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Sparmaßnahmen im Zuge der EnergiekriseHeizt du schon?

Jüngst bestimmte Corona die öffentliche Debatte. Nun ist es die Angst vor Kälte. Die Mittelschicht identifiziert sich mit den Nöten der Armen.

Noch brennt ein Licht Foto: Julian Stratenschulte/dpa

M it Neoprenanzug im Schwimmbad. Das klingt schräg, weil das Wellenbad am Berliner Spreewaldplatz nicht die französische Atlantikküste ist und man im Hallenbad nicht surft, sondern Brust schwimmt. Aber die Schwimmbecken in Berlin werden mittlerweile heruntergekühlt und das Tragen von Neopren ist deshalb gestattet.

Gespart wird seit Anfang September auf Basis der Energiesparverordnung auch bei Außenbeleuchtungen, in öffentlichen Gebäuden oder Bürogebäuden, wo weniger geheizt wird. Universitäten kühlen ebenso runter, und manche erwägen laut Spiegel („Droht ein Energie-Shutdown an den Hochschulen?“), die Weihnachtsferien zu verlängern.

Zwar versicherten Berliner Hochschulen, dass sie auch im Winter am Präsenzbetrieb festhalten wollten. Weil ein einziger Autokrat offenbar ähnlich große Macht hat wie eine tödliche Pandemie, lassen sich neue Lockdowns aber nicht ausschließen: Was passiert, wenn runterkühlen nicht mehr reicht? Der Smalltalk der Armen wird so zum Smalltalk der Mittelschicht, „Heizt du schon?“ wird zum neuen „Bist du schon geimpft?“.

Der September fühlt sich an wie ein Februar mit 90 Tagen. Arme Menschen werden ärmer und neue arme Menschen kommen dazu: mehr als 2 Millionen nutzen mittlerweile das Angebot der Tafel, heißt es in einer Meldung, die am gleichen Tag herumgereicht wird wie „DAX-Manager mit fast 25 Prozent Lohnplus“. Zu dieser dunklen Gleichzeitigkeit mischt sich die Angst vor echter Dunkelheit: Seit Tagen erscheinen Artikel und Interviews zum Thema Blackout, einem längeren, großflächigen Stromausfall, der bei einer Überlastung des Stromnetzes eintreten könnte.

Auch wenn Städte wie Berlin oder Potsdam Vorbereitungen treffen, gilt das Szenario als unwahrscheinlich. Weil Rechtsextreme aber niemals genug Weltuntergangsstimmung bekommen können, schüren sie über ihre Kanäle längst Panik. Feuchte Prepperträume mischen sich unter vernünftige Erwägungen.

Noch vor wenigen Monaten bestimmte ein Virus (immer noch anwesend) die öffentliche Debatte, heute ist es die Angst vor Kälte und Dunkelheit. Aber hey, in allem Schlechten steckt bekanntlich auch etwas Gutes: Endlich kann sich die Mittelschicht mit den armen Schluckern identifizieren, die schon vor dem 24. Februar viele Winter das Frieren gefürchtet haben.

Um es dialektisch zu sagen: Während die Reichsten Ausschau nach anderen Planeten halten, rückt der Rest auf der Erde zusammen – nicht nur physisch, weil es dann wärmer ist, sondern auch im übertragenen Sinne.

Ein Anzeichen dafür findet man im Business Insider: Das Wirtschaftsmagazin, das gern Hinweise zu ETFs, Aktien und anderen Möglichkeiten der passiven Geldvermehrung liefert, veröffentlichte jetzt die zehn besten Spartipps der 80-jährigen schwäbischen Oma Gerti („Sparen ist schon fast ihr Hobby!“). Tipp 3 lautet: „Frühstückskaffee für nachmittags aufheben“.

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Volkan Agar
Redakteur taz2
Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.
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3 Kommentare

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  • 9G
    93851 (Profil gelöscht)

    Was ist "heizen", ein 'Fremdwort'?

    Auf Deutsch: youtu.be/h3eRSD13bkE

  • Etwas Besseres als Weltuntergangsstimmung verbreitet diese Kolumne aber auch nicht... Ein bisschen wie die im Text erwähnten Rechtsextremen, aber immerhin "postproletarisch".

    • @Totti:

      "Endlich kann sich die Mittelschicht mit den armen Schluckern identifizieren, die schon vor dem 24. Februar viele Winter das Frieren gefürchtet haben."

      Na ja, da lese ich den Text schon anders. Auf eine "Weltuntergangsstimmung" will der Autor ja nicht hinaus. In dem Sinne, dass er sie als Gegenstand des Textes als solche thematisieren will. Er bezieht sich vielmehr auf solche Simmungen auch, wenn er sie im Zusammenhang mit anderen Themen "zitiert". Z. B. wenn es um die Rechten unter den Preppern geht. (Oder sind die alle rechts?. Weiß nicht.)

      Ich begrüße es sehr, dass Volkan Agar hier die Thematik behandelt: "Die Mittelschicht identifiziert sich mit den Nöten der Armen." Das behandelt er in meiner Lesart erst mal als Frage. Und enthält sich einer eindeutigen Antwort. Richtig. Denn:



      Ich meine auch, dass verursacht durch die gegnwärtigen gesell. Problemlagen, Erfahrungen in die Mittelschicht "eindringen", die bis dahin den armen Schichten "vorbehalten" blieben.

      Ein gesellschaftlich und sozialpoltisch ganz wichtig zu beobachtender und zu analysierender Vorgang. Wenn es sich so verhält, was lässt sich folgend beobachten?

      Führt der viel mehr Menschen umfassende Zwang zum Sparen zu mehr Bereitschaft für eine Solidarität?



      Denn plötzlich stehen wie in der Corona-Pandemie viel mehr Menschen vor der Situation der Knappheit oder schon der Mittelllosigkeit in Bezug auf Grundbedürfnisse wie Wärme, Ernährung und anderes mehr.