Sprechen lernen nach einem Unfall: Raue, schmatzende, ploppende Töne
Ein schwerer Autounfall nimmt Michael Bergen die Fähigkeit zu sprechen. Das Beatboxen hilft ihm, das Chaos in seinem Kopf zu ordnen.
Sechs Jahre nach dem Unfall ist er wieder hier und nur 50 Meter von der Straße entfernt, auf der ihn 2010 ein Autofahrer frontal überfährt. Dass er mal mehr als vier Worte reden können wird, scheint da noch nicht möglich.
„Im Krankenhaus dachten alle um mich herum, dass ich behindert bleiben werde. Es stand auch im Raum, dass ich sterben könnte, aufgrund meiner verdammt schweren Verletzungen. Genau das dachte ich im Krankenhausbett: Jetzt sterbe ich.“
Lange Zeit findet Michael Bergen diese Worte nicht. Statt Worten hat er bei seiner Einlieferung im Krankenhaus nur Bilder im Kopf, träumt in Bildern. Sein Sprachgedächtnis liegt irgendwo im grauen Nebel – unerreichbar für den jungen Mann, der zur Zeit seines Unfalls gerade fürs Abitur lernte. Es ist das Fahrradfahren, aber auch die Musik, die das Chaos in seinem Kopf ordnen und ihn entspannen.
Schmatzende, brummende, ploppende Töne
HipHop hat er früher schon gehört, nun fängt er an, selbst Musik zu machen: Beatboxen, für das er seine Mundmuskulatur wie ein Schlagzeug einsetzt. Dabei fühlt er sich frei. Plötzlich erinnert er sich an Momente, die vorher im Graubereich lagen: „Allein mit Worten kann ich nicht alles beschreiben“, sagt er. Dieser Einfluss macht ihm schließlich Mut, auch seine Sprache zu trainieren. Es gelingt.
Heute, nahe der Landstraße, lärmen Vogelgezwitscher und Autos um die Wette, so als sei nie etwas gewesen. Michaels Blick ist, während er erzählt, die meiste Zeit auf die vorbeifahrenden Autos gerichtet, sein Rennrad liegt neben ihm.
Beatboxen beginnt der 22-Jährige immer dann, wenn er gute Laune hat. Auch in der Öffentlichkeit; wenn andere irritiert gucken, macht ihm das nichts aus. Gerade ist wieder einer dieser Beatboxmomente. Er fängt mit einem leisen, lang gezogenen Summen an und schnalzt dann gleichzeitig, um einen ersten Takt zu formen. Dann verlässt seine vibrierenden Lippen ein brummender Bass, und irgendwie schafft er es, noch einen hohen Ton aus seiner Kehle dazwischenzupressen.
Es kommen raue, schmatzende, brummende und ploppende Töne, alles ist frei improvisiert. Durch die Nase zieht Michael Bergen in Abständen von zehn Sekunden neue Luft, ohne dabei das Beatboxen zu unterbrechen.
Erinnerungen in Dunkelgrau
In der Vergangenheit hat er es benutzt, um sein Mundwerk beweglicher zu machen. Wollte er Worte formen, fühlte sich Michael Bergen beim Sprechen wie in einer Zeitlupe gefangen. Das Beatboxen lockerte nach und nach seinen Mund. Aus vier gestotterten Wörtern wurden ganze Sätze. Und irgendwann lockerte sich schließlich seine Zunge.
Heute spricht Michael sehr präzise. Aussprache ist ihm wichtig. Wenn ihm Wörter nicht einfallen, umschreibt er sie. Als wäre er ein Künstler, der Worte malt. Nur dass ihm hin und wieder die Farben ausgehen.
Einige Erinnerungen beschreibt Michael Bergen in Dunkelgrau: „Geh in die Werkstatt. Gehe zum Schraubstock. Hole deine Eier raus und schraube sie im Schraubstock zu.“ Kurz hält er an. Schweigt. Denkt nach. Und dann schießt es aus seinem Mund: „Dann hast du ein ähnliches Gefühl in der Bauchgegend, wie ich es gehabt habe.“
Der frühe Mittag verwandelt sich in einen Nachmittag. Erster Feierabendverkehr rollt über die Landstraße. Im Licht der Sonne schimmert Michael Bergens braunes Haar. Darunter sind seine Unfallnarben am Kopf verborgen. Noch im Klinikum Bremen-Mitte wird seine Schädelplatte operativ geöffnet, um dem angeschwollenen Gehirn Platz zu geben. Er überlebt den Eingriff, diverse Knochenbrüche und das Schädelhirntrauma; lernt in der Reha, sich mühsam wieder ohne Rollstuhl oder Rollator zu bewegen. Sich mit Worten auszudrücken fällt ihm da noch schwer.
Volltrunken von der Party nach Hause
„Mein erstes Wort war ‚Döner‘ “, erinnert sich Michael Bergen belustigt. Das war, als seine Tante ihn im Krankenhaus besuchen kam. „Ich hatte keine Lust mehr auf den Brei. Jeden Tag nur Brei.“ Er zieht seine Mundwinkel zusammen, als hätte er gerade noch mal davon kosten müssen. „Ich will Döner!“, wiederholt Michael und spricht den Satz so aus, als sei er behindert – stotternd und langsam. Michael ist behindert. Und irgendwie doch nicht. Er weiß es nicht so richtig. Eine kleine Plastikkarte weist ihn als schwerbehindert aus. Zu 70 Prozent.
Sein ehemals bester Kumpel Dimitri Skripkin besucht ihn damals als einer der ersten Freunde am Krankenbett. Der 23-jährige Berufskraftfahrer erzählt in seinem Wohnzimmer im Bremer Stadtteil Göppingen, was ihn nach jener Oktobernacht lange Zeit nicht loslässt. Krampfhaft entspannt sitzt Dimitri dabei auf seiner Couch und schlägt mit seiner Klatsche Fliegen tot. Auf einem seiner beiden großen Flatscreens hält er eine Serie an, die er gleich weitergucken will. Seine Erinnerung spult er ab, als wäre sie ein oft gesehener Film – ohne Happy End.
Michael Bergen
Dimitri Skripin kennt Michael noch aus der Schule als den eher introvertierten Nerd, der in seiner Freizeit programmiert und zockt. Die Freunde zischen zusammen ihre ersten Biere, Michael trinkt auch mal allein eine ganze Wodkaflasche. Am Wochenende fahren sie mit Dimitris Roller zu Partys in der Umgebung von Bremen. Und so ist es auch in der Unfallnacht. Dimitri versucht noch, Michael davon abzuhalten, allein und volltrunken von der Party nach Hause zu gehen; läuft ihm hinterher. Doch der Freund reißt sich los.
Als der 16-jährige Dimitri seinen besten Freund das erste Mal im Krankenhaus sieht, können sie sich nur per Zeichen verständigen. Wenn Michael zum Beispiel die Zehen bewegt. Dimitri hat Angst, dass Michael stirbt. „Er konnte nicht reden, er konnte gar nichts. Er konnte nur die Augen aufmachen, gähnen und sonst nichts.“
15 Minuten vor dem Kühlschrank
Heute sehen sich die beiden eher selten. Das ist okay für Michael. Er geht seinen eigenen Weg; ist viel unterwegs und deshalb trotz des durchwachsenen Sommers ganz braun im Gesicht. Gerne spricht er Leute auf der Straße an. Manchmal hat er dann sein selbst gebasteltes Didgeridoo dabei, dem Instrument der Aborigines nachempfunden, das einem Regenrohr ähnelt. Über seine Musik kommt er schnell mit Fremden ins Gespräch. Wenn ihm ein Mädchen gefällt und er sich gut fühlt, spricht er es an. Der neue Michael fühlt sich freier als der alte.
Nach fast einem Jahr aufeinanderfolgender Diagnosen und Operationen geht es Michael Bergen 2011 nur langsam besser. Er verfährt sich nicht mehr so oft mit dem Bus, spricht klare Sätze und hat schließlich einen Job im Martinshof, einer Behindertenwerkstatt. Dort baut er Kisten für das Mercedes-Benz-Werk in Bremen zusammen. Oder wäscht Autos. Er findet es überhaupt nicht komisch, schließlich war es ein Auto, das ihm fast das Leben genommen hat. Und die Sprache.
„Ich wollte genesen“, erinnert sich der 22-Jährige. Einfach war das nicht immer, gerade in der Zeit direkt nach dem Krankenhaus. Zum ersten Mal wohnt er allein. Oft hängt er vor dem Computer. Zwei Jahre nach dem Autounfall trinkt er wieder regelmäßig Alkohol, heute spricht er von Sucht. Michael Bergen will mithalten, er versucht, jemand zu sein, den er gar nicht mehr kennt – er selbst, der alte Michael.
2012 ist auch die Zeit, in der Michael anfängt, neben dem Alkohol zu kiffen. Exzessiv. Er hat falsche Freunde und gibt sich fast auf. „Ich bin nicht stolz drauf“, sagt er heute. Sein Wortschatz schrumpft rapide. Als er einmal für Freunde eine Cola aus der Küche holen soll, steht er 15 Minuten lang vor dem Kühlschrank. Er hat vergessen, was er eigentlich wollte. Vieles kann Michael Bergen heute nicht mehr rekonstruieren.
Im Flow sein
Ein entscheidender Moment fällt ihm trotzdem ein: „Als ich dachte, es wird nicht besser, hab ich mich zu Hause aufs Dach gesetzt – im siebten Stock. Dann habe ich über den Rand nach unten geschaut und überlegt, ob das jetzt sein soll oder nicht.“ Nach einigem Schweigen fährt Michael fort. „Ich glaube es ist ganz gut, dass ich damals nicht gesprungen bin.“ Sofort korrigiert er sich mit entschiedenem Ton: „Ich weiß, dass das gut war!“
Michael Bergen zieht kurz darauf aus seiner ersten eigenen Wohnung zurück zu seinem alleinerziehenden Vater und seinen zwei Brüdern. Als er mit dem Kiffen aufhört, lichtet sich auch wieder der Nebel über seinem Sprachzentrum.
Michael ist wichtig, dass er mehr ist als das Unfallopfer. Noch wichtiger ist ihm aber das Beatboxen, im Flow zu sein: „Hallo, ich bin Michael. Ich bin 22 Jahre alt, komme aus Bremen und bin Beatboxer. Das könnte meine Anrede sein“, fängt er an. Er findet Spaß daran und fährt fort: „Zweitens: Hallo, ich bin Michael, 22, und komme aus Bremen. Ich hatte vor sechs Jahren einen schweren Unfall. Bitte hör mir zu und hör dir meine Geschichte an. Und dann fange ich an zu erzählen.“
Inzwischen kann er sich darauf verlassen, dass Worte in ihm hochkommen, wenn er einen Satz anfängt. Wenn er im Flow ist, werden seine Augen wach und starren nicht mehr auf die Landstraße. „Ich bin diesem Ort nicht böse. Und dem Fahrer von damals auch nicht“, sagt er, als sei dies selbstverständlich. „Natürlich würde ich ihn fragen, wieso er nicht auf die Straße geschaut hat. Aber im Endeffekt ist er auch nur ein Mensch.“ Kurz blickt Michael zur Seite: „Menschen machen Fehler.“
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