Spazieren auf Autorinnen-Spuren: Wer Männer kennt, schreibt Horror
Mary Shelley höchstselbst, die Mutter der fantastischen Literatur, führt durch einen Hamburger Park. Zu hören gibt es schaurige Texte nur von Frauen.
D er Treffpunkt ist vielversprechend: Los geht es am „Rabenstein“, so heißt eine Bushaltestelle gleich beim alten Haupteingang des Hamburg-Harburger Stadtparks. Die Ortsbezeichnung – eine Anhöhe, auf der der örtliche SC Tennis und Fußball spielen lässt – hat mit dem so gerne zum Unglücksboten gemachten Vogel wohl nichts zu tun, ein älterer Name ist „Grapenstein“.
Aber das erinnert, rein klanglich, nun erst recht an den Anlass für das kleine Grüppchen, sich hier eingefunden zu haben an einem gar nicht mal so lauen Sommerabend: das Monster, das Victor Frankenstein schuf.
Genau genommen geht es um die Frau, die diese beiden schuf (und gleich mehrere Unterabteilungen der fantastischen Literatur obendrein): „Mary und die anderen“ haben Nisan Arikan und Lars Henriks ihren diesjährigen „Theaterspaziergang“ überschrieben, gewidmet der Autorin Mary Shelley (1797–1851).
„Theaterspaziergang“ heißt hier: Geführt von Arikan in der Rolle der einflussreichen Gastgeberin geht es fast zwei Stunden lang durch den hügeligen, manchmal fast wie ein echter Wald wirkenden Park. Immer wieder treffen wir auf weitere, ebenfalls geschaugespielte Autorinnen, die eigene Texte vortragen – Texte zum Gruseln. „Wer für Jane Austen gekommen ist“, sagt Shelley/Arikan zu Beginn, „ist hier falsch.“
Von Männern unabhängig
Erst mal spricht sie aber über ihre Mutter, Mary Wollstonecraft: „Eine bedeutende feministische Denkerin des 18. Jahrhunderts. Hat Thesen geschrieben, die bis heute radikal sind“, etwa die Forderung, sich wirtschaftlich unabhängig zu machen von Männern und das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Einer der wenigen Berufe indes, der Frauen dann offengestanden habe: Autorin.
Dann erfahren wir etwas über den Einfluss des deutschen Märchens auf die gothic novel und damit das schauerliche Schreiben insgesamt. Auch, wie die Texte lange mündlich überliefert wurden, von Frau zu Frau, von Frau zu Mädchen, und wie die Brüder Grimm den angeblich ehernen Stoffen ihren ideologischen Stempel aufdrückten.
Ann Radcliffe lernen wir kennen und Elizabeth Gaskell, vor der Charles Dickens Respekt bekundete (aber auch ein wenig Angst); die schreibende Maverick-Ägyptologin Amelia Edwards („Indiana Jones war real – und er war eine Frau!“) und Violet Paget alias Vernon Lee: Das maximal männliche Pseudonym wählte sie, klar, um ernster genommen zu werden. Später hat Daphne du Maurier noch einen Auftritt, und mit Shirley Jacksons „Die Lotterie“ sind wir in der Mitte des 20. Jahrhunderts angekommen.
hat die Macher:innen des schauerlichen Rundgangs ereilt: In ihr noch in Gründung befindliches „Miskatonic“-Theater wurde vergangene Woche eingebrochen. Den Schaden beziffern Nisan Arikan und Lars Henriks auf rund 15.000 Euro, nun soll es ein Crowdfunding richten.
Ängstliche Männer würden so einem Rundgang eine Agenda unterstellen, und sie lägen, wie kaputte Uhren, sogar mal richtig: Was sich durch die vorgestellten Lebensläufe zieht, durch die unterschiedlichen Strategien dieser Frauen, an zeitgenössischen Widerständen vorbei zu schreiben, zu publizieren, ja: einfach etwas mehr so zu leben, wie sie das wollten, welche Rolle da immer wieder der Ausfallschritt in die Fantastik spielte: Doch, da gibt es ein Anliegen. Hier soll etwas herausgearbeitet, belegt, unterstrichen werden, was sehr lange unterbelichtet blieb.
Die Geschichte jener sturmumtosten Nacht am Genfer See selbst, in der Mary Shelley den „Frankenstein“ ersann, haben Arikan und Henriks richtig inszeniert: „Mary Shelleys Monster“ heißt die Adaption, die nun ein paar Mal auf der Harburger Freilichtbühne zu sehen war.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Überraschend musicalhaft nähern sie sich dem Gruselgeschichtenwettbewerb im „Jahr ohne Sommer“ 1816, bei dem eben nicht die Alpha-Romantiker Percy Bysshe Shelley und Lord Byron bleibende Texte herauswürgten, sondern der Arzt und Drogenbereitsteller John Polidori. Und Mary Shelley. Natürlich gibt es auch deren zentrale Schöpfung als gerafftes Stück im Stück.
Demnächst eröffnen Arikan und Henriks das – so sagen sie selbst – einzige Horrortheater der Welt, das „Miskatonic“. Als Erstes adaptieren sie im September den Text eines Mannes: „Der Ruf des Cthulhu“ von HP Lovecraft. „Das haben sich“, sagt Shelley/Arikan spöttisch, „die Jungs ausgedacht.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Frauenfeindlichkeit
Vor dem Familiengericht sind nicht alle gleich