Sondierungen von Union und SPD: „Was wollen Sie eigentlich noch mehr?“
Friedrich Merz wirbt fast verzweifelt um die Zustimmung der Grünen für eine Grundgesetzänderung. Der alte Bundestag debattiert über schwarz-rote Schuldenpläne.

Statt in Koalitionsverhandlungen aber sitzt Bas am Donnerstagmittag wieder an ihrem alten Platz im Bundestag, mitten in diesem grauen Block am Kopf des Plenarsaals, wo unter dem Bundesadler erhöht die Sitzungsleitung thront. Um halb eins ruft sie Top 1 der Tagesordnung auf, die Änderung des Grundgesetzes. Es ist der einzige Tagesordnungspunkt an diesem Donnerstag und der Grund dafür, warum die 733 Abgeordneten der 20. Legislaturperiode zu einer Sondersitzung nach Berlin beordert wurden, obwohl jene der 21. längst feststehen. Sie sollen heute in erster Lesung Änderungen im Grundgesetz beraten, die vor allem eines möglich machen würden: dass der Staat in gewaltigem Umfang mehr Schulden machen kann.
Als Friedrich Merz, Fraktionschef der Union und Kanzler in spe, ans Redepult tritt, schallt ihm von der AfD „Wahlbetrüger“ entgegen. Merz hatte im Wahlkampf – wider besseres Wissen – neue Schulden stets ausgeschlossen. Jetzt aber, noch nicht einmal drei Wochen nach der Wahl, versucht er für ein gigantisches Schuldenprogramm eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag zu gewinnen. Dazu setzt er zu einer Art Dreischritt an. Merz betont die weltpolitische Lage, die sich in den vergangen Wochen noch einmal deutlich verschärft habe, und verweist auf die Rede des US-amerikanischen Vizepräsidenten auf der Münchener Sicherheitskonferenz und den Eklat beim Besuch des ukrainischen Präsidenten im Weißen Haus. Er sagt, dass die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands jetzt absoluten Vorrang habe, dazu aber auch eine starke Wirtschaft und eine funktionierende Infrastruktur gehörten. Das Land stehe „vor einer tiefgreifenden historischen Verantwortung“, so appelliert er an das Verantwortungsgefühl der Abgeordneten.
Und er geht inhaltlich auf die Grünen zu, deren Stimmen er so dringend braucht. Nicht nur Ausgaben für die Bundeswehr, sondern auch solche für Nachrichtendienste, Zivil- und Bevölkerungsschutz sollen nun bei der Veränderung der Schuldenbremse berücksichtigt werden. In das geplante Sondervermögen für die Infrastruktur will Merz nun auch Investitionen in den Klimaschutz aufnehmen. Bis zu 50 Milliarden Euro, sagt er, könnten in den Klimatransformationsfonds fließen – und dieser damit „geheilt“ werden. Robert Habeck, der grüne Nochwirtschaftsminister, grinst fassungslos auf der Regierungsbank. Zur Erinnerung: Mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht hatte die Union genau diesem Fonds 60 Milliarden Euro entzogen und so das Ende der Ampelregierung eingeläutet.
Für Merz geht es in diesen Tagen um viel
Einen entsprechenden Änderungsantrag, sagt Merz jetzt, hätten Union und SPD gemeinsam am Vormittag eingebracht. „Was wollen Sie eigentlich in so kurzer Zeit noch mehr?“, fragt er dann in Richtung der Grünen. Und man merkt, dass er es noch immer nicht fassen kann, dass sie seinen Vorschlägen nicht einfach folgen. Es sind nicht nur die Grünen, die diese Aussage des CDU-Chefs genauso kaum fassen können: Sie quittieren Merz’ Äußerungen mit lautem Lachen, auch in den Reihen der FDP können die Abgeordneten da kaum noch an sich halten.
Für Friedrich Merz geht es in diesen Tagen um viel. In ihren Sondierungsgesprächen haben Union und SPD flugs einen finanziellen Befreiungsschlag erdacht, und zwar gleich doppelt: Verteidigungsausgaben von über 1 Prozent der Wirtschaftsleistung, des sogenannten BIPs, sollen demnach künftig von der Schuldenbremse ausgenommen werden, außerdem soll es ein Sondervermögen von 500 Milliarden Euro für Investitionen in die Infrastruktur geben. Ohne dieses Geld wird es schwierig mit einer Koalition. Merz könnte also scheitern, bevor er überhaupt Kanzler geworden ist.
Doch was weit schlimmer wäre als der Absturz eines ehrgeizigen Christdemokraten, dem jede Regierungserfahrung fehlt: Dem Land würde in einer dramatischen außenpolitischen Lage weiter eine handlungsfähige Regierung fehlen. Es steht bei dieser und der zweiten Sondersitzung des Bundestags am kommenden Dienstag also einiges auf dem Spiel.
Es ist diese historische Verantwortung, die auch Lars Klingbeil anspielt. „Die Nachkriegsordnung ist ins Wanken geraten. Die alte Ordnung ist noch nicht weg und die neue noch nicht da“, sagt der SPD-Chef, der gerne Vizekanzler werden will. Wenn die Ukraine falle, sei auch der Frieden im Rest Europas in Gefahr. Deshalb müsse Deutschland vorbereitet sein. Auch Klingbeil appelliert an die Grünen. „Dynamik und Emotionen“ der vergangenen Wochen müsse man nun aus der Debatte nehmen.
Es braucht eine Änderung des Grundgesetzes
Für das frische Geld, so wie Union und SPD sich das vorstellen, braucht es eine Änderung des Grundgesetzes und die ist im Bundestag nur mit einer Zweidrittelmehrheit möglich. Das ist der eigentliche Grund, warum die Abgeordneten heute hier sitzen. Denn im neuen Bundestag reichen dazu die schwarz-roten Stimmen plus die der Grünen nicht. Gebraucht werden dann zudem AfD-Abgeordnete oder Linke. Weil man mit den einen grundsätzlich nicht zusammenarbeiten will und die anderen nicht mehr Geld für Verteidigung lockermachen wollen, soll der alte Bundestag dies kurzfristig noch beschließen.
Doch ob das gelingt, ist offen. Erst haben CDU und CSU monatelang die Grünen in Grund und Boden kritisiert, dann hat Schwarz-Rot einen Plan gemacht – und die Grünen nicht einbezogen. Dass diese nicht leicht zu haben sind, das macht Katharina Dröge, die grüne Fraktionschefin, mit einem Frontalangriff auf Friedrich Merz noch einmal ganz klar.
Immer wieder hätten die Grünen der Union angeboten, gemeinsam die Schuldenbremse zu reformieren, Merz habe dies „aus Parteitaktik, politischem Kalkül und Wahlkampfgründen“ abgelehnt, sagt Dröge in Richtung Merz. Und: Das Interesse des Landes stehe bei ihm eben nicht an erster Stelle. Auch kritisiert sie, dass bei dem schwarz-roten Änderungsantrag noch immer nicht von „zusätzlichen“ Investitionen die Rede sei. Falls Merz sich frage, warum die Verhandlungen mit den Grünen gerade so liefen, wie sie liefen, dann antworte sie ihm: „Weil wir uns nicht auf Ihr Wort verlassen können.“ Quer durch die Reihen gibt es Applaus für Dröges Rede. Auch die FDP scheint es kaum zu fassen, dass die Grünen die Union daran erinnern müssen, bei der Neuverschuldung Maß zu halten.
Die Grünen befürchten, dass Schwarz-Rot mit Hilfe des Sondervermögens für die Infrastruktur über Umwege Wahlgeschenke an die eigene Klientel finanzieren will. Die Mütterrente und die Erhöhung der Pendlerpauschale etwa, auch die Wiedereinführung der Agrardieselsubvention und die Mehrwertsteuerausnahmen für die Gastronomie. All das haben Union und SPD in ihr Sondierungsprogramm geschrieben. Bereits am Montag haben die Grünen verkündet, dass sie den schwarz-roten Vorschlägen nicht zustimmen werden, und einen eigenen Antrag für die Lockerung der Schuldenbremse für Sicherheitsausgaben in den Bundestag eingebracht. Und weil die FDP an der Schuldenbremse festhalten und nur ein Sondervermögen für Verteidigung will, stehen drei verschiedene Gesetzentwürfe hier heute zur Debatte.
Auch Dröges Co-Vorsitzende Britta Haßelmann zeigt sich von Merz’ Avancen unbeeindruckt. „Angebote macht man weder per Mailbox noch im Plenum, wenn man will, dass sie Erfolg haben.“ Merz hatte ihr eine Nachricht auf ihrer Voicemail hinterlassen, um die Grünen zur Zustimmung zu bewegen. „Ich zweifle am Verhandlungsgeschick mancher Kollegen“, sagt Haßelmann süffisant.
Alexander Dobrindt dagegen wirbt vehement um Zustimmung für das schwarz-rote Vorhaben. Doch anders als Merz bringt der CSU-Landesgruppenchef es nicht über die Lippen, den Namen der Grünen zu nennen. „Es reicht nicht, wenn wir uns gegenseitig erklären, dass die Mitte des Parlaments gestärkt werden muss“, sagt er. Es gelte dann auch, Entscheidungen gemeinsam zu treffen.
Die Bundestagsdebatte bietet auch eine Wiederauferstehung der FDP-Fraktion, für die Christian Lindner das Wort ergreift. Er wirft dem CDU-Chef vor, wie ausgetauscht zu sein. „Wer sind Sie und was haben Sie mit Friedrich Merz gemacht“, ruft er unter lauten Lachern aus allen Reihen in Richtung des Oppositionsführers. Es dürfe nicht sein, dass der Staat Kernaufgaben „dauerhaft mit unbegrenzten Schulden finanziert“.
AfD, BSW und Linke kritisieren scharf
AfD, BSW und Linke kritisieren die Einberufung des alten Bundestags scharf. „Dieses Vorgehen zeugt von Verachtung des Wählerwillens“, sagt AfD-Fraktionschefin Alice Weidel, Sahra Wagenknecht spricht von „Verachtung der Demokratie“. Auch die Vorsitzende der Linken im Bundestag, Heidi Reichinnek, wirft Union und SPD vor, ihr Antrag sei „zutiefst undemokratisch“. Der richtige Weg sei es, mit dem neuen Bundestag über eine Reform der Schuldenbremse zu verhandeln. AfD und Linke haben vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die beiden Sondersitzungen geklagt. Eine Eilentscheidung gibt es bislang nicht. Die abschließende zweite und dritte Lesung am Dienstag könnte aber möglicherweise aus Karlsruhe noch gestoppt werden.
Es ist kurz nach 14 Uhr, als Bärbel Bas sich von ihrem Stuhl in dem grauen Block erhebt und die Sitzungsleitung an eine ihrer Stellvertreterinnen übergibt. Die Aussprache im Plenum wogt weiter hin und her, insgesamt über drei Stunden lang. Dann werden die Anträge zur weiteren Beratung in die Ausschüsse überwiesen, Teile von Union und SPD eilen in die Koalitionsverhandlungen, die am frühen Abend beginnen.
Stand jetzt soll der 20. Deutsche Bundestag am Dienstag zu seiner wirklich letzten Sitzung zusammenkommen und über die möglichen Grundgesetzänderungen in zweiter und dritter Lesung entscheiden. Einigen sich Schwarz-Rot und Grün bis dahin nicht, wird es für eine Zweidrittelmehrheit nicht reichen. Im Grundgesetz bliebe alles erst einmal beim Alten, eine gesetzlich neue Grundlage für mehr Schulden gäbe es nicht. Das Sondierungspapier von Schwarz-Rot wäre dann wohl ein Fall für die Tonne. Aber womöglich findet man noch zu einander. Denn die Gespräche gehen weiter.
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