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Sparpolitik in HamburgZentrum für Disability Studies wird geschlossen

Mit der Erforschung von Behindertenrechten war Hamburg vor 20 Jahren Vorreiter. Jetzt hat die Stadt kein Geld mehr dafür. 150 Forschende protestieren.

Es geht schon lange um die Frage, wie Inklusion gelingt: Hier eine Demo von Tausenden Menschen mit Behinderung 2016 in Hannover Foto: Holger Hollermann/dpa

Hamburg taz | Es wird ernst für das kleine Institut. Die Mitarbeitenden erhielten ihre Kündigung zum Jahresende. Die Professur ist schon ab Oktober nicht mehr finanziert. 20 Jahre lang gab es in Hamburg das „Zentrum für Disability Studies“ (Zedis), nun steht es kurz vor der Schließung. Darauf macht der „Verein für Disability Studies Deutschland“ (DSD) in einer Pressemitteilung aufmerksam und berichtet, dass es internationalen Protest mit mehr als 150 Unterzeichnenden aus der Wissenschaft dagegen gibt.

Das Zentrum wurde 2005 an der Uni Hamburg gegründet und wechselte 2014 unter dem Namen „Zentrum für Disability Studies und Teilhabeforschung“ (Zedisplus) an die Evangelische Hochschule des Rauhen Hauses. „Die Stiftung Rauhes Haus und die Mitarbeitenden der Hochschule bedauern, dass das ­Zedisplus nicht fortgeführt werden kann“, sagt der dortige Vorstand Andreas Theurich. Man habe lange mit der Behörde und weiteren Gesprächspartnern nach Lösungen für die Weiterfinanzierung gesucht. „Dabei hat sich jedoch keine Perspektive aufgetan.“

Disability Studies sei eine kritisch-emanzipatorische Wissenschaftsdisziplin, erläutert Siegfried Saerberg aus dem Vorstand der DSD-Vereinigung. „Wir forschen aus der Perspektive der behinderten Menschen, was für Vorurteile es gibt und wie Diskriminierung abgebaut werden kann.“ Das Fach sei „keine Luxuswissenschaft, sondern ein menschenrechtsbasierter, gesamtgesellschaftlicher Auftrag“, ergänzt sein Vorstandskollege Berthold Scharf. Es sei paradox, dass diese Institutionen geschlossen werden, wo doch die UN-Behindertenrechtskonvention Inklusion und Partizipation vorschreibe.

Bestünde ernsthaft die Absicht, das Zedisplus weiterzuführen, würde man direkt darüber reden

Siegfried Saerberg, Verein für Disability Studies Deutschland

Der drohenden Schließung war die Linken-Abgeordnete Sabine Ritter mit einer Anfrage schon im Juni auf der Spur. Ihr war aufgefallen, dass das „Zedisplus“, anders als vor fünf Jahren, im neuen rot-grünen Koalitionsvertrag keine Erwähnung findet. Der Senat antwortete, Disability Studies leisteten einen wichtigen Beitrag. Es werde aber derzeit eine neue Organisationseinheit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft (HAW) entwickelt, die zwei konzeptionelle Bausteine unter einem Dach vereine.

Das zweite Projekt heißt „Bildungsfachkräfte“ und wird vom europäischen Sozialfonds finanziert. Bei diesem Projekt, so heißt es in einer früheren Drucksache der Wissenschaftsbehörde, „werden Menschen, die als kognitiv beeinträchtigt gelten und bisher in einer Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet haben, drei Jahre qualifiziert“. Im Anschluss sollen sie sozialversichert beschäftigt als Experten in eigner Sache Studierenden und anderen die „Lebenswelten, spezifischen Bedarfe und Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung vermitteln“. Die Überlegungen zur künftigen Finanzierung des „Zedis­plus“, so der Senat beschwichtigend im Juni, seien „noch nicht abgeschlossen“.

Grundlegende Fragen aufgeworfen

Sabine Ritter hakte im Juli noch einmal per Anfrage nach, denn die Senatsantwort werfe grundlegende Fragen auf: Der Hamburger Senat plane hier die Zusammenlegung einer „nicht akademischen Qualifizierungsmaßnahme für Menschen mit Lernschwierigkeiten“ mit einer interdisziplinären Forschungsrichtung. So nivelliere man unter der Kategorie Behinderung zwei völlig unterschiedliche Formate.

In der neuen Antwort ließ der Senat dann die Katze aus dem Sack und erklärte, dass das Zedisplus als eigenständiges Zentrum „über das Jahr 2025 nicht fortgeführt wird“. Das neue Konzept des gemeinsamen Dachs unter der HAW biete die Chance, „beide Bereiche strukturell und inhaltlich zu stärken“. Die Akteure des Zedisplus, so versprach die Regierung, würden aktiv in die Entwicklung der neuen Organisation eingebunden.

„Wir befürchten, das ist eine Luftnummer. Wir wissen nicht, was wann geschehen soll“, sagt indes Saerberg vom DSD. Den Mitarbeitenden sei von Vertretern der Regierung gesagt worden, sie könnten sich ja für das neue Zentrum bewerben. „Das ist schlimmer als eine feindliche Übernahme“, sagt Saerberg. „Bestünde ernsthaft die Absicht, das Zedisplus dort weiterzuführen, würde man direkt darüber reden. Zudem befürchten wir, dass hier das mit den ‚Bildungsfachkräften‘ und den ‚Disability Studies‘ zwei Projekte gegeneinander ausgespielt werden“, sagt der Soziologe.

Doch Rot-Grün scheint überzeugt. Die Wissenschaftsbehörde beteuert auf taz-Anfrage, die Disability Studies spielten weiter eine wichtige Rolle, sollten aber „stärker in die bestehenden hochschulischen Strukturen der HAW Hamburg eingebunden werden“, und zwar „gemeinsam mit allen relevanten Akteurinnen und Akteuren“.

Einbettung in größeren Kontext

Diese Einbettung in einen größeren Kontext biete „die Chance, Strukturen neu zu denken und langfristig zu stärken“, heißt es auch aus der Grünen-Fraktion. „Disability Studies bleiben weiter ein Teil von Lehre und Forschung an der Evangelischen Hochschule und anderen Hamburger Hochschulen“, verspricht SPD-Wissenschaftspolitikerin Philine Sturzenbecher.

Die Wissenschaftspolitikerin Sabine Ritter fürchtet indes einen herben Verlust von „Expertise, Netzwerken und innovativen Forschungs- und Lehransätzen“. Es dürfe nicht sein, dass das Zedis „sang- und klanglos von der Bildfläche verschwindet“. Das sieht auch der DSD so, der parallel auch noch um das zweite der drei existierenden Forschungszentren in Deutschland an der Uni Köln bangt. „Wir sind beeindruckt von der Unterstützung aus der Wissenschaft“, sagt Saerberg. „Und wir sammeln weitere Unterschriften für unseren Appell.“

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