Sommer-Berlinale: Vielleicht wandelt sie noch immer
In der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ bietet die Sommerausgabe der Berlinale viele Dokumentationen und Fiktionales mit Doku-Touch.
Wieviel Fiktion ist erlaubt im Dokumentarfilm? Das wird seit dem Skandal um die vermeintliche NDR-Doku “Lovemobil“ diskutiert, bei der sich irgendwann herausstellte, dass sie eher ein Spielfilm ist. In die umgekehrte Richtung lässt sich ein gewisser Hybrid-Effekt hin zur dokumentarischen Anmutung bei gleich zwei fiktionalen Filmen erkennen, die bei der Sommer-Berlinale in der Sektion “Perspektive Deutsches Kino“ zu sehen sind.
In “Jesus Egon Christus“ von David & Sasa Vajda etwa umschleicht einen immer wieder das Gefühl, dass der Psychotiker Egon, der in der Umgebung Berlins bei der von einem Jesus-Freak geleiteten Lebenshilfe untergekommen war, vielleicht eine echte Person ist, die wirklich beim Ausflippen beobachtet wird.
Wie bei einem Film von Ulrich Seidl fragt man sich immer wieder, ob das Gezeigte nicht doch “echt“ und wortwörtlich aus dem Leben gegriffen sein könnte. Kommt dann aber zu dem Schluss, dass sich Menschen in solchen Extremsituationen kaum derart intim beobachten lassen und liegt damit wahrscheinlich auch richtig.
Der Film “Wood and water“ von Jonas Bak wirkt ebenfalls ziemlich dokumentarisch. Man hört Anke zu, die von ihrem Leben im Ruhestand erzählt und von der glücklichen Zeit mit ihrem verstorbenen Ehemann. Sie reflektiert Vergangenes mit Blick auf das Haus an der Ostsee, in dem sie früher gelebt hat und man hat nicht das Gefühl, dass ihr irgendein Drehbuchautor die Worte in den Mund gelegt hat. Diese Frau hat wirklich mal in dem Häuschen gelebt und vermisst ihren Mann, glaubt man bald.
Der Filmemacher folgt
Gespielt wird Anke auch noch von der Mutter des Regisseurs selbst, was die Vorstellung verstärkt, dieser dokumentiere deren letzten Lebensabschnitt. Wohin Anke auch immer geht, der Filmemacher folgt ihr, ist man sich sicher, und nicht umgekehrt. Der Sohn im Film aber heißt nun Max, nicht Jonas, und ist nach Hongkong ausgewandert, wohin Anke dann auch reist.
Und es dämmert einem: “Wood and water“ ist ein fiktionaler Stoff. Allerdings behält der Film auch bei den Szenen in Hongkong seinen dokumentarischen Touch. Anke lässt sich zunehmend ein auf das ihr so fremd wirkende Leben in Ostasien. Sie macht Tai Chi im Park, trifft einen Wahrsager und nie wirken die Szenen gestellt.
Die alte Frau gleitet durch die neue Welt und alles fühlt sich für sie bald gar nicht mehr so ungewöhnlich an. Sie flaniert umher, um noch einmal das Leben einzusaugen. Sie wird dabei begleitet vom ruhigen und beruhigenden Ambientsound Brian Enos, und man kann sich gut vorstellen, dass sie immer noch die Hochhausschluchten Hongkongs durchmisst.
Und dann sind bei der “Perspektive Deutsches Kino“ auch noch Dokumentarfilme zu sehen, die auch wirklich welche sind. Beispielsweise “Instructions for survival“ von Yana Ugrekhelidze. Erzählt wird hier die Geschichte des Transmannes Alexander, der mit seiner Lebensgefährtin Mari im konservativen Georgien lebt.
Ein Outing als Transperson ist in diesem Land kaum möglich, die gesellschaftliche Ächtung wäre ungemein. Und auch Alexander ist für die Behörden immer noch eine Frau, obwohl er sich längst selbst als Mann liest und auch als solcher wahrgenommen werden möchte.
Geschichten von staatlicher Repression
Geschichten von staatlichen Repressionen bekommt man auch in der Dokumentation “In Bewegung bleiben“ von Salar Ghazi erzählt. Der Filmemacher lässt ehemalige Tänzer und Tänzerinnen zu Wort kommen, denen es in der DDR erlaubt war, für Gastspiele in den Westen zu reisen. Berichtet wird von Sehnsüchten und davon, wie es war, sich selbst andauernd die Frage zu stellen: Soll ich dieses Mal einfach drüben bleiben?
Eigentlich ein interessanter Stoff. Doch in dem Schwarz-Weiß-Film wird dann schon sehr lange zweieinhalb Stunden erzählt und erzählt und man erfährt eigentlich mehr über das Tanzen an sich als über ein Stück deutsch-deutsche Geschichte in den Achtzigern.
Die “Perspektive Deutsches Kino“ steht gerne auch mal für sperrige oder gar unfertige Filme von Nachwuchsfilmemachern. Kommerzielle Verwertbarkeit ist eher unwichtig und man kann sich auch kaum vorstellen, dass man irgendeinen der diesjährigen Filme aus dieser Sektion einmal regulär im Kino zu sehen bekommt.
Außer “Die Saat“ von Mia Maariel Meyer. In diesem Film sind deutsche Schauspielerstars wie Hanno Koffler, Andreas Döhler und Robert Stadlober zu sehen. Und auch wenn “Die Saat“ alles andere als Popcorn-Kino ist, gibt es doch einen ordentlichen Spannungsbogen und Drama genug aus dem Leben des von Koffler gespielten Rainer Matschek, der an beruflichem und familiären Druck zunehmend zerbricht und auch seine Tochter Nadine mit in den Strudel abwärts reißt. Für “Perspektive“-Verhältnisse ist “Die Satt“ sogar regelrecht ein Reißer.
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