Solidarität in Gambia: Marx wären die Augen ausgefallen
Auf fast allen Scores schneidet der westafrikanische Staat Gambia schlecht ab. Aber diese Ranglisten lassen viele Dinge aus.
F ürs Abendessen brauchen wir Chilis. Mein Gastgeber erntet sie spontan auf einem Acker zwischen Erdnussplantagen und Paprikafeldern im gambischen Hinterland. „Wem gehört das Feld?“, will ich wissen. „Einem Nachbarn.“ „Müssen wir ihn nicht fragen?“ Er lacht. „Ach, hier kann man jederzeit ein bisschen von Nachbarn nehmen.“ Es bleibt mir im Kopf, lange nach dem Chilifeld. Ich arbeite für Kost und Logis bei einem gambischen Brüderpaar in der Landwirtschaft. Wie in vielen Dörfern leben hier Familien mit teils zehn Kindern und mit mehreren Ehefrauen. Das Leben ist einfach: Gekocht wird über dem Feuer, gewaschen per Hand, viele der Lebensmittel bauen sie im Dorf selbst an. Die Schulbesuche der Kinder sind teuer und kurz, die Apotheke ist fast leer, die Welt für Frauen klein, und viele Männer trinken stoisch den halben Tag lang Tee.
Auf fast allen Scores schneidet der arme westafrikanische Staat Gambia schlecht ab. Aber diese Ranglisten sind nicht neutral. Sie lassen Dinge aus, denen wir wenig Wert zusprechen: Solidarität, Großzügigkeit, Freizeit oder soziale Fähigkeiten. Diese multiethnische Dorf-Community ist in all dem so bemerkenswert, dass ich kaum fassen kann, dass wir denselben Planeten bewohnen. Vieles gehört vielen. Familien, denen es gerade schlecht geht, werden mitversorgt. Auf jedem Hof gibt es Wasser für Fremde und im Zweifel einen Schlafplatz. Unser Gastgeber erzählt, zu Zeiten seines Großvaters habe es Geldtransfers kaum gegeben. Man bekam Boden vom Dorfältesten zugeteilt, bestellte gemeinsam die Reisfelder – und wenn der Reis geerntet war, hatten alle ein halbes Jahr frei. Wäre Marx bis Gambia gekommen, ihm wären die Augen ausgefallen.
Allerdings hat all das einen Preis. Was nicht vom Geld zusammengehalten wird, geht über enge soziale Regeln. Den Frauen der Hof, den Männern der öffentliche Raum. Jede:r muss sich einfügen, die Abhängigkeit ist groß. Auf der Dorfstraße soll ich mit jeder Person Floskeln austauschen, in dieser Outdoor-Gesellschaft zieht es sich endlos hin. Grüßen Kinder nicht, dürfe man sie schlagen. Überhaupt berichten viele gleichmütig von Prügelstrafen für alles Erdenkliche. Denn wer älter ist, hat recht. Der Diskurs ist klar geregelt, selbst der erwachsene Sohn dürfe seiner Mutter nicht widersprechen, sagt man mir. Ich finde es schnell erstickend und autoritär. Es scheint mir auch nicht der günstigste Boden für Veränderung oder Individualität. Traditionen sind hier unantastbar und oft höre ich die Angst, sie inmitten des allseitigen Imperialismus zu verlieren.
Wir – die deutsche Gesellschaft und die gambische Dorfgesellschaft – sind zwei der Extreme. Wie wenig beide Seiten wissen, welchen Preis sie zahlen.
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