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Stadttour mit WohnungslosenAusflug ins Reich der Armen

Bahnhof Zoo statt Bundestag, Kleiderklappe statt Checkpoint Charlie: In Berlin führen Obdachlose durch die Stadt derer, die auf der Straße leben.

Tour zur Schattenseite der Hauptstadt: Wohnungslose zeigen Berlin. Bild: Mathias Becker/querstadtein.org

Den Stadtführer für die Tour „Obdachlose zeigen ihr Berlin“ ausfindig zu machen, ist gar nicht so einfach. Ist es der Typ in der zerrissenen Hose, der laut im Berliner Dialekt mit seinem Hund spricht? Oder der dort auf der schmuddeligen Decke, Bierflasche in der Hand, Pappbecher vor sich, der Kopf tief gebeugt?

Stadtführer Carsten Voss trägt eine Anstecknadel des Projektträgers „querstadtein“. Ohne die hätte ihn wohl keiner als Obdachlosen ausgemacht. Die Blicke der Teilnehmer wandern an Voss hinauf. Rote Pumaschuhe, kurze Khakihose, Jeanshemd, Ray-Ban-Brille. Der Mann ist frisch rasiert, frisiert, lächelt. Er sieht aus, als würde er die Teilnehmer gleich mit auf einen Segeltörn zum Wannsee nehmen.

Stattdessen will er die 20 Studenten, Sozialarbeiter und Senioren ins Berlin der Wohnungslosen führen. Sie sind überrascht, denn Armut sieht normalerweise anders aus. Aber anmerken lässt sich das kaum einer. Das eigene Selbstbild lässt es schließlich nicht zu, Klischeevorstellungen von Pennern zu haben.

Altkleiderspende statt Container

Vor der größten Bahnhofsmission Deutschlands am Zoologischen Garten erklärt Carsten Voss der Gruppe, wie man mit Obdachlosen umgeht. Erstens: Pfandflaschen neben den Abfalleimer stellen, das erspart dem Sammler den Griff in den Müll. Zweitens: Kleider nicht zum Container bringen, sondern zur Altkleiderspende. Drittens: dem Obdachlosen nicht nur Geld, sondern auch einen Blick in die Augen schenken.

11.000 Menschen in Berlin sind laut Senatsangaben wohnungslos, über 80 Prozent von ihnen sind Männer. Bis zu 4.000 Menschen schlafen jede Nacht auf der Straße. Der Verein „Stadtsichten“ bietet seit vergangenem Sommer die „querstadtein“-Touren mit Obdachlosen durch Schöneberg an.

Vor Kurzem ist noch ein zweiter Träger dazugekommen: Die „Gebewo“, die Wohnungslose unterstützt, fährt Gruppen mit einem Bus durch Berlin-Mitte. Für sie führen der ehemalige Obdachlose Klaus Seilwinder und ein Historiker die Besucher durch die Stadt: Sozialschau statt Spreefahrt, Bahnhof Zoo statt Bundestag, Kleiderklappe statt Checkpoint Charlie.

Wer sind die Wohnungslosen?

Aber wer sind die Männer, die offen von ihrem Absturz in die unterste Gesellschaftsschicht erzählen? Und wollen die Teilnehmer sich denen nähern, die sie sonst ignorieren oder nicht anzusprechen wagen? Oder sind die Touren voyeuristisch, entlassen sie die Teilnehmer mit dem Gefühl, es gut getroffen zu haben?

Zwei junge Frauen, selbst in sozialen Berufen tätig, sind gekommen, „um eine andere Perspektive auf die Stadt zu bekommen“; mit Obdachlosen sei man in Berlin ja ständig konfrontiert, aber man wisse nichts über sie. Befreundete Studenten machen mit, weil sie sonst immer auf Distanz zu den Wohnungslosen gehen. Touristen aus anderen Städten sind nicht gekommen. In seinem Urlaub beschäftigt man sich lieber mit der Sonnenseite einer Stadt.

Stadtführer Carsten Voss weiß, wie man Menschen lenkt, seine Stimme ist klar, der Blick direkt, die Worte sind sorgfältig gewählt. Er ist ein ungewöhnlicher Obdachloser, spricht von „Awareness“, wenn er Aufmerksamkeit für die Armen fordert.

Ein Friseur, der kostenlos Haare schneidet

Er erzählt, dass ein Friseur in der Gedächtniskirche kostenlos Haare schneidet und dass in einem Supermarkt am Bahnhof Zoo ein Fernseher über der Flaschenannahme hängt, weil dort die Schlange der Sammler am längsten ist. Die Teilnehmer hören aufmerksam zu, aber sie bleiben auf Distanz. Nachzufragen traut sich kaum einer.

Dann erzählt er selbst seine Geschichte: Voss, heute 55 Jahre alt, hat einmal als Manager in der Modebranche gearbeitet. Zuletzt leitete er die Berliner Messe Bread & Butter, 80-Stunden-Woche. Nach einem Burn-out schied er aus seinem Job aus. Irgendwann sei das Geld ausgegangen, die Wohnung zwangsgeräumt worden. Freunde und Familie habe er nicht um Hilfe bitten wollen, vielleicht aus Scham, vielleicht aus Stolz.

Ein halbes Jahr zieht er in Berlin durch die Straßen. Auf der Straße übernachtet er nie; da er sich weder betrinkt noch Drogen nimmt, kommt er immer in einer Einrichtung unter. „Ich habe nicht gebettelt. Wenn ich Geld brauchte, habe ich meine letzten Designerstücke oder mein iPhone verkauft.“ Was es bedeutet, zu frieren, zu hungern, angegafft zu werden, hat er nie erfahren. Elitäres Elend.

Die Stadtführung eines Obdachlosen gibt also gar kein Obdachloser, sondern ein ehemaliger. Er ist keiner, der sozial schwach geboren wurde, sondern einer, der aus der gleichen Schicht kommt wie die Teilnehmer – aus der scheinbar sicheren Schicht. Voss ist steil aufgestiegen und tief gefallen.

Geschichten auf Nachfrage

Auch Kurt Seilwinder, Stadtführer auf der Tour der „Gebewo“, ist ein ehemaliger Obdachloser. Er erzählt seine Geschichte nur auf Nachfrage. Sie solle nicht im Mittelpunkt stehen. Auch hier traut sich keiner, nachzufragen, als der kleine, dünne Mann in der viel zu großen Lederjacke vor ihnen steht: Wie sind Sie auf der Straße gelandet? Auf der Obdachlosentour bringt man den Mut, miteinander zu reden, anscheinend ebenso wenig auf wie auf der Straße.

Als Erntehelfer hatte Seilwinder keinen festen Wohnsitz, 2002 verlor er seinen Job. Es war Sommer, „also kann ich ja erst einmal auf der Straße schlafen“, dachte er damals. Doch als der Winter kam, hatte sich an seiner Situation nichts verändert. Es folgten sieben weitere Winter, bis ihn ein Freund von der Straße holte. Seilwinder hat ein erwartbares, also ein hartes Leben auf der Straße geführt. Manchmal lief er 40 Kilometer am Tag, um Pfandflaschen zu sammeln, seine „Lebensgrundlage“, wie er es nennt. Noch immer fällt sein Blick in jeden Mülleimer, den er passiert. „Routine“, sagt der 57-Jährige.

Er führt über den Gendarmenmarkt und zeigt der Gruppe eine öffentliche Gratistoilette. Hier wusch er sich notdürftig, um nicht zu verwahrlosen. Das sei wichtig, erklärt er, nur wer nicht verwahrlost, fällt auch nicht auf und kann sich unentdeckt durch die Stadt bewegen. Von den Leuten, die hier Kaffee trinken, wurde er manchmal eingeladen. „Betteln habe ich nie übers Herz gebracht.“ Er schlief auf Spielplätzen, Nazis verprügelten ihn, bis die Polizei kam, viele Jahre betäubte sich Seilwinder mit Alkohol.

Aus der Opferhaltung herausgetreten

Carsten Voss und Klaus Seilwinder sind die Obdachlosen, die aus ihrer Opferhaltung herausgetreten und zum Sprachrohr geworden sind für diejenigen, die in der Gesellschaft verstummt sind. Sie wollen Nähe schaffen zwischen Lebenswelten, die ferner nicht sein könnten, die Gesellschaft in Arm und Reich, in Verlierer und Gewinner gliedern.

Der Bus rollt durch die Stadtmitte und zu Einrichtungen der Gebewo, eine Werbetour für den sozialen Träger. Hastig drehen sich die Bewohner weg, wenn die Gruppe durch die Gänge spaziert. Beim Armsein hat eben keiner gerne Zuschauer. Ein Historiker nimmt immer wieder das Wort, um die Geschichte hinter der Armut Berlins zu erklären. Vielleicht ist es seine Aufgabe, die Kluft zwischen Seilwinder und den Teilnehmern zu schließen.

Carsten Voss hat versucht, diese Lücke selbst zu schließen. Vor ein paar Jahren war er in vielen Talkshows zu sehen, erzählte seine Geschichte wieder und wieder. Ein Medienprofi also. Vor der Besuchergruppe erwähnt er das nicht. „Die Führung ist meine Therapie“, sagt er stattdessen. Der ehemalige Manager weiß, wie er sein Schicksal vermarkten kann.

Gut möglich, dass er das alles macht, um in seinem zweiten Leben zu helfen – als Cheflobbyist für eine Gruppe, die kaum Fürsprecher hat. „Mich stört der Medienandrang nicht, solange es dem sozialen Projekt guttut“, sagt Voss den Journalisten. „Ich nehm ihm seine Geschichte schon ab“, sagt einer der Studenten nach der Tour. Doch in seiner Aussage liegt bereits der Zweifel.

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4 Kommentare

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  • Die UNO hat uns, DEUTSCHLAND (als Mitglied der UNO) aufgefordert, ein umfangreiches Armutsbekämpfungsprogramm in unserem Land einzuführen.

  • 5G
    5393 (Profil gelöscht)

    "Verstummt sind" stimmt nicht, es ist verstummt werden. Es ist Mangel an Solidarität, es ist besonders auch Neid, wenn Leute aus "höheren" Positionen sogenannt formal obdachlos werden. Die meisten sind formal obdachlos. "Obdachlosigkeit" ist oft etwas, das durch tätige Nachhilfe entsteht. Qualitative Obdachlosigkeit entsteht auch, wenn Leute durch Spekulanten ihr Wohnumfeld verlieren und dann völlig anders wohnen müssen. Die Leute erfahren DANN auch, dass Wohnung ein Konstrukt ist und nichts Natürliches, nichts Garantiertes und insofern ist so eine Stadtführung auch eine Konstruktion, die den Leuten offenbar nicht vermittelt, wie gefährdet sie selbst sind. Die Autorin beschränkt sich auf pure Darstellung und verzichztet auf jede Qualifikation des Artikels und des Gegenstandes und das kommt mir bei der taz oder im Journalismus viel zu oft vor. Artikel sollten eine hilfreiche Literaturliste haben, damit die Leute dort nachlesen können, es würde sich dann zeigen, dass Literatur ausgegrenzt wird und sich zeigen, dass der Journalist die "ich hab an nichts schuld"-Position verliert. Ausgrenzung hat immer was mit einer Macke zu tun. Das zu "mal eine andere Sicht bekommen".

  • TAZ:"Die Teilnehmer hören aufmerksam zu, aber sie bleiben auf Distanz." ZITAT Ende. Man sollte ihnen sagen, dass in einem der reichsten europäischen Staaten (Deutschland) jedes fünfte Kind in Armut lebt. Man sollte ihnen zeigen, dass es derzeit mehr als 900 Tafeln in Deutschland gibt, womit regelmäßig über 1,5 Millionen bedürftige Personen mit Lebensmitteln – knapp ein Drittel davon Kinder und Jugendliche, versorgt werden müssen. Man sollte ihnen sagen, dass Spendenbereitschaft und Großherzigkeit kein Ersatz für politisches Handeln ist. Man sollte ihnen sagen, dass SPD-GRÜNE-CDU-CSU-FDP verantwortlich sind für das auseinander driften von Arm und Reich und das es eine Partei in Deutschland gibt, die soziale Gerechtigkeit wieder herstellen möchte. Man sollte ihnen sagen, wie das in Europa und in der Welt vorherrschende kapitalistische System Menschen tötet (Aussage auch vom Papst!) und die Natur irreparabel zerstört. Man sollte ihnen sagen, dass die Zahl der Obdachlosen in Deutschland nach der aktuellen Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe 2012 auf 284.000 angestiegen ist. 2016 könnten 380.000 Menschen in Deutschland wohnungslos sein.

    • @Willi:

      Ja – ja und noch mal ja!

      Ihren Ausführungen fehlt nur noch, dass das heisst, dass die Bevölkerung dieses Landes NICHTS mitkriegt, mitkriegen will, und dass das alles zusammen heisst, dass es in Deutschland mal eine Demokratie GEGEBEN HAT. Wir wurden und werden mit plausibel klingenden Scheinargumenten eingelullt, mit AlG2 in Angst und Schrecken versetzt und merken dabei nicht, dass es in einem der reichsten Länder der Welt nur noch um den Reichtum der oberen 5% geht. Es müsste uns ALLEN längst viel besser gehen, gäbe es Gerechtigkeit in diesem Land. Wir selbst müssen endlich wieder VERANTWORTUNG übernehmen. Und zwar "NUR" für unser eigenes "Tun" und vor allem "Lassen". Aber solange es billiges Fleisch gibt (das extrem ungesund ist, aber Pharmaindustrie und das "Gesundheits"System befördert) und noch fast jeder billig in den Urlaub fliegen kann, tun alle so, als ginge sie diese Gesellschaft nichts an.

       

      Die verschiedenen Regierungen ignorieren konsequent Mehrheiten der Bürger (Gentechnik, Energiewende, Flüchtlingsproblematik, etc.), steigen in Kriege ein, um nicht zu sagen, dass sie sich wie Kriegshetzer benehmen, verletzen bewusst und ständig das Grundgesetz, erzeugen – wie gesagt – Armut anstatt sie zu bekämpfen.

      Und ja, wir alle müssen endlich die richtige Partei wählen, wenn wir es überhaupt noch irgendwie schaffen wollen, das Ruder rumzureissen.

       

      Und Herr Willi:

      Auch Sie sind leider in die "Kinderfalle" getappt:

      Was heisst "arme" Kinder? Da werden Kinder zur Erregung von – in meinen Augen – falschem Mitleid benutzt, denn arme Kinder haben arme Eltern, und das heisst, dass Armut nicht an Kindern oder Erwachsenen festgemacht werden kann, und es heisst definitiv NICHT, dass erwachsene Arme nur zu faul zum Arbeiten sind. Aber dieser Eindruck wird durch die Fokussierung auf "arme" Kinder erweckt. Und das soll wohl auch so sein, denn dann muss das die jeweilige Regierung nicht ändern, denn die Eltern der Kinder sind ja "schuld".