Sozial benachteiligte Jugendliche: Die Studentin an deiner Seite

Das Mentoringprogramm Rock Your Life! möchte soziale Ungleichheit an Schulen abbauen. Dies gelingt mit erstaunlichem Erfolg.

Zwei junge Frauen sitzen auf einer Decke im Grünen

So gechillt kann Mentoring sein: Studentin Doro (links) und Schülerin Panar im Schillerpark Berlin Foto: André Wunstorf

BERLIN taz | So klare Vorstellungen von ihrer Zukunft haben nur wenige 14-Jährige. Panar Kokoy weiß nicht nur, dass sie Kriminalkommissarin werden möchte. Sie weiß auch, wie sie es anstellen muss, damit aus dem Traum Wirklichkeit wird.

Zunächst muss sie dieses Jahr ihren mittleren Schulabschluss machen, dann das Vorbereitungsjahr für die gymnasiale Oberstufe. Wenn sie ihr Abi in der Tasche hat, kann sie sich für ein duales Studium zur Kriminalkommissarin bewerben. Nur ob sie beim BKA oder LKA arbeiten will, hat Panar noch nicht entschieden. „Ich habe aber auch noch ein bisschen Zeit“, sagt sie dazu. Wenn alles gut läuft, beginnt Panar mit 19 das Studium.

Dass die Berliner Schülerin so gut über die Karrieremöglichkeiten bei der Polizei Bescheid weiß, liegt auch an Dorothee Münßinger, ihrer Mentorin. Seit März treffen sich die Studentin und die Schülerin regelmäßig für ein paar Stunden und reden. Über Panars Zukunft, über ihre Lieblingsromane (Krimis, was sonst?), über ihren Taek­wondo-Unterricht. Und wie es so ist, zu studieren. Panars Eltern können ihr das nicht erzählen. Meist trifft sich das Mentoringpaar im weitläufigen Schillerpark im Norden Berlins, auch an diesem Samstagnachmittag.

Panar, die trotz der Hitze einen schwarzen Anorak trägt, erzählt von ihrem Urlaub in Bulgarien. Von dem Dorf Yablanovo im Osten des Landes, wo sie bis zu ihrem siebten Lebensjahr gewohnt hat, ehe ihre Familie nach Berlin zog. Ihre Mentorin hat eine Picknickdecke dabei – und ihren Laptop. Sie will Panar helfen, eine förmliche ­E-Mail zu schreiben. Es geht um einen Praktikumsplatz bei der Berliner Polizei.

Mentoring, das hilft

Rock Your Life! heißt das Programm, das Studierende und Schü­le­r:in­nen aus sozial benachteiligten Familien zusammenbringt. Nicht nur in Berlin, auch in Freiburg, Dresden, Flensburg und Marburg. In 39 deutschen Städten treffen sich regelmäßig Mentoringpaare wie Doro und Panar, rund 1.000 Jugendliche nehmen aufs Jahr gerechnet an dem Programm teil. Auch in der Schweiz, den Niederlanden und in Spanien gibt es das Programm mittlerweile.

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Die Beliebtheit von Rock Your Life! ist leicht zu erklären: Es wirkt. Fünf Jahre lang hat das renommierte Münchner Ifo-Institut für Bildungsökonomik das Mentoringprogramm wissenschaftlich begleitet. Anfang des Jahres zogen die Bil­dungs­for­sche­r:in­nen nun Bilanz: Nach einem Jahr Mentoring verbessern sich die Schulnoten sowie die sozialen Kompetenzen der Jugendlichen. Außerdem steigt das, was Öko­no­m:in­nen Arbeitsmarktorientierung nennen. Heißt: Die Jugendlichen beschäftigen sich stärker mit der Frage, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen.

Ob Schü­le­r:in­nen von ihrer Familie unterstützt werden, ist ein wesentlicher Faktor für soziale Ungleichheit, sagt Ludger Wößmann, der das ifo-Zentrum für Bildungsökonomik leitet. „Unsere Studie zeigt, dass Studierende die fehlende Unterstützung von zu Hause weitgehend ausgleichen können“, so Wößmann. Er empfiehlt, Mentoringprogramme wie Rock Your Life! stärker zu fördern – auch im Hinblick auf Jugendliche, die die Pandemie noch weiter abgehängt hat.

Deutschland gehört zu den reichsten Staaten der Welt – aber Wohlstand, Bildung, Gesundheit und Glück sind höchst ungleich verteilt. Wie wird die kommende Bundestagswahl die Weichen stellen für die Verteilungsprobleme? Wen wird es treffen, dass die öffentlichen Kassen nach der Pandemie leergefegt sind? Schaffen wir es, das Klima zu schützen und dabei keine Abstriche bei der sozialen Gerechtigkeit zu machen? Unter dem Motto „Klassenkampf“ widmet sich die taz eine Woche lang Fragen rund um soziale Gerechtigkeit.

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Bei der Berlinerin Panar Kokoy ist das zwar nicht der Fall – im letzten Zeugnis hatte sie nur eine vier. Dennoch können sie ihre Eltern wenig unterstützen. Weil sie nicht fließend Deutsch sprechen. Weil sie beide Schicht in der Keksfabrik Bahlsen arbeiten. Nach der Schule muss sich Panar deshalb oft um die jüngeren Geschwister kümmern. Ruhe zum Lernen hat sie ohnehin kaum. Panar teilt sich das Zimmer mit drei anderen Familienmitgliedern.

Eine Frage der Privilegien

„Ich bewundere Panar dafür, dass sie trotz dieser Umstände so gut in der Schule ist“, sagt Dorothee Münßinger. Die 26-Jährige ist, wie sie sagt, selbst privilegiert aufgewachsen. Ihre Eltern haben studiert, wussten also, wie wichtig Lernen und die Wahl der „richtigen“ Schule ist. Bei vielen Entscheidungen konnten Doros Eltern wertvollen Rat geben.

Heute studiert sie Public Policy an der Humboldt-Universität und hat einen Nebenjob in einer Organisationsberatung. „Nicht alle haben den Support zu Hause, den ich hatte“, sagt Doro. Als sie für den Master nach Berlin zog, hat sie sich deshalb nach einem Mentoringprogramm im Bildungsbereich umgesehen – und ist auf Rock Your Life! gestoßen.

Dass sich Panar und Doro kennengelernt haben, haben sie Peer Steinbrück (SPD) zu verdanken. Zu dem Schluss kann man jedenfalls kommen, wenn man sich länger mit Stefan Schabernak unterhält. Im Jahr 2008 war Steinbrück Finanzminister – und Schabernak Student der Wirtschaftswissenschaften an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen, einer Privatuni, die Die Zeit wegen ihrer vielen studentischen Initiativen mal als „ungewöhnlichste Hochschule“ Deutschlands bezeichnet hat.

Als Steinbrück dort bei einer Podiumsdiskussion Haupt­schü­le­r:in­nen als mehr oder weniger unrettbar bezeichnete, regte sich bei Schabernak und seinen Kom­mi­li­to­n:in­nen Widerstand. Wenn die Bundesregierung ein Viertel der jungen Menschen abschreibt, obwohl sie doch das staatliche Schulsystem durchlaufen, läuft was gehörig falsch.

Jahresbudget: eine Million Euro

Letztlich waren zwölf Zeppelin-Studierende bereit, sich in ihrer Freizeit um so einen unrettbaren Hauptschüler zu kümmern – die Idee von Rock Your Life! war geboren. An den Schulen am Bodensee stieß sie schnell auf Begeisterung. „Wir haben auf Anhieb 80 Schülerinnen und Schüler gefunden, die sich eine Begleitung wünschten“, erinnert sich Schabernak. Also fragten die Studierenden rum, wer noch bei dem Mentoring mitmachen wollte. Schnell waren die 80 Paare zusammen. Das war vor dreizehn Jahren. Heute verwaltet eine gemeinnützige GmbH über 1 Million Euro Budget und einen Pool aus Tausenden Ehrenamtlichen und Hunderten Trainer:innen.

Was den ausgebildeten Ökonomen Schabernak besonders freut: Das Münchner ifo-Institut hat bei der Evaluierung sogar den volkswirtschaftlichen Nutzen von Rock Your Life! errechnet. Jeder investierte Euro mache sich um den Faktor 17-31 bezahlt, wenn die Mentees später nicht die Schule abbrechen oder sogar einen höheren Abschluss packen. Selbst die aktuelle Integrationsstaatsministerin, Annette Widmann-Mauz (CDU), forderte bereits: „Solche Programme brauchen wir viel öfter.“

Tatsächlich haben die Schulen die Möglichkeit, im neuen Schuljahr verstärkt in solche Programme zu investieren. Von dem milliardenschweren Corona-Aufholprogramm vom Bund werden auch Angebote gefördert, die „die Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen fördern“. Im Berliner Programm „Stark trotz Corona“ beispielsweise ist Mentoring sogar explizit als förderwürdiges Instrument aufgeführt. Auch in anderen Bundesländern ist die Förderung außerschulischer Angebote vorgesehen. Werden wir künftig also mehr Mentoringpaare an Schulen sehen?

Ronald Fischer würde es jedenfalls begrüßen. Er ist Schulleiter der Schule am Schillerpark – die auch die 14-jährige Panar besucht. Nur wenige seiner Schü­le­r:in­nen erhielten zu Hause die Unterstützung, die sie eigentlich bräuchten, erzählt Fischer. Daran könnten auch die neuen Gelder aus dem Aufholprogramm wenig ändern. „Wir haben jetzt schon im gebundenen Ganztagsbetrieb in den Hauptfächern eine Stunde zusätzlich, Doppelsteckung zur besonderen Förderung, Angebote der Schulsozialarbeit und individuelle Lernförderung“, sagt Fischer. „Wir können die Kinder nicht völlig überlasten.“ Bei 35 Stunden Unterricht die Woche sei irgendwann Schicht im Schacht.

Freundschaft, keine Nachhilfe

Fischer findet es aber gut, dass Studierende sich individuell um Schü­le­r:in­nen wie Panar kümmern. Seit Jahren sei Rock Your Life! fester Bestandteil an der Schule am Schillerpark. Und vielleicht könne man ja die Studierenden stärker in das staatliche Aufholprogramm einbinden. Etwa indem man den Men­to­r:in­nen den Bedarf aus der Lernstandskontrolle mitteilt, der gerade erhoben wird. „Wenn die sich drei Stunden treffen, könnten sie ja auch eine Stunde Mathe oder Deutsch üben“, schlägt Fischer vor.

Rock Your Life!-Mitgründer Schabernak hält jedoch wenig von solchen Ideen. Die Men­to­r:in­nen sollen gerade keine Nachhilfe geben, sondern vor allem An­sprech­part­ne­r:in­nen für die Fragen der Jugendlichen sein. Da gehe es selten um Mathematik­noten, sondern vor allem um persönliche Dinge.

Auch Dorothee Münßinger und Panar haben sich in dem halben Jahr, in dem sie sich jetzt regelmäßig sehen, angefreundet. Einmal war die Schülerin in Münßingers WG, ein anderes Mal hat die Studentin Panar zu Hause besucht. Ihrer jungen Freundschaft steht nun aber jetzt die erste Bewährungsprobe bevor. Für das nächste halbe Jahr studiert Doro in Budapest. Bis Februar werden sie sich nur online treffen können.

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