Solidarität auch ohne Demos am 1. Mai: Sicher systemrelevant
Der Tag der Arbeit fällt coronabedingt aus. Doch Gewerkschaften, Sozial- und Umweltbewegungen lassen eine lebenswichtige Solidarität wachsen.
S pannend an der gegenwärtigen Krise ist die von der Politik vorgenommene Klassifizierung von „systemrelevanten“ Arbeiten und denen, auf die die Gesellschaft zeitweilig oder dauerhaft verzichten kann. Die Unterscheidung von Unverzichtbarem und Überflüssigem erzeugt einen neuen Blick auf Wirtschaft und Gesellschaft. Die systemrelevanten „Heldinnen und Helden der Arbeit“, denen jetzt so viel Lob und Beifall bezeugt wird, wirken zu einem großen Teil in den schlechter bezahlten Sektoren des Arbeitsmarktes, während das große Geld in den Teilen verdient wird, die jetzt mehr oder weniger stillgelegt sind.
Der gesamtgellschaftlichen Unwucht bei Inhalt und Vergütung der Arbeit sollte sich die Politik möglichst noch vor der nächsten Krise stellen. Und etwa den Gesundheitssektor so ausbauen, dass er für künftige Katastrophen besser gerüstet ist – in Deutschland wie in ganz Europa.
Natürlich: Der Neoliberalismus ist als Ideologie am Ende. Aber machtpolitisch ist er es noch lange nicht. Der Ausbau der Sozialstaatlichkeit, der Abbau von Ungleicheit bei Einkommen, Vermögen und Lebenschancen wird auch nach der Coronakrise erkämpft werden müssen, von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Bürgerinnen und Bürgern. Es ist eine fatale Ironie der Geschichte, dass in dieser Krisenzeit ausgerechnet der 1. Mai, der von den Gewerkschaften jedes Jahr begangene „Tag der Arbeit“, den man auch „Tag der Solidarität“ nennen könnte, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ausfallen muss.
An dieser Stelle ein Wort zur ebenfalls systemrelevanten Medienbranche. Die Bevölkerung wurde über die Entwicklung der Krankheit, Gegenmaßnahmen und Verhaltensregeln umfassend informiert. Und siehe da: Die Menschen lassen sich von den notwendigen Einschränkungen ihres Lebens und Einkommens überzeugen. Sie akzeptieren vorübergehende Eingriffe in ihre Grundrechte. Überflüssig sind nur Talkshows, in denen lediglich unterschiedliche Meinungen aufeinander losgelassen werden, ohne sachliche Fundierung oder aufklärerisches Anliegen.
Notwendig und attraktiv sind sorgfältige Recherche und gute journalistische Aufbereitung. Schon jetzt könnten Recherche-Pläne für die Zeit „danach“ vorbereitet werden, wenn das Pflegepersonal in den Krankenhäusern wieder für Personal- und Lohnerhöhungen streitet, wenn die Kassiererinnen etwas mehr von dem Geld für sich fordern, das sie Tag für Tag in die Kassen ihrer Supermärkte schaufeln. Werden die Wirtschaftsredaktionen sich nach der Krise an den Unterschied von „systemrelevanten“ und weniger wichtigen Wirtschaftssektoren erinnern? Werden die Politikredaktionen jeden noch so kleinen Versuch geißeln, sei es in Ungarn oder in Deutschland, die in der Krise notwendigen Grundrechtseinschränkungen zum politischen Normalfall zu machen?
Die Medien haben im letzten Monat auch eine erhöhte Bereitschaft zur „Solidarität“ wahrgenommen. Aber was ist heute Solidarität? Ist es der Abstand von 1,5 Metern oder die Hilfsbereitschaft beim Einkauf für die betagte Nachbarin? Das ist gut und wichtig. Aber Solidarität ist mehr. Sie ist eine Haltung und soziale Aktivität, die sich auf die politischen und gesellschaftlichen Strukturen des ganzen Gemeinwesens richtet und über den Augenblick hinausgeht.
Unser sozialstaatliches System, die Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung, die Mitbestimmungs- und Arbeitsschutzgesetze – all das wurde von unseren Vorfahren erkämpft. Es ist, wie Marx formulierte, „geronnene“, also institutionell verfestigte Solidarität früherer Generationen. Und heute? Gewerkschaften vertreten die Interessen der Arbeitenden. Sozialverbände erfüllen sozialstaatliche Normen mit konkretem Leben. Umweltbewegungen und -verbände stehen für eine „Solidarität der Zukunft“, die Bewahrung der natürlichen Grundlagen zukünftigen menschlichen Lebens. Auch diese Organisationen und Aktivitäten gehören zum gesamtgesellschaftlichen „Solidaritätspotenzial“.
Von diesem Reichtum brauchen wir mehr, von der spontanen und der organisierten, der neu entstandenen und der lange aufgebauten Solidarität, die uns so zur Selbstverständlichkeit geworden ist, dass wir ihren Kern kaum noch wahrnehmen. Der Wohlstand der Gesellschaft muss nach der Krise massiv umgelenkt werden in eine mit Sicherheit „systemrelevante“ staatliche und nichtstaatliche Solidarität. Damit unsere Gesellschaft reich genug ist für zukünftige Krisen.
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