Sprachproblem Kasachisch versus Russisch: Zankapfel auf der Speisekarte
In der UdSSR verdrängte Russisch als Lingua franca die nationalen Sprachen der Republiken. Bis heute sorgt die Dominanz des Russischen für Streit.
M anchmal bekomme ich Videos, in denen Passanten, zum Beispiel in den USA, gefragt werden: „Was wissen Sie über Kasachstan?“ Die Antwort: „Das ist irgendwo in Russland“, habe ich seltsamerweise öfter gehört. Aber es gibt auch das Gegenteil. Wenn Menschen erfahren, dass viele Kasachen Russisch sprechen, wundern sie sich manchmal: „Aber das liegt doch gar nicht in Russland!“
Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.
Das Sprachproblem ist eines der größten Probleme in Kasachstan, so wie in vielen anderen Ländern Zentralasiens. Alle diese Länder haben früher einmal zur Sowjetunion gehört, wo Russisch die Lingua franca für die interethnische Kommunikation war. Die nationalen Sprachen gerieten langsam in Vergessenheit und galten als „optional“. Darum ist es gar nicht erstaunlich, dass man jetzt, wo es den Trend zur Dekolonialisierung gibt – und der Krieg in der Ukraine hat diesen Trend noch verstärkt – auf das Ignorieren der kasachischen Sprache in Kasachstan sehr heftig reagiert.
Im vergangenen März zum Beispiel gab es deshalb einem Skandal in den sozialen Netzwerken. Irgendwer hatte den Chatverlauf von Mitarbeitern einer Barkette in Almaty veröffentlicht, in dem das dortige Führungspersonal geäußert hatte, sie würden unter keinen Umständen kasachische Musik in ihren Läden spielen. Sie können, so hießt es dort, nur englische und russische Musik spielen. Die kasachische Sprache vertrüge sich nicht mit ihrem Image.
Es folgten viele wütende Kommentare. Unter anderem wurde angemerkt, dass es in diesen Bars auch keine kasachische Speisekarte gebe. Menschen begannen, abwechselnd englisch- und kasachischsprachige Lieder zu singen und das zu posten. Die Leitung der Kette beeilte sich schließlich, ihre Aussagen zu korrigieren.
geb. 1994. Lebt und arbeitet in der Stadt Semei, früher Semipalatinsk (Kasachstan). Journalistin, Wirtschafts- und Daten-Analystin. Arbeitet als freie Korrespondentin für den kasachischen Dienst von Radio Free Europe/Radio Liberty.
Im Nachgang sprach ich mit einer Bekannten über den Fall. Sie begriff überhaupt nicht, warum Leute der Bar vorschreiben wollten, wie sie dort zu arbeiten hätten. „Stell dir einfach mal vor, man würde bei einem italienischen Restaurant in Kasachstan fragen:,Warum spielt ihr nur italienische Musik? Macht mal kasachische an.' Dabei ist es doch ein italienischer Laden“, sagte sie sichtlich genervt.
„Die Leute reagieren so, weil es sie stört, dass man dort russische Lieder spielen darf, aber kasachische nicht erlaubt sind“, erklärte ich. „Sie haben keinen Bock mehr auf diese Haltung und die Diskriminierung aufgrund ihrer Sprache. Und sie haben recht.“
In vielen Läden der Unterhaltungsgastronomie gibt es keine Speisekarten auf Kasachisch. In der Stadt Semej, in der ich lebe, kann man sie an einer Hand abzählen. Doch heute achten die Leute stärker darauf. Nicht immer läuft das friedlich ab: Im Februar wurden Gäste, die in einem Café in Almaty nach einer kasachischen Speisekarte fragten, als „Faschisten“ beschimpft. Immerhin: Die Besitzer haben sich später entschuldigt.
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung.
Ein Sammelband ist im Verlag edition.fotoTAPETA erschienen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin