„Sprache und Sein“ von Kübra Gümüşay: Keine Angst vor bellenden Hunden
Journalistin Kübra Gümüşay hat ein Buch geschrieben. Es beschreibt die Sehnsucht, nicht mehr ständig über die eigene Identität sprechen zu müssen.
Wenn ich in meiner Geburtsstadt bin, gehe ich gern morgens im Park meiner Kindheit joggen. Von außen betrachtet bin ich dann wahrscheinlich ein mittelalter stämmiger Mann in problematischem Outfit, der etwas für seine Gesundheit tut. Für mich allerdings öffnen sich jedes Mal Welten.
Ich laufe an dem Schreibwarengeschäft vorbei, in dem ich Pelikanfüller und Sammelbildchen gekauft habe, an dem Freibad, wo ich schwimmen gelernt habe, ich passiere den Spielplatz, an dem ich eines Tages plötzlich aus dem Paradies des Kleinkindseins erwachte und zum ersten Mal bewusst „ich“ sagte. Und dieses „Ich“ sah dann irgendwann, dass die alte Gedenksäule, um die ich herum tausendmal Fangen gespielt habe, einem „unermüdlichen Verteidiger des Deutschtums“ gewidmet ist und dass der Hügel, den ich schnaufend mich hinaufwinde, aus Kriegsschutt besteht.
Der Krieg, den meine Eltern hier als Kinder noch erlebt haben, ist vorbei, ich kann in Frieden nach Hause kommen. Weniger dramatisch, aber durchaus auch bevorzugend sind die Tatsachen, dass ich mir eine Fahrkarte leisten kann und dass meine Eltern mich und meine Familie unterbringen können. Ich muss mich um kein Visum bemühen, um meine Mutter umarmen zu können, und keinen Antrag auf „Ortsabwesenheit“ beim Jobcenter stellen, bevor ich mich auf den Weg mache.
Die Journalistin und Aktivistin wurde 1988 in Hamburg geboren. Sie studierte Politikwissen-schaften in Hamburg und London. Die von ihr mitbegründete Kampagne #ausnahmslos wurde im Jahr 2016 mit dem Clara-Zetkin-Frauenpreis aus-gezeichnet.
„Sprache und Sein“. Hanser Verlag, Berlin 2020, 208 Seiten, 18 Euro
Ich, der weiße kräftige Mann, wandle auch nachts angstfrei unter diesen alten Bäumen. Ich bin bis in die weniger werdenden Haarspitzen privilegiert, werde ich mir manchmal joggend bewusst. Bis ich an diese enge Stelle der Serpentine komme, wo mir jedes Mal der Schweiß noch mal extra ausbricht und ich die Schutzschilde hochfahre: Denn hier hatte ich schon so viele knurrende Begegnungen mit Rottweilern, Dobermännern und Maremmen-Abruzzen-Schäferhunden, deren Herrchen und Frauchen meinen Park in diesen Vormittagsstunden selbstverständlich als den ihren reklamieren und ihre Hunde frei laufen lassen.
Es geht um das Recht auf Freiheit und Individualität
Ich hingegen fühle mich unfrei, gefangen, erniedrigt, dass ich nicht ohne eine Grundspannung, nicht ohne Angst hier sein kann; und wenn mir jetzt jemand sagt, ich könne ja diese Stelle meiden, müsse an meiner vermeintlich irrationalen Angst arbeiten oder solle eben jedes Mal die Polizei rufen – dann sind wir mitten drin in dem, was jedenfalls mir Kübra Gümüşays Buch „Sprache und Sein“ mitgegeben hat.
Mein Versuch einer einleitenden Anverwandlung ist dabei nicht unproblematisch. In Gümüşays Buch geht es nur sehr am Rand um die berüchtigten Sorgen alter weißer Männer. Es geht aber grundsätzlich um das Recht auf Freiheit, auf Individualität, auf ein Leben, das nicht in Schubladen kategorisiert wird, eines ohne Angst: das Leben eben, welches das Grundgesetz den in Deutschland Lebenden zusichert.
„Individualität, Komplexität, Ambiguität, Makel und Fehler“ jedoch – eigentlich ja keine Privilegien – würden „Menschen, die von der Norm abweichen“, nicht zugestanden, schreibt Gümüşay, also denjenigen, „die inspiziert werden, die benannt werden“, die eingesperrt sind in den Definitionen der Benennenden: „Die jüdische Frau. Der Schwarze Mann. Die Frau mit Behinderung. Der Mann mit Migrationshintergrund. Die muslimische Frau. Der Geflüchtete. Die Homosexuelle. Die Transfrau. Der Gastarbeiter.“
Oder drastischer und persönlicher auf den Punkt gebracht: „Wenn ich, eine sichtbare Muslimin, bei Rot über die Straße gehe, gehen mit mir 1,9 Milliarden Muslim*innen bei Rot über die Straße. Eine ganze Weltreligion missachtet gemeinsam mit mir die Verkehrsregeln.“
Religion als Gegenstand des gesellschaftlichen Diskurses
Die „Schutzschilde fallen lassen“, das ist die Sehnsucht. Nicht mehr die in Deutschland „bei jeder Begegnung mitlaufende Gefechtsbereitschaft“ aktivieren müssen, wie das der afrodeutsche Literaturkritiker Ijoma Mangold in seinem Buch „Das deutsche Krokodil“ anlässlich eines Besuchs in Los Angeles beschrieben hat: „Ich musste die Reaktion meines Gegenübers nicht mehr vorwegnehmen, um sie in meinem Sinne beeinflussen zu können, denn hier schloss niemand von der Hautfarbe auf den Habitus zurück.“
Der Kampf um Individualität, um die eigenen Sprachen, der Kampf darum, den Graben zu schließen, zwischen dem, was sie sich entschieden hat zu sein, und dem, worauf sie festgelegt wird – und zwar der kollektive Kampf aller Marginalisierten und im Speziellen ihrer Generation: Kübra Gümüşays Buch ist dafür ein kraftvolles, mit vielen interessanten Verweisen und Zitaten gespicktes Manifest. Was es besonders macht, ist ihr ausführlich dargelegtes Beharren auf Spiritualität in einer scheinbar laizistischen Gesellschaft. Scheinbar weil etwa der anhaltende Esoterikboom oder der grüne Streit um die Homöopathie zeigen, dass sich das Verhältnis zu Spiritualität nicht nur an Kirchenaustrittszahlen messen lässt.
Gümüşay schreibt: „Zwischen Gott und glaubendem Menschen sollte niemand sein.“ Doch im säkularen Diskurs werde „die religiös geprägte Sprachwahl“ verhöhnt, die Perspektive der Nichtgläubigen sei weniger neugierig als „gierig“. Sie wehrt sich gegen diese als Zumutung empfundene Penetranz des Publikums, sie auf ihre Religiosität und ihr Kopftuch zu reduzieren: „Ich frage mich, wie ein Mensch noch spirituell bleiben kann, wenn er seine Spiritualität fortwährend rationalisieren, erklären und verteidigen muss.“
Diese Frage hat sich vor Jahrzehnten auch schon ein damals durchaus noch aufgeschlossener katholischer Geistlicher und Gelehrter gestellt und darauf die Antwort gegeben: Überhaupt nicht! Er kam zu dem fundamentalistischen Schluss, dass Spiritualität in der modernen Gesellschaft nur bestehen könne, wenn sie sich radikal dem Diskurs entzöge und auf Dogmen und Weihrauch statt auf Dialog und Erkenntnis setze.
Eine offene Gesellschaft braucht Offenheit
So wurde aus Josef Ratzinger ein Reaktionär und Hardliner, der Repräsentant einer faktischen Spaltung der katholischen Kirche, die wohl einen unumgänglichen Klärungsprozess zwischen der offenen, die Liebe in den Mittelpunkt stellenden Volkskirche und einem elitären Dunkelmännertum darstellt und selbstverständlich nicht ohne Druck von außen vor sich gehen konnte.
Gümüşay schreibt, dass die „ewige Verteidigungshaltung“ dazu geführt habe, dass innerislamische Diskussionen vernachlässigt worden seien. „Aus Angst davor, jemand könnte solche Diskussionen instrumentalisieren, haben wir vermieden, Missstände innerhalb unserer Gemeinschaften – Sexismus, Antisemitismus, Radikalisierung, Rassismus – ausreichend zu kritisieren. Aus lauter Angst, Öl ins Feuer zu gießen, haben wir auch kein Wasser gegossen.“
Es ist das der Punkt, an dem ich Kübra Gümüşay nicht folgen kann, wenn sie sich anschließend rhetorisch fragt: „Wie wäre es, wenn wir nicht so sehr darum besorgt wären, was andere über uns und unsere Religion denken?“ Aus meiner Perspektive ist das der Ratzingerweg hin zu einer sterilen, falschen, schmollenden Spiritualität. Ich jedenfalls würde sehr gerne in Ergänzung zu den ewigen christlichen Gottesdienstübertragungen regelmäßig am Freitag eine Übertragung aus einer Moschee hören. Die ich dann auch gern verstehen möchte. In der offenen Gesellschaft funktioniert auf Dauer nur Offenheit, ein Erkenntnisprivileg der Gläubigen kann es nicht geben– so schmerzlich das auch sein mag.
Die zitierte Frage Gümüşays ist aber vielleicht auch der Verweis auf einen eher leisen Grundton, der unter dem leidenschaftlichen und poetischen Rhythmus dieses Manifestes mitschwingt: dass nämlich der „tatsächliche Kulturwandel“, die „reale Utopie“ der Gesellschaft der wirklich Gleichberechtigten sich unter den von Gümüşays eher beiläufig geschilderten realkapitalistischen Umständen nicht verwirklichen lassen wird. Wenn es doch gelinge, sagt Gümüşay, dann nur in Form eines „wohlwollenden Diskurses, der durch Austausch, nicht durch Abgrenzung geformt wird“.
Als mich kürzlich in meiner Geburtsstadt wieder ein Hund ansprang, habe ich meine Angst und meinen Zorn nicht überwinden können, ich habe losgeschrien. Nach dem Buch von Kübra Gümüşay möchte ich es jetzt unbedingt mal anders probieren. Ruhig, wohlwollend, die Perspektive wechselnd, ohne meine eigene zu verleugnen oder kleinzumachen. Aber ganz sicher, dass das wirklich etwas bringt, bin ich nicht – so wie Kübra Gümüşay selbst, glaube ich, auch nicht.
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