Späte Sühne: „Wo ist die Gerechtigkeit?“
Der Aktivist Israel Kaunatjike spricht im Interview über die schleppende Anerkennung des Völkermordes an den Herero durch die deutsche Kolonialmacht.
taz: Herr Kaunatjike, Ende Januar haben Hereros einen offenen Brief an Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) geschrieben. Warum ausgerechnet an ihn?
Israel Kaunatjike: Er ist der regierende Bürgermeister von Hamburg und hat die Autorität, etwas zu verändern – also eine Aufarbeitung oder Dekolonialisierung Hamburgs voranzutreiben. Denn hier ging es immer noch Orte wie die Lettow-Vorbeck-Kaserne oder die Bundeswehr-Universität, wo Namen von Verbrechern wie Lothar von Trotha oder Hermann von Wissmann geehrt werden. Das ist für uns Hereros unerträglich.
Welche Rolle spielte Hamburg im Kolonialismus?
Eine ganz große, zum Beispiel beim Transport von Schutztruppen. Die sind von Hamburg aus nach Namibia und Südwest-Afrika gebracht worden. Hamburg war auch involviert in den Sklavenhandel. In der Michaeliskirche gibt es eine Gedenktafel, mit der die Schutztruppen geehrt werden. Auch das halten wir Hereros für nicht akzeptabel.
Sie erheben im Schreiben scharfe Vorwürfe gegen bestimmte Kolonialisten wie den Hamburger Kaufmann und Reeder Adolph Woermann. Er habe „durch den Transport von Truppen, die Einrichtung von Konzentrationslagern und den Einsatz von Zwangsarbeiter_innen direkt vom Völkermord“ profitiert. Was bedeutet es für Sie, wenn sein Name heute auf einem Straßenschild steht?
Für uns sind das Namen von Verbrechern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man hier noch einen Namen wie Göring oder Hitler akzeptieren würde. Die sind verschwunden, aber die Namen von Kolonialisten, die zum Beispiel in Afrika viele Verbrechen begangen haben, sind immer noch da. Wir wollen, das man diese Orte umbenennt. Das ist für uns einfach respektlos gegenüber den Opfern in Namibia, Tansania und anderswo.
70, ist ein in Berlin lebender Herero-Aktivist. Mitglied im Bündnis „Völkermord verjährt nicht“ und Ehrenmitglied der Ovaherero Stiftung in Namibia. Er ist im namibischen Okahandja geboren, von wo aus die Hereros einst den Aufstand gegen die deutsche Besatzungsmacht organisiert haben. Er hat Namibia als 17-Jähriger verlassen und sich der Befreiungsbewegung angeschlossen. Kaunatjike kam in den 70er-Jahren nach Deutschland und war hier aktiv in der Anti-Apartheitsbewegung.
Es reicht also nicht, Straßenschilder oder koloniale Standbilder mit kritischen Anmerkungen zu versehen und zum Mahnmal umzudeuten?
Nein, für uns sind diese Namen inakzeptabel. Man kann zwar etwas ergänzen, aber es kann doch nicht sein, dass in einer Bundeskaserne, die nach einem SPD-Bundeskanzler benannt ist, Soldaten in einem Gebäude, das nach Lothar von Trotha benannt ist, ein und auslaufen. Das ist der Mann, der mit seinem Vernichtungsbefehl den Völkermord an den Herero zu verantworten hat.
Dem Völkermord vorausgegangen war der Aufstand der Herero gegen die deutsche Kolonialmacht. Wie kam es dazu?
Der Aufstand ging mit der Kolonialisierung einher; mit Landraub, Viehdiebstahl, Vergewaltigungen. Irgendwann hatten die Hereros alles verloren und sie durften nichts mehr besitzen. Dagegen haben sie sich natürlich gewehrt und im Jahr 1904 einen Widerstand organisiert, um sich aus dieser ganzen Misere zu befreien. .
Im Sommer vergangenen Jahres hat ein Vertreter der Bundesregierung zum ersten Mal von einem Völkermord an den Hirtenvölkern der Herero und Nama gesprochen. Offiziell anerkannt hat die Bundesregierung aber erst einmal den türkischen Genozid an den Armeniern.
Das war für Deutschland total peinlich. Weil das Land bis heute nicht offiziell den eigenen Völkermord anerkannt hat. Bisher haben nur wenige Politiker das Wort Völkermord überhaupt in den Mund genommen. Die offizielle Anerkennung, auf die wir bestehen, steht noch aus. Dazu kommen Reparationsforderungen. Ohne eine Entschädigung ist es für uns inakzeptabel.
Für was sollten sich die Deutschen entschuldigen?
Für das, was nach dem Vernichtungsbefehl von Lothar von Trotha 1904 geschehen ist: Für den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts, in dem alle Hereros umgebracht oder vernichtet werden sollten. Damals sind die Hereros in die Wüste getrieben worden. Dabei sind 80 Prozent von ihnen umgekommen – und 60 Prozent von den Namas.
In der Wüste verdursteten die meisten.
Die meisten, viele sind aber auch in Konzentrationslagern umgekommen. Es gibt auch die makabere Geschichte, dass die Schädel geköpfter Menschen nach Deutschland transportiert wurden. Die wurden dann für pseudowissenschaftliche Zwecke genutzt, um zu messen, wie intelligent schwarze Menschen sind. So sind die Rassengesetze auch entstanden. Einer dieser Verbrecher war auch der Mediziner Joseph Mengele, einer der übelsten Verbrecher des Nazi-Regimes.
Was muss heute passieren?
Es muss eine offizielle Entschuldigung und Reparationen geben. So wie es jetzt die namibische Regierung fordert. Die erwägt, die Bundesregierung zu verklagen und will weiße Landbesitzer verstärkt enteignen. Wichtig ist aber, dass es eine direkte Beteiligung der Herero und Nama gibt. Die Betroffenen sollten selbst mit der Bundesregierung über die Reparationen verhandeln.
Wenn es sich doch um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt, sollte davon heute niemand mehr profitieren dürfen. Was wäre für Sie ein gerechter Umgang mit der Geschichte?
Für uns ist das Land wichtig. Die Namas wohnen in Südnamibia, das ist die reichste Gegend, dort gibt es viele Diamanten, aber die Leute haben nichts. Genau wie die Hereros in Zentralnamibia. Wo diese Menschen gelebt haben, leben heute die deutschen Nachfahren. Man kann nicht akzeptieren, dass die Hereros und Namas heute in Armut leben. Wo ist dann die Gerechtigkeit? Die vertriebenen Hereros wollen etwa aus Botswana nach Namibia zurück. Aber wohin? Das Land ist immer noch besetzt durch Diebstahl. Das war einfach ein Landraub. Das ist eine der Forderung nach Reparation: Logistik muss bezahlt werden und das Land muss wieder in unsere Hände zurückgegeben werden.
Mit einer Klage in den USA wollen die Herero und Nama, die während der deutschen Kolonialzeit Opfer eines Genozids wurden, eine Entschädigung erreichen.
Dabei geht es selbstverständlich um eine Entschuldigung, dann aber auch um Reparationen und die Beteiligung an den Gesprächen und Verhandlungen. Die betroffenen Völker sind noch nicht am Tisch. Das sind nur zwei Regierungen, die alles diktieren. Die namibische Regierung repräsentiert uns gar nicht, das sind die Vertreter der Ovambo, die aus dem Norden kommen. Die haben nie Land verloren, die waren nicht betroffen. Die namibische Regierung sollte also nur als Mediator auftreten.
Geht es dabei vor allem um Geld?
Man redet immer nur von Geld. Es geht hier ja um Menschen, die ihr Land verloren haben und die in Armut leben. Man redet auch über Entwicklungshilfe, aber was interessiert die uns? Das ist Hilfe für deutsche Interessen. Für uns ist es wichtig, dass wir wiederbekommen, was wir verloren haben.
Deutschland hat bislang Entschädigungszahlungen an die Nachkommen der Opfer in Namibia abgelehnt und mit Namibias Regierung ausschließlich über Entwicklungshilfe gesprochen. Warum sind Reparationen, also materielle Entschädigungen wichtig?
Weil die Deutschen für das, was sie angerichtet haben, gerade stehen müssen. Es geht dabei nicht nur um Geld, sondern auch um die moralische Anerkennung.
Haben Sie einen Groll gegen Deutsche?
Nein, wir hassen die Deutschen nicht. Hereros greifen sie auch nicht an. Es geht um Aufarbeitung und gegenseitigen Respekt. Hass hat bei uns keine Tradition. Wir wollen uns aber auch nicht diktieren lassen, was wir machen sollen.
Sie leben in Berlin und engagieren sich für die postkoloniale Auseinandersetzung. Wie erleben Sie den Umgang mit dem Kolonialismus hierzulande?
Langsam kommt das Thema in den Schulbüchern an. Ich bin oft als Zeitzeuge in Schulen eingeladen worden und ich habe mich an Dokumentarfilmen beteiligt, um aufzuklären. Wir arbeiten viel mit jungen Menschen, People of Color und auch mit Parteien wie der Linken zusammen. Ich komme aus der Befreiungsbewegung und kann viel erzählen über Apartheid. Ich bin in einem Apartheidsstaat groß geworden. In Deutschland bin ich der einzige Herero, der hier aktiv ist. Aber in den USA und in Großbritannien gibt es große Gruppen, die auch mit der UNO und mit jüdischen Rechtsanwälten und Spezialisten zusammenarbeiten.
Es engagieren sich viele Leute aus dem Exil. Warum ist das so?
Weil wir hier auch große Medien erreichen können. In Namibia ist das schwierig. Wir müssen Organisationen wie die UNO erreichen, die nicht in Namibia sind. Für uns ist es wichtig, am Anfang der Geschichte anzufangen: 1884 hat die Aufteilung Afrikas auch in Berlin stattgefunden. Hier müssen wir auch anfangen, die Menschen zu mobilisieren.
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