Spiegel-Kolumnist über Zukunft: „Langfristig ist doch alles super“
Der Spiegel-Kolumnist Ullrich Fichtner sieht Chancen für einen historischen Umbruch. Er wisse gar nicht, wie das gehen soll, ohne Zuversicht.
Die schlechten Nachrichten in diesem Jahr häuften sich. Optimismus, so hieß es lange gern im Scherz, sei nur ein Mangel an Information. Mit Blick auf das Klima etwa halten vielen das heute für geradezu unbestreitbar. Die Zukunft erscheint vielen bedrohlich, manche erwarten gar den Kollaps. Doch es gibt Menschen, bei denen ist es umgekehrt: Sie weisen auf empirische Entwicklungen hin, die trotz allem menschlichen Fortschritt zeigen und Gründe zur Zuversicht geben. In einem Text für die wochentaz hat taz-Redakteur Christian Jakob beschrieben, was sie dem oft fatalistischen Zeitgeist entgegenhalten. Für diese Interviewreihe haben wir ausführlich mit ihnen darüber gesprochen, ob der bisherige menschliche Fortschritt auch all die neuen Krisen übersteht.
taz: Herr Fichtner, die menschliche Geschichte hat enormen Fortschritt gebracht. Heute zweifeln viele daran, dass das so weiter geht. Sie hingegen plädieren für Zuversicht. Warum?
Ullrich Fichtner: Die meisten Leute denken, wer ihnen mit Zuversicht kommt, meine, es sei alles nicht so schlimm. Das ist nicht der Fall. Ich weiß nicht, wie es wird. Niemand weiß das. Und ich gehe auch nicht davon aus, dass es sicher gut wird. Was ich versuche zu stark zu machen, ist, dass die Zukunft offen ist. Es gab unglaublich viele Überraschungen im Lauf der Menschheitsgeschichte, mit denen niemand gerechnet hat. Es ist ein Fehler, negative Momentaufnahmen einfach linear in die Zukunft zu verlängern und zu sagen, es könne immer nur noch schlimmer werden. Das ist nachweislich nicht der Fall. Es lohnt sich wirklich, die Geschichte anders anzuschauen, als man es normalerweise tut.
taz: Was sieht man dann?
Der Spiegel-Journalist Ullrich Fichtner veröffentlichte 2023 ein Buch mit dem Titel „Geboren für die großen Chancen“. Er zeichnet darin das Panorama einer sehr wohl lebenswerten Welt. In einer wöchentlichen Spiegel-Kolumne legt er dar, warum er eine solche Zukunft für wahrscheinlich hält.
Fichtner: Man sieht etwa Ende des 19. Jahrhunderts die medizinischen, Anfang des 20. Jahrhunderts, die technischen Entwicklungen, die Nutzung der Elektrizität, Transportmöglichkeiten, und wie die von Grund auf das Leben verändert haben. Diese Entwicklung ist weitergegangen. Die Menschheit ist wahrscheinlich noch nie so gesund und lebenstüchtig gewesen wie heute, obwohl es immer mehr Menschen gibt. Es ist faszinierend, wie im Abstand von grob geschätzt 50 Jahren immer sehr große Dinge geschahen: 1900 etwa die Elektrizität, Mitte des Jahrhunderts Atomenergie, Ende des Jahrhunderts die digitale Revolution. Die Geschwindigkeit dieser Entwicklungen ist aus der Rückschau atemberaubend.
taz: Das klingt fast wie ein Automatismus.
Fichtner: Keineswegs. Denken Sie an die Medizin – eine einzige Geschichte von Tabubrüchen. Immer wieder sagen Leute: Um Gottes willen, bloß nicht! Blutentnahme, In vitro Fertilisation, Nierentransplantation: Immer stehen Leute an der Brücke über das Wasser und sagen: „Geh nicht drüber“, es wird schlimm enden, der Mensch überhebt sich. Heute sind die Reaktionen auf künstliche Intelligenz und andere Dinge ähnlich. Gestützt auf historische Erfahrung sollte man sagen: „Vielleicht wird es doch nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird“.
taz: Was hat Sie zu dieser Sichtweise gebracht?
Fichtner: Etwa „Factfulness“, das Buch des schwedischen Arztes Hans Rosling. Es enthält unheimlich viele überraschende, positive Fakten über die Entwicklung der Welt. Man macht so Bekanntschaft mit einem Weltbild, das Kopf steht, mit seinen eigenen Wissenslücken, Klischees. Das war für mich ein Wahrnehmungsschock.
taz: Welche Wissenslücken waren das zum Beispiel?
Fichtner: Die Bevölkerungsentwicklung auf der Welt. Man hat irgendwann mal gelernt, dass es eine Bevölkerungsexplosion gibt, die die Welt vernichten wird. Und nur wenn man Glück hat, erfährt man, dass es wahrscheinlich anders ist, dass es irgendwann gipfelt und dann geht es abwärts.
taz: Und dass künftig eher der Bevölkerungsrückgang das Problem ist.
Fichtner: Man speichert eine Information ab, weil man gar nicht in der Lage ist, jedes Thema im Einzelnen zu verfolgen. Aber wenn man den Baukasten nicht ab und zu mal durchbürstet, bleiben da viele Sachen drin liegen, die nicht mehr stimmen. Unser Wissen ist veraltet, hat aber fast immer diesen negative Bias. Wenn man dem nachgeht, muss man aber mit seinen Argumenten aufpassen, dass man nicht positiv-esoterisch wird, alles auf den Kopf stellt und am Schluss sagt: langfristig ist doch alles super.
taz: Im Moment sieht Vieles alles andere als gut aus.
Fichtner: Kurzfristig ist das so. Das ist ein großes Problem. Da haben Leute, die eine Zuversichtsposition angreifen, natürlich einen Punkt: Eine schlechte Gegenwart wird nicht dadurch besser, dass sie sich langfristig vielleicht ins Positive dreht. Man muss auch in der Gegenwart alle Probleme zur Kenntnis nehmen und kann keinen Honig drüber kippen.
taz: Viele beschreiben die Gegenwart als „Polykrise“, als Ballung kaum lösbarer Problemlagen in einer historisch neuen Schärfe. Sie schreiben von „großen Chancen“ und gelösten Problemen in der Zukunft. Was gibt ihnen diese Zuversicht?
Fichtner: Ich beobachte im Moment unglaublich viele voneinander unabhängige Entwicklungen in dieselbe Richtung. Neue Lehrstühle an Universitäten, Forschungsprojekte – vieles mit Bezug zum Klima, weil es die jungen Studenten oder Wissenschaftler interessiert, weil sie Verantwortung übernehmen wollen. In der Unternehmerschaft tut sich wahnsinnig viel. In allen Branchen sind die dabei, weil sie eben dabei sein wollen. Vielleicht sind sie selber Eltern und denken an die Zukunft, wollen sich halt korrekt verhalten. Die meisten Menschen wollen ja nicht zum Schlechten beitragen, sondern zum Gelingen. Deshalb gibt es Firmen, wo jetzt der Seniorchef hoffentlich endlich mal in Rente geht, und neue Leute über Produkte anders nachdenken.
taz: Ist das eine ausreichende Antwort auf all die Krisen?
Fichtner: Es gibt viele parallel laufende Stränge, die man im Einzelnen gar nicht sieht, aber die insgesamt einen Bewusstseinswandel, einen Paradigmenwechsel zeigen. Die Utopie, das Wünschenswerte, ändert sich, sagt der Soziologe Andreas Reckwitz. Und dann verändert sich die Gesellschaft. Das ist der historische Moment, in dem wir uns bewegen. Ich rede von zehn, zwanzig Jahren, nicht von den nächsten vier Monaten. Es sind langsame Prozesse, die aber zu etwas Neuem führen. Wenn ich die Welt betrachte und nicht orientiert bin an allem Schlechten, was immer Schlagzeilen macht, sondern an dem Leben, wie es eben so abläuft, dann sehe ich viel mehr Gründe dafür, an einen Bewusstseinswandel in diese Richtung zu denken als umgekehrt.
taz: Haben Sie selbst Zweifel an dieser Weltsicht?
Fichtner: Manchmal frage ich mich: Habe ich mich da zu weit in diesem Gebirge verstiegen? Aber ich weiß gar nicht, wie das gehen soll, keine Zuversicht zu haben.
taz: Der bisherige Fortschritt lebte auch von Voraussetzungen wie politischen Freiheiten, Forschungsfreiheit, Rechtssicherheit, öffentlicher Förderung. Nun kommen der Autoritarismus der Populisten, die Staatswesen-Zerstörung der Ultralibertären, eine von Milliardären kontrollierte, dysfunktional gewordene Sphäre öffentlicher Kommunikation. Zerstört das nicht die Grundlagen der Fortschritts?
Fichtner: Sie verwechseln eine zeitaktuelle Analyse mit einer historischen Entwicklung. Nehmen wir die Frage, wie wir und unsere Kinder mit dem Internet umgehen. Die flächendeckende Internetnutzung durch das Smartphone gibt es seit höchstens 15 Jahren. Auf historische Prozesse bezogen ist dieser Zeitraum ein Witz. Wir sind ja offenkundig alle überfordert von den Fähigkeiten dieser kleinen Geräte, lieben sie aber gleichzeitig, weil sie so viele wunderbare Möglichkeiten eröffnen. Vielleicht auch, weil Algorithmen eingebaut sind, die uns abhängig machen, das wird schon so sein. Aber nun gibt es gesetzliche Regelungen in Europa, oder den wahrscheinlich eher populistischen Vorstoß in Australien.
taz: Social Media-Verbot bis zum Alter von 16 Jahren.
Fichtner: Ja. In Frankreich müssen Kinder schon seit 10 Jahren ihr Handy vor Schulbeginn abgeben. In Deutschland behaupten Landespolitiker noch, das sei völlig undurchführbar. Aber es wird mehr kommen: Die ersten richtig guten Studien, Politikberatung, aber auch Skandale, mehr Fake News, Beeinflussung von Wahlen. Wir sind inmitten einer sehr frischen Gemengelage. Und in der tauchen schon Elemente auf, wie man was vernünftig regulieren könnte. Auch die Menschen selbst reagieren: Gruppen, die mit Apps versuchen, sich die übermäßige Handynutzung abzutrainieren etwa. Es gibt Bewusstseinswandel im Kleinen, Vorgänge im Großen. Und das schon 15 Jahre, nachdem eine wirklich große und verändernde Technologie unser Leben erreicht hat. In weiteren 15 Jahren haben wie viele Sachen vielleicht gelernt. Etwa, dass Kinder wirklich krank werden, wenn sie das zu viel nutzen. Dann wird sich keine Politik leisten können, da nicht einzuschreiten. Und die Eltern merken es ja auch. Da wächst schon heute der Druck.
taz: Sie gehen von so etwas wie einer stabilen Bereitschaft zur ‚Good Governance‘ aus. Was ist mit den Autoritären, die Bürger- und Menschenrechte einschränken wollen?
Fichtner: Als Donald Trump zum ersten Mal gewählt worden ist, habe ich hunderte Berichte darüber gelesen, dass jetzt alles vorbei ist. Oder die Berichterstattung vor den EU-Wahlen. Es hieß, es könnte im EU-Parlament eine Mehrheit der Europafeinde geben. Aber es gibt eine ganz klare Mehrheit der proeuropäischen Kräfte.
taz: Der Rechtsruck war und ist sehr eindeutig.
Fichtner: Es ist eine große Minderheit, die ist bestimmt lästig und verhindert und behindert Prozesse. Aber in aller Regel haben Populisten es jedenfalls in den vergangenen Jahrzehnten immer nur geschafft, Dinge aufzuhalten und Zeit zu verschwenden. Das das Schlimmste an Trump und diesen Leuten ist diese wahnsinnige Zeitverschwendung. Aber dass die es schaffen könnten, dass etwa der Verbrennungsmotor wiederkommt, ist Blödsinn. Kein Mensch will den, die Industrie selber will ihn auch nicht. Es ist eine ärgerliche Zeitverschwendung, die aber an der Grundrichtung, die eingeschlagen ist, nichts mehr ändert.
taz: Sie halten es nicht für vorstellbar, dass die Konservativen eine Tea Party-hafte Entwicklung durchlaufen, sich dann rechtsextreme Parteien durchsetzen können und die liberale Demokratie sich als „kurze Phase erweist“ wie es der Ex-Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle fürchtet?
Fichtner: Nach 1989 haben sich immer mehr Länder demokratisch verfasst, auf dem Höhepunkt waren 140 UN-Staaten mehr oder weniger demokratisch. Jetzt bröselt es ein bisschen. Aber manche Länder demokratisieren sich auch heute, und es gibt Mischformen, die uns nicht behagen. Aber nach so kurze Zeit, ein paar Jahren, zu sagen, alles geht abwärts – woraus speist sich das? Die allermeisten Gesellschaften, die mal Demokratie gelebt haben, gehen nicht so schnell in diktatorische Verhältnisse zurück. Brasilien ist ein gutes Beispiel.
taz: Das klingt angesichts der Entwicklung in Russland sehr optimistisch.
Fichtner: Es gibt die konkreten, aktuellen Herausforderungen und die Katastrophen, denen man sich stellen muss. Das berührt aber das Grundthema nicht. Nur weil ich grundsätzlich zuversichtlich bin, würde ich ja nicht sagen, alles sei halb so wild in Russland. Das ist eine Katastrophe, furchtbar, und hoffentlich findet man eine Lösung, um den Krieg zu beenden. Ich war gerade bei einer Podiumsdiskussion und der Moderator zählte zur Einleitung alles Schlimme auf, was ihm einfiel: Russland, Erderwärmung, Künstliche Intelligenz, die Trump-Wahl, eine lange Liste an Furchtbarkeiten. Und dann sagt er: So, und jetzt erklären Sie mir doch mal, wieso Sie zuversichtlich sind.
taz: Was haben Sie gesagt?
Fichtner: Die grundsätzlichen Überlegungen zur Zuversicht grundieren den Blick auf die Aktualität. Aber sie können die Aktualität nicht verändern, ignorieren oder besser machen, als sie ist. Die Wirklichkeit bleibt immer schwierig. Manche Leute stellen sich eine ideale Welt vor, in der es keine Probleme gibt. Wenn es dann Probleme gibt, ist alles ganz furchtbar. Das ist verrückt.
Die Welt ist immer ein problembeladener Ort gewesen und wird es auch immer sein. Ebenso ist unser Leben problembeladen. Aber jede Störung wird als Zeichen des Niedergangs interpretiert, statt zu sagen: ‚Ja, es ist halt etwas passiert. Gucken wir mal, wie wir es vom Eis kriegen und weitermachen.‘
taz: Warum fällt Menschen das so schwer?
Fichtner: Es gibt den Negativity Bias: Psychologische Schaltungen im Hirn, archaische Überbleibsel, die den Menschen womöglich wirklich auf das Negative richten. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, um den Leuten klarzumachen, dass ihre Wahrnehmung vielleicht falsch ist. Ich will Menschen darauf hinweisen, wenn sie es sich in ihrer negativen Sicht zu leicht machen. Es geht darum, zu zeigen warum sich schlechte Nachrichten besser verbreiten als gute. Oder auf das unglaubliche Datenkonvolut der Vereinten Nationen zu zeigen, das eine andere Sprache spricht als alles, was der Pessimismus sich so vorstellt.
taz: Ein Theologe schrieb, die Überzeugung, den Untergang zu erleben, sei gespeist aus einer Grandiositätsfantasie, aus dem Glauben, am Wendepunkt der Geschichte zu leben und damit zum Vollstrecker der Geschichte zu werden, statt sang- und klanglos einfach wieder zu verschwinden.
Fichtner: Das klingt plausibel. Ozonloch, der Millennium-Bug, Ebola, jede Generation hat ihre eigene Weltuntergangsvorstellung. Vielleicht sucht der Mensch in seiner eigenen Endlichkeit und der Gewissheit, dass er sterben wird, kollektiv Trost in Untergangsvorstellungen.
taz: Kommen ihnen angesichts der Nachrichtenlage manchmal ähnliche Gedanken?
Fichtner: Beim Klima gibt es ja einen Beweis nach dem anderen, dass es wirklich sehr schlecht aussieht. Ich habe kürzlich Robert Folger, den Leiter des Apokalypse-Forschungszentrums in Heidelberg gefragt: „Was ist denn, wenn es diesmal wirklich anders ist?“ Wir haben die Erderwärmung, beobachtet vom größten je geknüpften Wissenschaftler-Netz, sehr gute Daten, die immer besser werden. Was wäre denn, wenn wir diesmal doch auf den Weltuntergang zugehen, weil wir es nicht in den Griff kriegen? Der hat gelacht und gesagt: „Glauben Sie denn, die Leute hatten früher keine Beweise?“
taz: Historisch wurden schon immer die besten verfügbaren Prognosekräfte herangezogen, um den Untergang zu prophezeien. Dass er ausblieb ist aber kein Beweis, dass es diesmal wieder so sein muss.
Fichtner: Vor der Klima-Weltuntergangsangst war die große Angst, dass uns das Öl ausgeht. Auch da hat die beste Wissenschaft das Ende des Öls vier oder fünf Mal während der Geschichte der Erdölnutzung vorausgesagt. Es waren ganz moderne, mit höchster Präzision ermittelte Daten, die zeigten, dass das Öl ausgehen wird. Dann war das doch nicht der Fall.
taz: Welche Reaktionen bekommen sie, wenn Sie Zuversicht verbreiten wollen?
Fichtner: Die sind völlig polarisiert. Die eine Hälfte sagt: „Du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank, Du bist schuld, wenn die Welt untergeht, weil du alles schönfärbst. Wie kann denn der Spiegel solchen Unsinn verbreiten?“ Es sei naiv und blauäugig, auf Technologie zu hoffen. Auf meine letzte Kolumne zum Fortschritt schrieb mir eine Frau: „Das einzige was fortschreitet, ist die Degeneration des Menschen.“
taz: Das ist eine sehr populäre Sichtweise.
Fichtner: Es gibt einen Menschheits-Selbsthass bei manchen Leuten. Die hassen sich selbst und ihre Spezies.
taz: Viele denken, wir seien zu viele für die Erde.
Fichtner: Wir seien zu viele für die Erde. Und zu dumm, zu brutal, zu achtlos, alles Mögliche. Wir sind das einzige, was stört. Das ist vielleicht die gefährlichste Idee.
taz: Manchmal heißt es gar, der Mensch sei wie ein Virus für die Welt.
Fichtner: Der Gedanke hat eindeutig diktatorische Potenz. Wenn der Mensch falsch ist, dann muss man ihn ändern, weil man andernfalls riskiert, die Erde, die Welt zu verlieren. Gegen diese Idee muss man sich wehren. Sie steckt in den christlich unterfütterten Schulddebatten drin. Es wird Mord und Totschlag geben, wenn wir die Leute zwingen wollten in eine vorindustrielle Zeit zurück zu kehren. Das ist völlig illusorisch. Aber es gibt ja auch die andere Hälfte der Leute, die ist von meinen Kolumnen total begeistert und glücklich und fühlt sich abgeholt. Die ist dankbar, dass nicht alles nur so schwarzgepinselt wird.
taz: Nehmen Sie denen nicht das Gefühl für die objektive Dramatik der Lage?
Fichtner: Ich habe nie geschrieben, dass alles gut wird. Sondern, dass alles nicht so schlimm ist, wie es aussieht. Der Gedanke, dass alles gut wird, liegt mir fern. Solche Tendenzen gibt es ja bei der FDP. Da wird gesagt: „Die Erfinder werden uns schon retten.“ Ich frage mich eher nach der Alternative zur Zuversicht. Ganz im Ernst: Was soll das denn sein? Wie steht jemand auf, der davon ausgeht, dass die Welt untergeht?
taz: „Solidarische Vorbereitung auf den Kollaps“, das ist gerade sehr en vogue. Und keine Kinder mehr zu bekommen. Eine andere Antwort ist der radikale Konsumverzicht.
Fichtner: Es gibt in Deutschland einen starken protestantischen, pietistischen Zug, eine Kultur, bei der die Leute die Schuld bei sich suchen. Im Protestantismus gibt es keine Vergebung. Man ist immer immer in der Bringschuld. Man kann das Himmelreich höchstens durch totalen Verzicht und Selbstbeschneidung gewinnen. Das verlegt dann gern große und sehr komplexe Probleme in den Beritt des Einzelnen: Wenn sich nur alle korrekt verhalten, dann wird es schon wieder gut.
taz: Im Kleinen zu versuchen, sich gut zu verhalten, kann vor Überforderung und Verzweiflung schützen, sagen Psycholog:innen.
Fichtner: Wir stehen ja beim Klima vor dem wahrscheinlich kompliziertesten Problem, das wir je als Menschen hatten. Und weil das so ist, löst der Mensch dann gern ein einfaches anderes Problem. In meiner Straße gibt es Läden, die Schwämme, ungebleichte Stoffe, Zahnbürsten aus Holz und so weiter verkaufen. Die Leute wollen etwas Gutes, etwas beitragen. Sie sind sich bewusst, dass es ein Problem gibt, und sie würden gerne mithelfen. Sie versuchen im Kleinen, in Ihrem Alltag Dinge zu ändern, weniger Fleisch zu essen. Das ist ja begrüßenswert und lobenswert. Aber leider wissen wir, dass es in seinen Effekten sehr begrenzt ist. Dann müsste man den Leuten gleich wieder den Mut nehmen, dass damit irgendwas besser wird. Das sorgt natürlich für eine wahnsinnige Wut: ‚Ich versuche doch hier alles. Und jetzt wird mir gesagt, es bringt doch alles nichts.‘
taz: Viele glauben, dass das Kleine uns eher rettet als das Große, wie die Weltklimakonferenzen, die COPs, die gemeinhin als Reinfall gelten. Sie verteidigen die COPs. Warum?
Fichtner: Es gibt die Gruppe der Staaten, die jahrzehntelang von der Erdölförderung gelebt haben. Das ist die Basis ihrer Existenz. Die müssen jetzt innerhalb von Jahrzehnten davon weg und haben es da ein bisschen schwieriger als wir. Dass sie gut gelaunt und fröhlich daran arbeiten, die Welt zu retten, kann man sich kaum vorstellen. Sie müssen sich komplett verabschieden von ihrem ehemaligen Leben. Deswegen sind solche Verhandlungen so wahnsinnig schwierig. Die Medien machen daraus einen hollywoodesken Plot, mit den Bösen und den Guten.
taz: Ist es nicht böse, wenn solche Konferenzen von Öl-Managern geleitet werden, die sie missbrauchen, um nebenher noch Fossil-Deals abzuschließen, wie 2023 in Dubai?
Fichtner: Es gehört dazu, dass solche Konferenzen in Ölstaaten stattfinden, weil das auch Vertragsstaaten sind und sogar die, auf die es mit am meisten ankommt. Multilaterale Verhandlungen wie die Klimakonferenzen sind der richtige Weg. Sie werden immer als Zirkus beschrieben. Aber sie sind der Rahmen für das Durchwurschteln. Und es gibt ja immerzu neue Regelungen, die dann zu greifbaren Fortschritten führen. Vor zwei Jahren kamen das Abkommen zum Schutz der Meere und zum Schutz der Artenvielfalt hinzu. Die Länder unterschreiben das nicht einfach so. Die allermeisten fühlen sich dann schon gebunden und wollen zu diesen Prozessen beitragen. Wir haben wahrscheinlich eine Struktur geschaffen, mit der sich arbeiten lässt, wo Ideen ausgetauscht werden, wo die Politik sich praktisch messen muss, wie es weitergeht. Mehr würde ich gar nicht sagen. Das ist nicht effektiv im Sinne einer Maschine, die irgendwie schnell eine Lösung herstellt. Aber es ist eben auf lange Sicht wahrscheinlich doch sehr effizient, was den Umbau der Welt angeht.
taz: Bei den Ideen, wie die Welt umgebaut werden sollte, gab es eine erstaunliche Umkehr: Früher setzte oft die Linke auf moderne Technik, die Konservativen waren dagegen. Heute will die Linke bewahren, die Konservativen setzen auf Technik, die es noch gar nicht gibt. Warum?
Fichtner: Ohne Technik wird es jedenfalls nicht gehen. Es gibt da ermutigende und weniger ermutigende Dinge. Ermutigend ist natürlich die Stromerzeugung. Wir haben in den letzten zehn Jahren erlebt, dass Sonne und Wind so billig werden, dass man nicht billiger Strom produzieren kann. Diese Technologien setzen sich deshalb gerade durch. Das sind Umwälzungen, die nicht honoriert werden. Die werden so hingenommen. Aber es sind Revolutionen von sehr großer Tragweite. Wir können uns alles gar nicht vorstellen, was da draußen passiert gerade. Aber es passiert. Das stört viele umweltbewegte Menschen, denn es ist eine Entwicklung aus dem kapitalistischen Lehrbuch. Weil es billiger wird, wird es eingesetzt, so kommt eben die Energiewende sehr schnell voran, schneller, jemals jemand gedacht hätte. Die Konservativen sehen sich dann darin bestätigt, dass die Märkte funktionieren. Für sie ist das die unsichtbare Hand des Marktes, die dafür sorgt, dass die Welt grüner wird.
taz: Tut sie das denn? Bis jetzt ist es ja noch nicht gelungen, die absoluten Emissionen zu senken.
Fichtner: Die EU hat nun die CO2-Bepreisung festgelegt. Ab 2025/26 soll die Tonne CO2 womöglich 300 € kosten. Das hat unglaubliche Effekte und es schafft Innovationsdruck. Das ist simpler Kapitalismus, der sich immer wieder als recht mächtig erweist. Bei der Energieerzeugung wird es so weitergehen, da sind noch viele Sachen in der Pipeline. An der Stelle bin ich optimistisch, dass sich da sehr viel tun wird. Wir werden das Energieproblem wahrscheinlich lösen können oder haben es schon gelöst. Jetzt geht es darum, das entsprechend aufzubauen. Es gibt aber auch Technologien, die mir immer noch illusorisch vorkommen, wie grünes Flugbenzin oder CO2-Absaugung. Wir stehen vor der Herausforderung diese Gesamtlage zu beurteilen. Und immer wenn es besonders komplex wird, stehen wir als Journalisten vor dem Problem der Darstellung. Solche komplexen Gemengelage sind Gift fürs Klicken. Problematisierung führt nicht zu kernigen Schlagzeilen und wird nicht gern gelesen.
taz: Viele sagen, der Optimismus von heute ignoriere die Folgewirkungen der Erderwärmung, die sich noch gar nicht in Gänze zeigen. Wie lassen sich ‚große Chancen‘ versprechen, wenn große Katastrophen künftig zwar sicher, heute aber noch nicht wirklich spürbar sind?
Fichtner: Nehmen wir die Sorge, dass ein Atomkrieg die Menschheit auslöscht. Dann können wir alle einpacken, dann ist nichts mehr zu sagen. Davon kann ich nicht ausgehen, wenn ich als Mensch weiterleben will. Wenn die prägende Idee unserer Zukunft ist, dass durch die Klima-Kipppunkte alles den Bach runtergeht, dann können wir darauf ja nur noch warten. Aber ich weiß es nicht und es weiß ja niemand. Und solange mache ich halt weiter und suche nach sinnvollen Dingen. Vaclav Havel sagt, Hoffnung sei nicht die Gewissheit, dass es gut wird, sondern nur die Sicherheit, dass etwas Sinn hat. Das ist vermutlich die menschliche Conditio, zu allen Zeiten und in allen Momenten. Weil wir uns sowieso ständig mit Weltuntergangsszenarien herumschlagen, müssen wir eben auch mit der jetzt aktuellsten und vielleicht wichtigsten, nämlich womöglich katastrophalen Erderwärmung genauso umgehen wie mit allen vorher. Letztlich sind wir dazu verurteilt, weiterzuleben. Und wenn wir das nicht wollen, dann gibt es nur ein philosophisches Problem, und das ist der Selbstmord.
taz: Sie sagten, wer beginne, auf das Positive zu schauen, dessen Weltbild „steht Kopf“. Die Norm ist also ein pessimistischer Blick. Warum?
Fichtner: Da bin ich mir nicht so sicher. Es gibt das Paradox, dass viele Leute sagen: Mir geht es gut, aber der Welt geht es wahnsinnig schlecht. Das passt ja auch irgendwie nicht zusammen. Es ist eine alte menschliche Schwäche, immer das Schlimmste für die Zukunft zu befürchten und die Vergangenheit zu verklären. Das ist vielleicht kein deutscher Sonderweg, aber es gibt eine besonders ausgeprägte Angst, die deutsch ist. Unsere Kriegserfahrungen haben ein paar langfristige, spezifische deutsche Phänomene hervorgebracht.
taz: Welche denn?
Fichtner: Der Philosoph Hans Jonas plädierte um 1970 für das „Prinzip Verantwortung“: Man muss immer mit dem Schlimmsten rechnen, damit man verantwortungsvolle Politik betreibt und sich vorbereitet. Wer erwarte, dass es gut wird, werde unvorsichtig. Ich muss davon ausgehen, dass alles den Bach runtergeht. Der Gedanke ist sehr mächtig und hat auch eine gewisse Logik. Aber ihm mangelt es an jeder Vision, jedem positiven Antrieb. Das ist nicht das Prinzip Hoffnung, sondern das Gegenteil: Keine Zuversicht. Und wenn die Probleme dann so groß scheinen wie heute, dann ist es überfordernd und man hat irgendwann auch keine Lust mehr, sich mit ihnen zu beschäftigen. Ich glaube, dass die Leute sich gerade eher wieder verabschieden von dem Thema Erderwärmung und nicht mehr so genau hingucken wollen.
taz: Darin steckt doch aber keine gedankliche Schwierigkeit, sich auf mögliches Schlimmes vorzubereiten und gleichzeitig eine visionäre Zukunftsgestaltung zu verfolgen. Die grüne Transformation ist doch das beste Beispiel dafür, dass sich das nicht ausschließt.
Fichtner: Das stimmt schon, aber wenn ich immer nur höre, ich müsse mich auf das Schlimmste vorbereiten, dann führt das zu einer negativen Wahrnehmungsverzerrung. Das zeigt auch ein Konflikt in der ökologischen Bewegung: Wer sagt, wir müssen uns praktisch vorbereiten, der gilt als Verräter am Kampf gegen die Ursachen. Das hat dazu geführt, dass wir jetzt teilweise sehr schlecht etwa auf Hochwasser oder Waldbrände vorbereitet sind. Da gefällt mir eine Idee von unserem Freund, dem Apokalypseforscher Professor Folger aus Heidelberg. Der sagt, die Apokalypse liege nicht in der Zukunft, sondern wir erleben sie jeden Tag: Flut in Valencia, Ahrtal, große Brände in Florida. Wir leben mittendrin. Wir gehen mit ihr um und müssen mit ihr umgehen.
taz: Aber das geschieht doch: Die Zahl der Toten durch Naturkatastrophen ist im Verhältnis zur Weltbevölkerung stark gesunken – trotz der Zunahme der Extremwetter.
Fichtner: Aber wir könnten bei der Anpassung wahrscheinlich schon weiter sein. Wir unterschätzen den Menschen und seine Möglichkeiten, erfolgreich Politik zu machen. In Frankreich gibt es ein sehr vorbildliches Management, seit etwa 20 Jahren. Damals gab es extrem viel Waldbrände. Dann wurde das systematisch bearbeitet. Heute sind Waldbesitzer etwa verpflichtet, den Wald zu säubern, es gibt mehr Regeln, mehr Aufsicht und signifikant viel weniger Waldbrände. Der Mensch hat eingegriffen, mit sehr guten Folgen für alle Beteiligten. Das geht in anderen Feldern ja auch. Wenn es so wäre, dass praktisch alle Küstenstädte der Welt dem Untergang geweiht wären, dann gäbe es Holland schon lange nicht mehr. Durch den Druck, der besteht und durch die Angst, die herrscht, entwickeln wir Strategien – Technologien, bauliche Maßnahmen, Regularien – um zu verhindern, dass das alles immer schlimmer wird. Der Mensch ist offensichtlich in der Lage, Prozesse zumindest zu bremsen und einzuhegen, die ihn bedrohen. Das tut er immer wieder.
taz: Viele Menschen glauben nicht daran. Sie sehen die Gegenwart, in die sie hineingeboren sind, nicht als bisherigen Gipfel einer Entwicklung hin zu besseren Lebensbedingungen, sondern als eine Nulllinie, von der aus es bergab geht, und schnell ist dann ein nicht mehr lebenswerter Zustand erreicht, der Kindern nicht zuzumuten ist.
Fichtner: Ja. Und diese Nulllinie hat sich wirklich total verschoben. Was mich wirklich ärgert ist, wenn die Leute durch ihren negativen Blick in die Zukunft schon ihre Kinder impfen. Das ist sehr verbreitet und es ist ein wirklich schwieriger Kampf dagegen, weil es so wahnsinnig viel zu sagen gäbe. Diese Haltungen wegzuargumentieren ist fast nicht möglich. Für die Politik ist das eine große Aufgabe. Daher kommt auch der Vertrauensverlust in die Politik. Ich bin Jahrgang 1965, habe Abitur gemacht, als die No Future -Generation ein gesellschaftliches Phänomen war. Das war genau das gleiche wie, wenn ich heute von Ecological Grief lese. Damals war das ausgelöst durch die Berichte des Club of Rome. Dann ist 1986 Tschernobyl in die Luft geflogen. Da haben wir gesagt: Das ist der Beweis, es geht wirklich alles den Bach runter. Dann ist es doch anders gekommen.
taz: Was schließen Sie daraus für heute?
Fichtner: Man müsste Ideen haben, wie man den Menschen unter Verweis auf solche historischen Erfahrung diese Unruhe nimmt. Das ist etwas, wonach ich suche. Wie kann man die Leuten über Dinge hinwegtrösten, ohne die Wirklichkeit zu verraten und die Probleme der Gegenwart zu verniedlichen? Wie kann man ihnen sagen: Ja, es ist alles so. Aber bislang hat die Menschheit trotz aller unglaublichen Rückschläge und Katastrophen immer wieder bewiesen, dass sie weitergeht und dass sie sich erfolgreich durchwurschteln kann. Darum geht es, glaube ich. Es geht nicht darum, die großen Lösungen zu finden oder alles richtig zu machen. Es geht um ein Lob des Durchwurschtelns.
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