Die Pflegedienste führen Wartelisten.“

Aktualisiert am 31.05.2021 um 10:30 Uhr. d.R.

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