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Sorge um Eskalation des Ukraine-KriegesÜberschätzte Explosionsgefahr

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Nach den Lecks in den Pipelines und den Referenden stehen die Zeichen auf Eskalation. Aber die derzeitige westliche Strategie funktioniert.

Moskau, 21. September: Niemand treibt das russische Volk so konsequent in den Aufstand wie Putin Foto: reuters

N och hat Russlands Präsident Wladimir Putin den Anschluss der russisch besetzten Teile der Ukraine an die Russische Föderation nicht vollzogen, für den die bizarren „Referenden“ fast ohne Wähler jetzt offiziell grünes Licht gegeben haben. Aber in wenigen Tagen, vielleicht diesen Freitag, könnte es so weit sein. Und noch hat keine Nato-Regierung offiziell Russland beschuldigt, die Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee gesprengt zu haben, aus denen seit den mysteriösen Explosionen Gas an die Oberfläche sprudelt.

Aber in wenigen Tagen könnte sich auch das geändert haben. Wieder einmal wird der Welt in Erinnerung gerufen, dass der Krieg in der Ukraine viel mehr ist als ein Krieg in der Ukraine: Er ist ein Krieg um Vorherrschaft zwischen Russland und dem Westen.

Mögliche Eskalationsschritte sind vorgezeichnet. Sobald sich Russland die besetzten ukrainischen Gebiete einverleibt hat, wird es ukrainische Offensiven zu deren Befreiung als Angriff auf russisches Staatsgebiet betrachten – das, meinen manche, erhöht das Risiko eines russischen atomaren Erstschlags. Sobald auf die Pipelinesprengung in der Ostsee ein weiterer, unzweideutig russischer Angriff auf kritische Infrastruktur von Nato-Staaten erfolgt, steht Artikel 5 der Nato-Charta und damit die kollektive Selbstverteidigung im Raum – das, meinen manche, erhöht das Risiko eines dritten Weltkriegs.

Das sind Horrorszenarien, und sie will niemand. Aber es wäre verkehrt, sich von ihnen leiten zu lassen. Dass die von niemandem mehr gewollten Pipelines in der Ostsee jetzt auch noch kaputtgehen, ist eigentlich völlig egal. Was befürchtete ukrainische Angriffe auf „russisches Staatsgebiet“ angeht: Die Ukraine hat in diesem Krieg schon oft Ziele auf der russisch annektierten Krim getroffen – und Russland hat nicht reagiert, trotz gegenteiliger Warnungen.

Grund für Optimismus

Und die militärische Situation in der Ukraine sollte Anlass zu Optimismus geben. Russland verliert täglich an Boden. Die neue Mobilmachung in Russland treibt noch mehr Menschen in die Opposition oder in die Flucht. Niemand treibt das russische Volk gerade so konsequent in den Aufstand wie Putin selbst. Das Verhältnis des russischen Präsidenten zur Wirklichkeit ähnelt dem von Donald Trump, der sich bis heute für den rechtmäßigen Präsidenten der USA hält, der aber nichts mehr hinbekommt, außer das politische Klima zu vergiften.

Die aktuelle westliche Strategie – Zusammenhalten, Putin isolieren, der Ukraine militärische Siege ermöglichen – ist richtig, und sie funktioniert. Russlands Präsident fällt dagegen nur noch zunehmend bizarres, folgenloses Gehabe ein. Es muss folgenlos bleiben. Dann wird es scheitern.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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13 Kommentare

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  • Ich stimme dem Kommentar in weiten Teilen und vor allem in der Aussage, dass man Putin auf gar keinen Fall nachgeben darf, zu. Für falsch halte ich die Einschätzung, dass Trump nichts mehr hinbekommt. Die Trump-Kandidat:innen verzeichnen bei den US-Vorwahlen derzeit leider sehr deutliche Erfolge und es ist davon auszugehen, dass die Demokraten nach den Midterms ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus verlieren werden. Dies wird sich vermutlich leider auch negativ auswirken auf die Unterstützung der USA für die Ukraine.

  • Alles richtig - der Einschätzung kann ich gut folgen. Höchst gefährlich ist die aktuelle Entwicklung dennoch.

  • Selten genug, dass ich mit Ihnen einverstanden bin,



    Die Konklusion lasse ich offen...



    Shit happens!

  • Das ausströmende Gas aus den Lecks ist eben nicht "völlig egal".

    • @Michael Wiedmann:

      nun, politisch gesehen IST es egal.

      Klimatechnisch ist es Scheiße aber realistisch gesehen auch nur ein Fingerzeig darauf was sonst so passiert.

      Als ob es z.B. sonst keine Lecks gäbe. Und dann wären da noch die 6 Mrd. Menschen.

  • Liest sich recht wirr.



    Vor allem weil die ganze Eskalation der Situation als letztlich positiv dargestellt wird.



    Das ist Spiel mit Feuer bzw. Menschenleben.

    • @Mee:

      Wenn ein Kommentar und der Kopf von MEE zusammentreffen - und es klingt wirr - ist es dann unbedingt der Kommentar?

      Inwiefern wird denn die "ganze Eskalation" positiv dargestellt?

      Wer spielt mit dem Feuer?

      Was wäre denn nach MEEs Meinung zu tun? Inwiefern wäre das dann besser?

  • Der Vergleich mit Trump hinkt an einer Stelle. Trump hat den Koffer mit den Codes nicht mehr.

    • @Günter:

      Wer weiss schon, was Trump ausser Geheimpapieren noch alles hat mitgehen lassen...

  • Die faz hat gerade ein bemerkenswertes Interview mit dem Moskauer Sozialwissenschaftler Judin veröffentlicht. Demnach sei die russische Gesellschaft zurzeit unberechenbar, da viele Junge Putin nicht ohne weiteres folgen. Judin glaubt, dass Putin mobilisiert und bald eskaliert. Er beschreibt die nukleare Logik Putins so:

    "Putin hat mehrfach gesagt, dass die Welt ohne Russland keinen Sinn ergibt – und mit „Russland“ meint er natürlich sich selbst. Er hat dieses Konstrukt im Kopf, dass es kein Russland gibt, wenn es dort keinen starken Imperator gibt. Wenn also etwas Putin und seine Pläne, Wünsche und Expansionen bedroht, ist unklar, warum es die Welt noch braucht: Wer braucht eine Welt ohne Putin? In Russland wird jetzt oft Putins Satz (über die Gefahr eines Atomkriegs aus dem Oktober 2018, d. Red.) zitiert: „Wir kommen wie Märtyrer ins Paradies, und sie verrecken einfach.“ Ich sehe keinen Grund, das auf die leichte Schulter zu nehmen. Doch das bedeutet letztlich, einer nuklearen Erpressung nachzugeben; und dass man mithilfe einer nuklearen Erpressung Gebiete besetzen und dort einen Genozid an der dortigen Bevölkerung begehen kann. Ich denke, eine solche Welt ist dem Untergang geweiht, denn Putin wird sicher nicht bei der Ukraine haltmachen. Wenn Putin die nukleare Erpressung gelänge, wäre das ein absolut ungeheuerliches Szenario. Wahrscheinlich besteht jetzt eine Möglichkeit, Menschen in der russischen Elite zu beeinflussen, damit sie die Perspektivlosigkeit von Putins Plänen verstehen, die zweifellos mit einer Niederlage enden werden – andere Optionen gibt es nicht. Wenn den Leuten in Putins Umfeld das klar wird, werden sie, wenn er beschließt, zum äußersten Mittel zu greifen, womöglich entscheiden, ihn lieber loszuwerden, als mit ihm zu gehen".

    "Funktioniert" in dem Zusammenhang die westliche Strategie, Herr Johnson?

    www.faz.net/aktuel...n-18348497-p2.html

    • @Lindenberg:

      Ich würde sagen, Judin kommt zu einem ähnlichen Schluss wie Johnson, nur dass er das aus der Innensicht des Kremels tut.

    • @Lindenberg:

      Warum die Frage?



      Ihr Zitat beantwortet das eigentlich doch selbst.

      Die Gefahr ist da aber sie verschwindet auch dann nicht, wenn man sich ihr unterwirft. So ist das bei Erpressungen übrigens immer.

  • Angenehm nüchterne Sichtweise. Ruhe bewahren und konsequent bleiben!