Spanien ist Europameister: All hail to the Reyes de Europa
Spanien ist unumstrittener Thronfolger des letzten Europameisters Italien. Das ist eine sehr besondere Nachricht.
Als Nico Williams zur letzten Pressekonferenz dieses Turniers kam, hatte er seine Trikotnummer getauscht. Auf dem Rücken trug er nun die Vier, die für die Anzahl der EM-Titel steht, die Spanien jetzt bislang gewonnen hat. So viele wie keine andere Nation (Deutschland steht bekanntlich bei drei Titeln). Und drüber stand „Reyes de Europa“: „Könige Europas“.
Im spanischen Fußball hat man jenseits von Real Madrid ein Faible für königliche Gefühle und lebte sie auch im Berliner Olympiastadion in Gegenwart des spanischen Königs Felipe VI. ungeniert aus. Aber dass das spanische Nationalteam zu so einem unumstrittenen Thronnachfolger des letzten Europameisters Italien werden sollte, ist innerhalb dieses eher überraschungsarmen Turniers eine sehr besondere Nachricht. Vor dem Eröffnungsspiel zählten die Experten das Team eher zum erweiterten Favoritenkreis.
„Beste Mannschaft im Turnier“ und „verdienter Sieger im Finale“, räumte Englands Trainer Gareth Southgate ohne Umschweife ein, auch wenn der entscheidende Treffer zum 2:1 durch Mikel Oyarzabal erst in der 86. Minute fiel. Ihr Meisterstück fertigten die Südeuropäer in der zweiten Hälfte dieses Finales. Denn in der ersten Halbzeit schien dieses hochgelobte Ensemble völlig entzaubert zu sein. Nicht einen Schuss auf das englische Tor hatten die Offensivkünstler, die in allen Spielen zuvor immer irgendeine Lücke gefunden hatten, abgegeben. Es waren die unansehnlichsten spanischen Fußballminuten dieser EM.
Was aber viel schwerer wog, war der Verlust von Rodri, der sich kurz vor der Pause bei einer Rettungsaktion verletzte. Seine Bedeutung für das spanische Spiel wurde von Trainer Luis de la Fuente in den letzten Wochen in so unermesslichen Höhen veranschlagt, dass in diesem Moment selbst der neutrale Beobachter Mitleid bekommen musste.
Ballon d'Or
Rodri, der von der Uefa zum besten Spieler dieser Europameisterschaft gekürt wurde und den de la Fuente an diesem Abend am liebsten umgehend auch zu Europas Fußballer des Jahres gekürt hätte („Ich möchte den Ballon d’Or für ihn“), wird vom Trainer als Regulativ geschätzt. Als einer, der den mitunter jugendlichen Überschwang von Williams und Lamine Yamal, der mit dieser EM berühmt gewordenen Flügelzange, im richtigen Moment einzubremsen versteht.
Genau deren Unbekümmertheit und juvenile Kraft brachte Spanien unterdessen wieder zu ihrem etwas verloren gegangenen Selbstverständnis zurück. Die zweite Halbzeit war keine zwei Minuten alt, da nahm der gerade 17 Jahre alt gewordene Yamal den Ball mit Tempo ins gegnerische Drittel mit, bediente Williams, der mit seinem schwächeren linken Fuß die Führung erzielte. Von da an schien der Knoten geplatzt, die spanischen Chancen häuften sich. Und selbst der etwas überraschende englische Ausgleichstreffer durch Cole Palmer (73.) sorgte nur kurzzeitig für Irritationen. Die Spanier behielten die Initiative und wurden dafür spät belohnt.
Wie schon im Viertelfinale gegen Deutschland Pedri problemlos ersetzt wurde, gelang dies im Finale gar im Fall des vermeintlich unersetzlichen Rodri. Martin Zubimendi, der für Rodri kam, habe eine „sensationelle zweite Halbzeit“ gespielt, lobte de la Fuente. Er habe eine Frische mit hereingebracht. Dass sein Team insgesamt frischer in der zweiten Halbzeit wirkte, sei vielleicht der größte Unterschied gewesen. Das Team in seiner ganzen Breite funktionierte an diesem Abend als Selbstregulativ. „In Momenten, als England eigentlich sehr gut gespielt hat, haben meine Spieler ihre Aufgaben sehr gut interpretiert. Sie wussten, wie sie Lösungen implementieren konnten“, schwärmte ihr Coach.
Der 63-Jährige hat in den vergangenen viereinhalb Wochen ohnehin die größten Elogen auf sein Team gehalten. Wenige vermögen es, so viele Superlative in einem Satz unterzubringen wie er. Europameisterschaft hin oder her, de la Fuente bilanzierte am Sonntagabend: „Ich denke, ich habe die besten 26 Spieler der Welt. Es sei eine Generation von Spielern, die „eine tolle Zukunft vor sich haben und Geschichte schreiben können.“
Der Coach wies ein weiteres Mal auf sein tiefes Insiderwissen hin, das ihn begünstige, Prognosen zu treffen. Als früherer Juniorennationaltrainer hat er den Weg vieler Spieler schon seit Langem begleitet.
Für Außenstehende ist der Abstand, den Spanien bei dieser Europameisterschaft zur Konkurrenz markierte, jedoch überraschend. Zwar fühlten sich etliche deutsche Fans im Berliner Olympiastadion wohl als heimlicher Europameister, weil es einzig der DFB-Elf gelang, den Spaniern in einer Partie Paroli zu bieten. Sie hatten es Marc Cucurella immer noch nicht verziehen, dass er sich von Jamal Musiala im Strafraum hatte anschießen lassen. Elfmeterwürdig, wie sie glaubten, weshalb sie ihn wieder auspfiffen.
Nicht ein Spiel
Die Konstanz der Spanier in diesem Turnier ist indes verblüffend gewesen. Nicht ein Spiel haben sie verloren. Mit den Qualitäten und der Geschwindigkeit von Nico Williams und Lamine Yamal, der zum besten jüngsten Spieler der EM gewählt wurde, haben sie ihren Ballbesitzfußball um eine neue Facette bereichert, auf die ihre Gegner bislang keine Antwort finden konnten.
Weil die Weiterentwicklung einer eigenen Fußballidee in Spanien schon seit Jahren eng und systematisch mit dem Ausbildungssystem verknüpft ist, kann man die Ausgangslage derzeit als höchst komfortabel bezeichnen. So konnten auch die spanischen Fußballerinnen vergangenes Jahr Weltmeisterinnen werden. Folgt nun bei den Männern wieder eine Ära der Dominanz wie zwischen 2008 und 2012, als das Team zwei Mal Europameister und ein Mal Weltmeister wurden?
In der Euphorie des Erfolgs hat sich schon mancher unschlagbar gefühlt. Erinnert sei an Franz Beckenbauer nach dem WM-Titel 1990. Der 22-jährige Nico Williams konnte am Sonntagabend in den Katakomben des Berliner Olympiastadions einen gewissen Tatendrang nicht verhehlen, aber formulierte es vorsichtiger: „Wir haben hier jedes Spiel gewonnen. Jetzt sind wir für die nächste Herausforderung bereit.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit