Soziologe über Schule und Corona: „Es geht auch um Lebenschancen“
Die Pandemie verschärft die Probleme von Kindern aus sozial benachteiligten Familien, sagt Aladin El-Mafaalani. Dabei gäbe es praktische Lösungen.
taz: Herr El-Mafaalani, wie würden Sie die Zeit während Corona erleben, wenn Sie Schüler wären?
Aladin El-Mafaalani: Dass der Unterricht ausfällt, wäre für mich kein Problem. Der Shutdown aber schon, weil ich als Schüler nur zum Schlafen und Essen nach Hause gekommen bin und sonst immer unterwegs war.
Wie finden Sie die Debatte über Bildung in Zeiten von Corona?
Es wird besser. Es wird mehr über die Kinder und Jugendlichen selbst gesprochen. Mittlerweile kommen benachteiligende Faktoren ins Spiel, hier und da hört man auch, dass es um Kinder in Armut geht. Noch vor ein paar Wochen wurde nur zwischen Wirtschaft und Gesundheit abgewägt. Zwischen der Situation von Älteren, Familien und Kindern abzuwägen, fand kaum statt. Das fand ich schon irre. Gerade diejenigen, die am wenigsten durch das Virus bedroht sind, wurden am stärksten durch die Einschränkungen belastet. Es geht um die Gesundheit der Kinder, aber auch um ihre Lebenschancen.
Die Schulen öffnen nach und nach. Wie funktioniert die Rückkehr?
Man muss sich schon fragen, warum so extrem auf die Abschlüsse und auf Abschlussklassen geschaut wurde. Ich finde es sehr schade, dass Grundschulkinder noch über einen langen Zeitraum wohl nur einmal in der Woche zur Schule gehen werden. Das ist zwar besser als gar nichts. An dem einen Tag in der Woche kann man ein paar Sachen organisieren, damit man dann ein bisschen strukturierter von zu Hause aus arbeiten kann. Aber man hätte es auch so organisieren können, dass alle jeden Tag kommen, dann aber eben nur zwei Stunden. Dass viele Lehrkräfte sehr kurzfristig Fernunterricht gestalten sollten, ohne über die Lebensverhältnisse der Kinder und die Voraussetzungen in den Familien Bescheid zu wissen, war ein entscheidendes Problem.
Es wird viel über digitale Möglichkeiten des Lernens während Corona diskutiert. Sie schreiben in Ihrem Buch über die besondere Bedeutung der Schule als Ort für Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen.
Dass die Schule nicht stattfindet, verschärft die Ungleichheit. Ferien sind ungünstig im Hinblick auf Kompetenzunterschiede je nach Schichtzugehörigkeit. Die Ferien sind aber nur sechs Wochen lang. Wenn wir sie jetzt über ein paar Monate haben, könnte es deutlich schlimmer werden. In der schulfreien Zeit werden die Kinder auf ihre Herkunft zurückgeworfen. Sie erleben nichts anderes mehr. Es gibt Kinder, die leben in einem total anregungsreichen Umfeld, andere nicht. Das macht den Unterschied.
Dieses Umfeld bestimmt den Habitus, ein Konzept des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, das Sie verwenden. Wie definieren Sie es?
Wie lange habe ich Zeit, es zu definieren?
So kurz wie möglich.
Habitus ist gelernte soziale Mentalität. Die Art und Weise, wie man die Welt erlebt, ein Muster, das das Denken und Handeln prägt.
„Eignung, Neigung und Wille des Kindes zur geistigen Arbeit insgesamt“ sind laut Kultusministerkonferenz ein Kriterium, wenn Lehrer:innen in der Grundschule Empfehlungen für die weiterführende Schule aussprechen. Sie zitieren das. Bourdieu sagt über Habitus: „Wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person verwehrt ist.“ Diese Sätze klingen ähnlich.
Mit Bourdieu gesprochen könnte „Eignung, Neigung und Wille zur geistigen Arbeit“ bedeuten: Bewertet den Habitus oder bewertet die soziale Herkunft mit. Für die meisten Lehrer:innen ist das aber nicht so relevant, wenn die Kinder nur Einsen haben. Aber in Grenzfällen …
… die es gibt, bekommen manche Kinder dann eine Empfehlung für die Realschule statt für das Gymnasium.
Es gibt drei soziale Faktoren, die über den Bildungsweg mitentscheiden. Zunächst Familie und Umfeld des Kindes, das soziale Milieu. Als Zweites das Bildungssystem und die Verzerrungen in der Bewertung und der Empfehlung. Aber der dritte Punkt fällt stärker ins Gewicht als das Urteil von Lehrer:innen: die Entscheidung der Menschen selbst. In den meisten Bundesländern entscheiden die Eltern relativ frei. Und sie entscheiden sich, wenn sie privilegiert sind, regelmäßig für das Gymnasium, unabhängig davon, was die Empfehlung ist; Eltern aus benachteiligten Milieus, gerade wenn sie in sehr prekären Verhältnissen leben, entscheiden sich überproportional häufig gegen ein Gymnasium trotz Gymnasialempfehlung.
wurde 1978 im Ruhrgebiet geboren. Er ist Soziologe und seit 2019 Professor für Erziehungswissenschaft am Lehrstuhl für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Uni Osnabrück. Zuvor hat er an einer Fachhochschule und in einem Berufskolleg gelehrt und als Abteilungsleiter im nordrhein-westfälischen Ministerium für Kinder, Flüchtlinge und Integration gearbeitet. Er ist Autor des Buches „Mythos Bildung“, 2020, Kiepenheuer & Witsch.
Dieses sozial verzerrte Entscheidungsverhalten überträgt sich später auf die Kinder. Diejenigen, die Abitur machen und aus benachteiligten Familien stammen, trauen sich häufiger nicht zu studieren. Wenn sie studieren, brechen sie häufiger ab. Wenn sie das Studium schaffen, streben sie seltener eine Promotion oder eine berufliche Karriere an, etwa weil sie sich das nicht zutrauen oder weil sie sich in diesem Milieu nicht wohlfühlen. Das heißt, es gibt soziale Filter, und die haben ganz viel damit zu tun, dass die Menschen ihre Herkunft in sich tragen. Den Habitus.
Dieser Habitus ist also etwas Hartnäckiges, das sich nicht verändern lässt?
Man müsste sich Mühe geben, damit sich so ein Habitus gar nicht verfestigt. Kinder in armen Verhältnissen verhalten sich wie Insolvenzverwalter. Sie verhalten sich klug, sie machen alles richtig. Ein Insolvenzverwalter muss kurzfristig und funktional denken, Knappheitsprobleme lösen. So müssen auch die Kinder auf Nummer sicher gehen, sie können kein Risiko eingehen. Am Ende tun sie immer das Gleiche. Sie sind nur dann motiviert, wenn sie genau wissen, wofür das gut ist, was sie lernen. Bildung ist etwas, bei dem man nicht weiß, was am Ende rauskommt.
Das Kind, das so aufwächst, wird so ein Denkmuster kaum los. Irgendwann gehört das zu seinem Charakter, seiner Mentalität. Man kann aber etwas dagegen tun, wenn in den Schulen alles erlebbar wird, was die Welt zu bieten hat, Kunst und Kultur, Handwerk, Ernährung. Die Schule ist die einzige Chance für arme Kinder, ihre Perspektive zu erweitern. Aber nur dann, wenn es in der Schule nicht nur um Betreuung geht, sondern um Bildung im weitesten Sinne, bis in den späten Nachmittag.
Also eine verallgemeinerte Ganztagsschule?
Es geht auch nicht nur um ein bisschen Ganztag. Wir müssen aufhören, Schule nur als einen Ort zu begreifen, wo Lehrer:innen arbeiten. Sie sind nur eine Säule. Es braucht gleichberechtigte, weitere Säulen, Menschen, die nicht Lehrer:innen sind und sich um die Kinder kümmern, multiprofessionelle Teams mit verschiedensten Expertisen, Vereinsstrukturen.
Empfohlener externer Inhalt
taz Talk #4 – Gerechte Bildung mit und ohne Corona
Und was passiert dann mit jenen, die durch eine solche Schule den Aufstieg schaffen?
Bildung hat einen sehr ambivalenten Charakter für Aufsteiger. Sie distanzieren sich sozial von ihrem Herkunftsmilieu, auch innerlich. Sie können sich entsprechend auch von den eigenen Eltern entfremden. Dinge verlieren an Bedeutung und werden entwertet, die in der Kindheit und Jugend wertvoll waren. Und die Menschen, die einen lieb haben, die einen zu dem haben werden lassen, was man ist, verlieren ebenso an Bedeutung. Man hat sich weniger zu sagen. Man versteht sich nicht mehr blind, obwohl Familie ja eigentlich ein solidarisches Band ist, wo man sich blind versteht. Aufsteiger erleben ihren Aufstieg zumindest zwischenzeitlich als sehr ambivalent. Sie verlieren die Nähe zum Herkunftsmilieu, finden aber nicht gleichzeitig eine neue soziale Heimat. Diese Zwischenposition kann sehr anstrengend sein.
Also bleiben Kinder aus Arbeiter:innenfamilien selbst dann Verlierer:innen, wenn sie es schaffen, aufzusteigen? Denn dieser Schmerz über den Verlust des Alten bleibt ja für immer. Und wahrscheinlich auch das Gefühl, trotz aller Bildungserfolge im Neuen nicht so richtig anzukommen.
Den Schmerz kann man nicht ganz auffangen. Aber eine Schule, wie ich sie vorschlage, könnte den Kindern helfen, bessere Bezugspunkte zu bekommen. Sie würde systematisch auf den Aufstieg vorbereiten. Vieles würden die Kinder nicht zum ersten Mal mit 20 erleben. Gerade wenn man in der Kita und in der Grundschule in die Offensive geht, dann gibt es die Möglichkeit, dass Kinder bestimmte Dinge nicht internalisieren und sich bei ihren Entscheidungen später nicht genauso verhalten wie ihre Eltern. Indem man die Erfahrungshorizonte von Kindern und Jugendlichen etwas stärker vereint, könnte das vielleicht auch langfristig den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.
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