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Sozialrassistisch Verfolgte in NS-ZeitEin Leben lang herabgesetzt

Ein Buch versammelt erstmals Biografien von Menschen, die die Nazis als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ verfolgten. In Hamburg wird es vorgestellt.

Wer dort war, ist Unrecht widerfahren: Fotos von Häftlingen des Lagers hängen in der Ausstellung der Gedenkstätte Esterwegen Foto: Hauke-Christian Dittrich/dpa

Hamburg taz | Dass ihr Vater Franz Walter 1937 verurteilt wurde und bis zum Ende des Krieges im Konzentrationslager und in Gefängnissen inhaftiert war: Davon gewusst hat Irmgard Fuchs immer. „Wir gingen von irgendetwas Politischem aus“, schreibt sie in ihrem Beitrag „Für Franz: Wie die Nazis das Leben meines Vaters verpfuschten“; lesen kann man ihn im soeben erschienenen Band „Die Nazis nannten sie ‚Asoziale‘ und ‚Berufsverbrecher‘“ (Campus, 372 S., 29 Euro, E-Book 26,99 Euro).

Das von Frank Nonnenmacher herausgegebene Buch versammelt mehr als 20 Geschichten von Opfern der sozialrassistischen Verfolgung durch das NS-Regime. Verfolgt und mit einem schwarzen oder grünen Winkel gekennzeichnet in Konzentrationslagern, Zuchthäusern und Gefängnissen inhaftiert wurden diese Menschen als vermeintlich genetisch verdorbene „Asoziale“, als „Berufsverbrecher“ oder „Arbeitsscheue“.

Es ist das erste Mal, dass Biografien einzelner Betroffener in Buchform vorgestellt werden. Entstanden sind sie als erste Veröffentlichung des Verbands für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus (Vevon). Den hatten im vergangenen Jahr rund 30 Angehörige von Opfern gegründet, darunter Irmgard Fuchs und Frank Nonnenmacher.

Dabei erzählt der Band nicht nur vom Schicksal der Menschen während des Nationalsozialismus, sondern auch davon, wie diese Erfahrungen ihr Leben nach der Befreiung 1945 geprägt haben: Die Stigmatisierung setzte sich in der Bundesrepublik fort.

Urteil wurde nie aufgehoben

Bis vor vier Jahren wurde dieser Opfergruppe die Anerkennung verwehrt, zu Unrecht inhaftiert, gequält und ermordet worden zu sein. Erst 2020 beschloss der Bundestag, dass niemand „zu Recht“ in einem Konzentrationslager gesessen haben kann.

Weswegen Franz Walter verurteilt wurde, darüber habe er in der Familie nicht gesprochen, erzählt Irmgard Fuchs der taz. Erst als Corona kam, sei sie mit ihrem Mann ins Emsland gefahren, ins ehemalige KZ Esterwegen. Dort sei alles hochgekommen: die Erzählungen des Vaters, seine Selbstgespräche, dass er öfter geweint habe, dass ihn das alles immer wieder eingeholt habe.

Lesung in Hamburg

Lesung „Die Nazis nannten sie ‚Asoziale‘ und ‚Berufsverbrecher‘ – Verfolgungsgeschichten im NS und in der Bundesrepublik“ mit Frank Nonnenmacher, Liane Lieske, Mascha Krink, Ludwig Dohrmann und Irmi Fuchs: 22. März 2024, 19 Uhr, Goldbekhaus, Hamburg. Eintritt frei

Fuchs begann nachzufragen und zu recherchieren und stieß überraschend auf mehr als 50 Aktenordner und einen spektakulären Fall: Als reisender Händler hatte ihr Vater Anfang der 1930er ein schlechtes Auskommen.

In Basel hatte er eine Lehre in einer Apotheke gemacht und gab sich nun als Homöopath und Arzt aus. Als ein „falscher Arzt“ gesucht wird, glaubt die Staatsanwaltschaft, ihn in Franz Walter gefunden zu haben. Die Frau, die sich betrogen fühlt, erkennt ihn bei einer Gegenüberstellung nicht wieder, behauptet aber auch, von ihm hypnotisiert worden zu sein.

Nach einem spektakulären Prozess wird er 1937 nach zwei Jahren Untersuchungshaft zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Jahrelang muss Franz Walter Zwangsarbeit im Moorlager Esterwegen leisten. Aufgehoben wird das Urteil nie – trotz etlicher Versuche Walters, eine Revision zu bekommen.

Am 22. März stellen Irmgard Fuchs, Frank Nonnenmacher und drei weitere Angehörige den Verband Vevon und die Geschichten ihrer Eltern und Großeltern in Hamburg vor.

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3 Kommentare

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  • in meiner heimatstadt gab es ziemlich weit entfernt von deren zentrum hoch auf einem berg drei einfachst-wohnblocks:



    dort wohnten "asoziale".



    als kind vermutete ich aus dem tonfall, mit dem dieses wort bedacht wurde, daß das etwas ganz schreckliches sein müsse.



    später lernte ich in mannheim die "asozialen-siedlung" benz-baracken, europas größtes zusammenhängendes "obdachlosen"-wohnvierel, kennen.



    ein zweites, kleineres gebiet: alsenstr. oder -weg. dort setzten normalbügerInnen keinen fuß hinein.

    ein in der nähe tätiger kinderarzt erklärte mir die zustände dort.

    als einer der bewohner von der polizei mannheim dort erschossen wurde (angeblich wars ein querschläger), machten die bewohnerInnen eine demo gegen diese schießerei + eine trauerfeier im gemeinschaftsraum, da nahm ich teil.

    die tv-serie" hartz aber herzlich" spielte genau in den benzbaracken. mitnichten baracken, sondern einfachst -wohngebäude aus der unmittelbaren nachkriegszeit..

    • @Brot&Rosen:

      nachtrag:



      die benz-baracken scheinen auf demselben gelände zu stehen wie ehemals baracken, wo - wie ich hörte - kz-häftlinge/zwangsarbeiterInnen, kriegsgefange für den daimler schuften mußten.



      irgendwie scheint der name "baracken" mit "benz" davor (wg. der "arbeit fer umme") geblieben zu sein im kollektiven gedächtnis - obwohl es sich um nachkriegs-einfachstbauten mit niedrigstem standard handelt. der genius loci eben.

      dies kapital der einfachsbauten für die ganz armen ist mitnichten aufgearbeitet.

      der zusammenhang mit der behandlung der sog. "asozialen" in der nazi-zeit drängt sich auf.



      für das gedächtnis der menschen hierzulande bleiben diese tatsachen immer noch unterdrückte bildungsinhalte.

  • Was ich immer wieder erschreckend finde, ist wie wenig sogenannte "Asoziale" in der Erinnerungskultur in Deutschland ihren Platz gefunden haben. Vor allem wenn man bedenkt, dass diese Gruppe bis 1939 die größte Gruppe in den Konzentrationslagern ausgemacht hat.