Spielfilm über Kindheit in Irland: Wenn Kinderreichtum zu Armut führt
Mangelnde Liebe und Gleichgültigkeit: Colm Bairéads Spielfilm „The Quiet Girl“ schildert ergreifend eine Kindheit im Irland der achtziger Jahre.
Aus dem Mittelalter stammt der Spruch „A maid should be seen but not heard“, der sich generationsübergreifend in kruden Erziehungsvorstellungen niederschlug. Die neunjährige Cáit (Catherine Clinch) vermeidet beides: Sie versteckt sich gern. Mucksmäuschenstill liegt sie dann unter dem Bett oder unter dem Gras, das noch immer kniehoch auf der klassisch-irlandgrünen Wiese steht, weil ihr Vater (Michael Patric) das Geld in der Kneipe versäuft, mit dem ihre Mutter (Kate Nic Chonaonaigh) eigentlich die Erntehelfer bezahlen sollte.
Dass sie nicht viel spricht, ist also nicht verwunderlich. Doch ihr Schweigen lässt das dunkelhaarige Mädchen mit den neugierigen Augen zu einem Fremdkörper werden, einer Außenseiterin, der auch beim Vorlesen in der Schule die Stimme stockt, und die ihren zickigen Schwestern und der Enge des kleinen Hauses nichts entgegensetzen kann.
„The Quiet Girl“. Regie: Colm Bairéad. Mit Carrie Crowley, Andrew Bennett u.a. Irland 2022, 95 Min.
Es sind aber nicht die sichtbar prekären Verhältnisse im ländlichen Irland des Jahres 1981, unter denen die Protagonistin in „The Quiet Girl“ leidet. Es ist, und das wird bereits in den ersten Szenen von Colm Bairéads Adaption einer Kurzgeschichte von Claire Keegan klar, die schmerzhafte und unverständliche seelische Vernachlässigung, der das Mädchen ausgesetzt ist. Eine Vernachlässigung, die aus Überforderung und Ignoranz rührt: Ihr Vater schaut sie nie an, während er die Wut auf sein Leben mit fünf und bald sechs Kindern (Cáits Mutter ist wieder schwanger) durch Pferdewetten und dunkles Bier runterzuspülen versucht, ihre Mutter hat ohnehin so viel zu tun, dass kein Fünkchen Aufmerksamkeit mehr übrig ist.
Nachts hört Cáit ihre Eltern darüber sprechen, sie bis zur Geburt des neuen Geschwisterkinds zu einer Cousine der Mutter zu bringen, das etwas ältere Paar Eibhlín (Carrie Crowley) und Seán (Andrew Bennett) wohnt drei Autostunden entfernt. Und so lädt der Vater Cáit in seinen klapprigen Ford, um sie wie eine Last abzugeben, ohne Koffer, und ohne Abschiedsgruß.
Auf Augenhöhe mit dem Mädchen
Wie sehr sich die Erfahrungen, die Cáit im Laufe dieses Sommers machen wird, von ihrem gewohnten Umfeld unterscheiden, inszeniert Regisseur Bairéad bereits beim ersten Treffen mit der neuen Kurzzeit-Pflegemutter. Denn nachdem die Erwachsenen um Cáit eigentlich immer nur um die Rumpfmitte herum hinter und neben ihr zu sehen waren, hockt die fremde Frau sich zur Begrüßung des Kindes hin, um auf Augenhöhe zu sein. Und um das stille Mädchen endlich einmal wirklich zu „sehen“.
Es geht viel um Blicke, um Blickwinkel und die doppelte Bedeutung des „Sehens“ in Bairéads anrührendem Film, der sein Drama so ruhig und poetisch entfaltet wie ein trauriger, irischer Folksong: Wenn Eibhlín mit Cáit zu einer nahen Quelle geht, um Wasser zu schöpfen, spiegelt sich das Grün der Bäume in der Kelle, beim gemeinsamen Kuhstallputzen mit dem wortkargen Seán nähern sich die beiden langsam an.
Das Trauma, das die Sommer-Pflegeeltern mit sich herumtragen und das der Grund für die Kinderkleidung in Cáits Zimmer und die mit Autos und Eisenbahnen bedruckte Tapete an der Wand ist, kündigt sich ohne viel Aufhebens an – und wirkt fast logisch: Die einen jammern darüber, was sie zu viel, die anderen vermissen das, was sie verloren haben.
Bairéads Film spiegelt nicht nur die unsensible Art und Weise, in der Erwachsene vielerorts bis in die 80er Jahre (und zuweilen bis heute) mit den Bedürfnissen ihrer Kinder umgingen, sondern auch das Dilemma der hochkatholischen Insel, auf der der Kinderreichtum einerseits von Gott und der Gesellschaft verlangt wurde, sich aber andererseits kaum mit der materiellen Not vereinbaren ließ.
Überforderte Eltern
Die Problematik überforderter Eltern ist universal und zeitlos, die eigenwillig-schöne gälische Sprache, die im Film von fast allen gesprochen wird, verstärkt die Authentizität und Abgeschiedenheit der Handelnden. Und weil die beeindruckende Debütschauspielerin Catherine Clinch den unsagbaren Schmerz ihrer Figur mit aller kindlichen Offenheit bei gleichzeitig vorgegebener Zurückhaltung spielt, ist das Ergebnis ergreifend.
„Sie spricht so viel wie nötig“, verteidigt Seán, für den die Begegnung mit Cáit irgendwann ebenso heilsam wird wie für sie, das Mädchen gegenüber einer geschwätzigen Nachbarin, die – wie einige andere Nebenfiguren – trotz an sich durchgehend überzeugender Darstellung ein wenig zu stereotyp ausgedacht ist. Doch kitschig wird der Film nie, noch versteckt er sich vor seinem Dilemma: Am Ende kann man Kindern, die nicht unter körperlicher Gewalt, sondern unter Gleichgültigkeit und mangelnder Liebe leiden, nicht wirklich helfen.
Man kann nur hoffen und wünschen (und, wenn man Ire ist, vermutlich auch beten), dass das Mädchen die Resilienz irgendwann in sich oder in seiner Umgebung findet. Vielleicht auch in dem abgegriffenen „Heidi“-Roman, durch den sie mit Hilfe von Seán ihre Lesekünste verbessert. Er könnte sogar dabei helfen, sich an die eigene Stimme zu gewöhnen.
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