Sommerloch auf Twitter: Was für 1 Sprechverbot?
Die Kritik an Identitätspolitik ist ein Textgenre, das Aufmerksamkeit für Autor_innen generieren soll, die sonst nichts zu sagen haben.
H ektisch wischt sie mit ihrem Daumen über das Display. Die Bewegung ist langsam, doch ihr Blick nervös. Sie weiß, sie wird finden, was sie sucht, wenn sie die Social-Media-Beiträge nur lange genug durchforstet. Sie findet jeden Tag etwas, und auch heute wird sich irgendwo ein Facebook-Post verstecken, eine Instagram-Story oder ein kleiner Tweet, den sie für den_die Verfasser_in maximal nachteilig auslegen kann.
Und da ist er: ein flapsig formulierter Tweet von einer weißen Person, die auf anti-rassistisch macht, aber in Wirklichkeit voll die Kartoffel ist. Dieser eine von ihr verfasste Satz ist so problematisch, dass sie gleich mehrere Dinge ankreiden kann. Ein richtiges Filetstück, das sie an den Pranger hängen kann. Aufgeregt leckt sie sich über die Lippen, dann fängt sie an, schnell zu tippen, und zieht schließlich, endlich, die Rassismuskeule.
So ungefähr kommen Schwarze Menschen und Personen of Color, die Rassismus oder Antisemitismus kritisieren, in der Fantasie der sogenannten Identitätspolitikskritiker_innen daher. Identitätspolitikskritik, das ist ein Textgenre zum Generieren von Aufmerksamkeit für Autor_innen, die unbedingt mal einen Shitstorm auslösen wollen, aber nichts zu sagen haben, weswegen sie den Klassiker ausgraben: Sprechverbote, Zensur, Umerziehung – durchgepeitscht von ein paar Feminist_innen und Antirassist_innen im Internet. Abgeguckt haben die Kritiker_innen sich das von Rechten, aber sie sprechen wie Linke, denn sie sind schließlich keine Nazis.
Die Dämonisierung von BPoC
Identitätspolitikskritik gibt es bereits seit den 1990ern, nun erfährt sie eine Renaissance, es ist schließlich Sommerloch und manche haben die Hoffnung, durch einen provokanten (wenngleich lauwarmen und repetitiven) Text auch mal populär zu sein. Abgesehen von der Qualität dieser Texte ist die darin übliche Dämonisierung von Schwarzen und Of-Color-Personen auffällig. Sie werden als rach- und streitsüchtige, destruktive Menschen gezeichnet, die den ganzen Tag nur darauf warten, andere für ihr problematisches Verhalten maßzuregeln.
Als würde es Spaß machen, weiße Leute für ihren Rassismus oder Antisemitismus zu kritisieren. Als koste diese Erklärarbeit nicht sehr viel Zeit und Energie. Als verlieren Leute, die diese Kritik formulieren, nicht am laufenden Band Freund_innenschaften, Beziehungen, Jobs und Wohnraum, weil ihr Gegenüber zu fragil ist, um anders als mit Abwehr zu reagieren.
Wie gut diese Dämonisierung bei mehrheitlich weißen bürgerlichen Leser_innen ankommt, ist erwartbar, denn sich auf dem Rücken von Schwarzen Menschen und PoC zu erhöhen hat Tradition. Gäbe es wirklich Sprechverbote, würden wir nicht jede Woche solch mediokren Texte zu lesen bekommen. Die Frage ist also nicht, wer sich worüber äußern darf, sondern welche Meinungen als relevant erachtet werden. Jemandem zu widersprechen oder zu sagen, seine Meinung sei uninteressant, ist noch lange keine Zensur.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Innereuropäische Datenverbindung
Sabotageverdacht bei Kabelbruch in der Ostsee
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört