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„Sprache und Sein“ von Kübra GümüşayKeine Angst vor bellenden Hunden

Journalistin Kübra Gümüşay hat ein Buch geschrieben. Es beschreibt die Sehnsucht, nicht mehr ständig über die eigene Identität sprechen zu müssen.

Kübra Gümüşay möchte gern die Verteidigungshaltung aufgeben können Foto: imago/Jürgen Schwarz

Wenn ich in meiner Geburtsstadt bin, gehe ich gern morgens im Park meiner Kindheit joggen. Von außen betrachtet bin ich dann wahrscheinlich ein mittelalter stämmiger Mann in problematischem Outfit, der etwas für seine Gesundheit tut. Für mich allerdings öffnen sich jedes Mal Welten.

Ich laufe an dem Schreibwarengeschäft vorbei, in dem ich Pelikanfüller und Sammelbildchen gekauft habe, an dem Freibad, wo ich schwimmen gelernt habe, ich passiere den Spielplatz, an dem ich eines Tages plötzlich aus dem Paradies des Kleinkindseins erwachte und zum ersten Mal bewusst „ich“ sagte. Und dieses „Ich“ sah dann irgendwann, dass die alte Gedenksäule, um die ich herum tausendmal Fangen gespielt habe, einem „unermüdlichen Verteidiger des Deutschtums“ gewidmet ist und dass der Hügel, den ich schnaufend mich hinaufwinde, aus Kriegsschutt besteht.

Der Krieg, den meine Eltern hier als Kinder noch erlebt haben, ist vorbei, ich kann in Frieden nach Hause kommen. Weniger dramatisch, aber durchaus auch bevorzugend sind die Tatsachen, dass ich mir eine Fahrkarte leisten kann und dass meine Eltern mich und meine Familie unterbringen können. Ich muss mich um kein Visum bemühen, um meine Mutter umarmen zu können, und keinen Antrag auf „Ortsabwesenheit“ beim Jobcenter stellen, bevor ich mich auf den Weg mache.

Kübra Gümüşay

Die Journalistin und Aktivistin wurde 1988 in Hamburg geboren. Sie studierte Politikwissen-schaften in Hamburg und London. Die von ihr mitbegründete Kampagne #ausnahmslos wurde im Jahr 2016 mit dem Clara-Zetkin-Frauenpreis aus-gezeichnet.

„Sprache und Sein“. Hanser Verlag, Berlin 2020, 208 Seiten, 18 Euro

Ich, der weiße kräftige Mann, wandle auch nachts angstfrei unter diesen alten Bäumen. Ich bin bis in die weniger werdenden Haarspitzen privilegiert, werde ich mir manchmal joggend bewusst. Bis ich an diese enge Stelle der Serpentine komme, wo mir jedes Mal der Schweiß noch mal extra ausbricht und ich die Schutzschilde hochfahre: Denn hier hatte ich schon so viele knurrende Begegnungen mit Rottweilern, Dobermännern und Maremmen-Abruzzen-Schäferhunden, deren Herrchen und Frauchen meinen Park in diesen Vormittagsstunden selbstverständlich als den ihren reklamieren und ihre Hunde frei laufen lassen.

Es geht um das Recht auf Freiheit und Individualität

Ich hingegen fühle mich unfrei, gefangen, erniedrigt, dass ich nicht ohne eine Grundspannung, nicht ohne Angst hier sein kann; und wenn mir jetzt jemand sagt, ich könne ja diese Stelle meiden, müsse an meiner vermeintlich irrationalen Angst arbeiten oder solle eben jedes Mal die Polizei rufen – dann sind wir mitten drin in dem, was jedenfalls mir Kübra Gümüşays Buch „Sprache und Sein“ mitgegeben hat.

Mein Versuch einer einleitenden Anverwandlung ist dabei nicht unproblematisch. In Gümüşays Buch geht es nur sehr am Rand um die berüchtigten Sorgen alter weißer Männer. Es geht aber grundsätzlich um das Recht auf Freiheit, auf Individualität, auf ein Leben, das nicht in Schubladen kategorisiert wird, eines ohne Angst: das Leben eben, welches das Grundgesetz den in Deutschland Lebenden zusichert.

„Individualität, Komplexität, Ambiguität, Makel und Fehler“ jedoch – eigentlich ja keine Privilegien – würden „Menschen, die von der Norm abweichen“, nicht zugestanden, schreibt Gümüşay, also denjenigen, „die inspiziert werden, die benannt werden“, die eingesperrt sind in den Definitionen der Benennenden: „Die jüdische Frau. Der Schwarze Mann. Die Frau mit Behinderung. Der Mann mit Migrationshintergrund. Die muslimische Frau. Der Geflüchtete. Die Homosexuelle. Die Transfrau. Der Gastarbeiter.“

Oder drastischer und persönlicher auf den Punkt gebracht: „Wenn ich, eine sichtbare Muslimin, bei Rot über die Straße gehe, gehen mit mir 1,9 Milliarden Muslim*innen bei Rot über die Straße. Eine ganze Weltreligion missachtet gemeinsam mit mir die Verkehrsregeln.“

Religion als Gegenstand des gesellschaftlichen Diskurses

Die „Schutzschilde fallen lassen“, das ist die Sehnsucht. Nicht mehr die in Deutschland „bei jeder Begegnung mitlaufende Gefechtsbereitschaft“ aktivieren müssen, wie das der afrodeutsche Literaturkritiker Ijoma Mangold in seinem Buch „Das deutsche Krokodil“ anlässlich eines Besuchs in Los Angeles beschrieben hat: „Ich musste die Reaktion meines Gegenübers nicht mehr vorwegnehmen, um sie in meinem Sinne beeinflussen zu können, denn hier schloss niemand von der Hautfarbe auf den Habitus zurück.“

Der Kampf um Individualität, um die eigenen Sprachen, der Kampf darum, den Graben zu schließen, zwischen dem, was sie sich entschieden hat zu sein, und dem, worauf sie festgelegt wird – und zwar der kollektive Kampf aller Marginalisierten und im Speziellen ihrer Generation: Kübra Gümüşays Buch ist dafür ein kraftvolles, mit vielen interessanten Verweisen und Zitaten gespicktes Manifest. Was es besonders macht, ist ihr ausführlich dargelegtes Beharren auf Spiritualität in einer scheinbar laizistischen Gesellschaft. Scheinbar weil etwa der anhaltende Esoterikboom oder der grüne Streit um die Homöopathie zeigen, dass sich das Verhältnis zu Spiritualität nicht nur an Kirchenaustrittszahlen messen lässt.

Gümüşay schreibt: „Zwischen Gott und glaubendem Menschen sollte niemand sein.“ Doch im säkularen Diskurs werde „die religiös geprägte Sprachwahl“ verhöhnt, die Perspektive der Nichtgläubigen sei weniger neugierig als „gierig“. Sie wehrt sich gegen diese als Zumutung empfundene Penetranz des Publikums, sie auf ihre Religiosität und ihr Kopftuch zu reduzieren: „Ich frage mich, wie ein Mensch noch spirituell bleiben kann, wenn er seine Spiritualität fortwährend rationalisieren, erklären und verteidigen muss.“

Diese Frage hat sich vor Jahrzehnten auch schon ein damals durchaus noch aufgeschlossener katholischer Geistlicher und Gelehrter gestellt und darauf die Antwort gegeben: Überhaupt nicht! Er kam zu dem fundamentalistischen Schluss, dass Spiritualität in der modernen Gesellschaft nur bestehen könne, wenn sie sich radikal dem Diskurs entzöge und auf Dogmen und Weihrauch statt auf Dialog und Erkenntnis setze.

Eine offene Gesellschaft braucht Offenheit

So wurde aus Josef Ratzinger ein Reaktionär und Hardliner, der Repräsentant einer faktischen Spaltung der katholischen Kirche, die wohl einen unumgänglichen Klärungsprozess zwischen der offenen, die Liebe in den Mittelpunkt stellenden Volkskirche und einem elitären Dunkelmännertum darstellt und selbstverständlich nicht ohne Druck von außen vor sich gehen konnte.

Gümüşay schreibt, dass die „ewige Verteidigungshaltung“ dazu geführt habe, dass innerislamische Diskussionen vernachlässigt worden seien. „Aus Angst davor, jemand könnte solche Diskussionen instrumentalisieren, haben wir vermieden, Missstände innerhalb unserer Gemeinschaften – Sexismus, Antisemitismus, Radikalisierung, Rassismus – ausreichend zu kritisieren. Aus lauter Angst, Öl ins Feuer zu gießen, haben wir auch kein Wasser gegossen.“

Es ist das der Punkt, an dem ich Kübra Gümüşay nicht folgen kann, wenn sie sich anschließend rhetorisch fragt: „Wie wäre es, wenn wir nicht so sehr darum besorgt wären, was andere über uns und unsere Religion denken?“ Aus meiner Perspektive ist das der Ratzingerweg hin zu einer sterilen, falschen, schmollenden Spiritualität. Ich jedenfalls würde sehr gerne in Ergänzung zu den ewigen christlichen Gottesdienstübertragungen regelmäßig am Freitag eine Übertragung aus einer Moschee hören. Die ich dann auch gern verstehen möchte. In der offenen Gesellschaft funktioniert auf Dauer nur Offenheit, ein Erkenntnisprivileg der Gläubigen kann es nicht geben– so schmerzlich das auch sein mag.

Die zitierte Frage Gümüşays ist aber vielleicht auch der Verweis auf einen eher leisen Grundton, der unter dem leidenschaftlichen und poetischen Rhythmus dieses Manifestes mitschwingt: dass nämlich der „tatsächliche Kulturwandel“, die „reale Utopie“ der Gesellschaft der wirklich Gleichberechtigten sich unter den von Gümüşays eher beiläufig geschilderten realkapitalistischen Umständen nicht verwirklichen lassen wird. Wenn es doch gelinge, sagt Gümüşay, dann nur in Form eines „wohlwollenden Diskurses, der durch Austausch, nicht durch Abgrenzung geformt wird“.

Als mich kürzlich in meiner Geburtsstadt wieder ein Hund ansprang, habe ich meine Angst und meinen Zorn nicht überwinden können, ich habe losgeschrien. Nach dem Buch von Kübra Gümüşay möchte ich es jetzt unbedingt mal anders probieren. Ruhig, wohlwollend, die Perspektive wechselnd, ohne meine eigene zu verleugnen oder kleinzumachen. Aber ganz sicher, dass das wirklich etwas bringt, bin ich nicht – so wie Kübra Gümüşay selbst, glaube ich, auch nicht.

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5 Kommentare

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  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Ich kann das Anliegen von Kübra Gümüsay gut nachvollziehen, aus einer Verteidigungshaltung herauskommen zu wollen. immer nur Defensive: Das strengt an - ohne Ende.

    Trotz allem Verständnis befürchte ich für sie, dass dies nicht geschehen wird. Es sei denn, sie lebt nach dem Motto: "Willst Du umarmt werden, öffne Deine Arme."

  • „Aus Angst davor, jemand könnte solche Diskussionen instrumentalisieren, haben wir vermieden, Missstände innerhalb unserer Gemeinschaften – Sexismus, Antisemitismus, Radikalisierung, Rassismus – ausreichend zu kritisieren. Aus lauter Angst, Öl ins Feuer zu gießen, haben wir auch kein Wasser gegossen.“

    Dies würde bedeuten, dass in Gemeinschaften in vorwiegend muslimischen Gesellschaften, die nicht in Verteidugungshaltung stehen müssen, Selbstkritik bezüglich Sexismus, Antisemitismus oder Rassismus "ausreichend" geübt.

    Ist das die Realität?



    Sind Gemeinschaften in der Türkei oder Ägypten, dem Libanon oder Pakistan weniger antisemitisch und weniger sexistisch?

    Oder ist die Meinung Erdogans verbreiteter, der 2017 sagte: "Wir sind Muslime, wir können gar keine Rassisten, Diskriminierende oder Antisemiten sein."?

    Natürlich ist es für das Selbstbild angenehmer, wenn man dem Druck von außen die Schuld für fehlende Selbstkritik geben kann.

    Dass man aber überhaupt darüber nachdenkt, liegt dann möglicherweise auch nur an dem Druck und der Erwartungshaltung von außen.

    Was muslimische Gemeinschaften dabei wirklich moralisch entlastet, ist die Tatsache, dass auch viele andere Gemeinschaften und Gruppen - auch nichtreligiöse - sich nur auf Druck von außen verändern.



    Und ja, das ist anstrengend.

    • @rero:

      ich kenne das phänomen gut, dass durch druck von außen auf bestimmte gruppen, die angst steigt, innerhalb dieser gruppe kritik zu üben und auf missstände aufmerksam zu machen. wenn es von außen im extrem schon passiert, hat eine person innerhalb der gruppe oft angst, diese zusätzlich zu schwächen.

      ich habe es ähnlich auch schon von schwarzen gemeinschaften gelesen, in denen es FLINTAs und anderen marginalisierten Gruppen oft schwer fällt, Gewalt, die gegen sie innerhalb der schwarzen Gemeinschaft ausgeübt wird, zu benennen und anzugehen. das bedeutet nicht, dass es nicht passiert. es wird diesen menschen bloß unnötig und fieserweise schwerer gemacht, denn der druck auf diese gemeinschaften ist schon von außen so groß, dass es schwerfällt auch noch von innen am bild der marginalisierten gruppe zu kratzen.

      das wäre kein problem, wenn menschen verstehen würden, dass andere unabhängig von ihrer religion oder hautfarbe gute und schlechte entscheidungen treffen. eine ganze gruppe sollte nie so unter beschuss geraten.

      das anzusprechen und zu problematisieren nimmt nicht die menschen innerhalb der marginalisierten gruppen aus der verantwortung. vielmehr zeigt es auf, dass die verantwortung eben AUCH bei den menschen außerhalb dieser marginalisierten gruppen liegt, die sich ja gerne davon distanzieren und mit dem finger zeigen. so wie Sie in Ihrem kommentar.

      ich beispielsweise werde behindert und werde weiblich gelesen und habe so als aktivistin im hambacher forst sexualisierte gewalt erfahren. dass ich darüber erst jahre später spreche, liegt daran, dass ich dem aktivismus nicht schaden wollte. ich fand ja gut, dass wir die bäume besetzten. doch damals war die fostbesetzung noch von außen total unter beschuss. da waren wir keine marginalisierte gruppe per se, doch ähnlich war, dass manche vor lauter schutzbedürfnis der gruppe gegenüber wichtiges nicht angesprochen haben. das zu sagen nimmt nicht die verantwortung von den gewaltausübenden personen.

  • Gümüşay leidet am Gegensatz zwischen islamischen Festlegungen und abendländischen Zweifeln.

    Ratzinger/Benedikt 16 hat den Unterschied zwischen dem christlichen und dem moslemischen Gottesbild in seinem Vortrag an der Universität Regensburg 2006 angesprochen:

    "Gott handelt „σὺν λόγω”, mit Logos. Logos ist Vernunft und Wort zugleich – eine Vernunft, die schöpferisch ist und sich mitteilen kann, aber eben als Vernunft. […] Nicht vernunftgemäß handeln ist dem Wesen Gottes zuwider."

    "Für die moslemische Lehre hingegen ist Gott absolut transzendent. Sein Wille ist an keine unserer Kategorien gebunden und sei es die der Vernünftigkeit. Khoury zitiert dazu eine Arbeit des bekannten französischen Islamologen R. Arnaldez, der darauf hinweist, daß Ibn Hazm so weit gehe zu erklären, daß Gott auch nicht durch sein eigenes Wort gehalten sei und daß nichts ihn dazu verpflichte, uns die Wahrheit zu offenbaren. Wenn er es wollte, müsse der Mensch auch Götzendienst treiben."

    w2.vatican.va/cont...ty-regensburg.html

  • "Zwischen Gott und glaubendem Menschen sollte niemand sein." - ein schöner Satz. Könnte so fast von Martin Luther sein, der ebenfalls davon wegkommen wollte, dass der Kontakt mit Gott nur über einen (dadurch privilegierten) geweihten Priester zustande kommen darf.

    Aber warum sollte ich als spiritueller Mensch meinen Glauben nicht "fortwährend rationalisieren, erklären und verteidigen" müssen. Natürlich muss ich das! Entweder ich glaube tatsächlich, was ich glaube, und finde es auch logisch und rational, oder ich bin unter Umständen auf dem Holzweg und muss mich darum auch hinterfragen (lassen).

    Ich persönlich finde es viel logischer, dass es Gott gibt, als dass das Universum ein Produkt des Zufalls sein könnte. Eine rein materialistische Weltsicht macht für mich jedenfalls überhaupt keinen Sinn. Jegliche Art von Schönheit, Liebe, Kunst, Musik etc wären auf einen Schlag sinnentleert und entwertet, wenn man glaubt, dass wir alle nur zufällige Ansammlungen von Atomen, Molekülen und Gehirnzellen sind.