+++ 1. Mai Vorab-Live-Ticker +++: Alle allein gegen den Faschismus

1. Mai und fast alles ist abgesagt. Der vorauseilende taz-Liveticker hat trotzdem Bock auf Krawall und wirft aus sicherem Abstand Pflastersteine.

Bunt verkleidete Menschen fordern auf einem plakat die Erbschaftssteuer

Chic gemacht für den Grunewald Foto: Christian Mang

11.00 Uhr, taz-Bunker: Willkommen zum vorauseilenden Liveticker an diesem ganz besonderen Tag der Arbeit. Protestpause wegen Corona – nicht mit uns. Unsere Krawallreporter sind in der ganzen Stadt unterwegs und schauen sich schon mal an, was werden wird.

11.23 Uhr, S-Bahnhof Grunewald: Es fährt eine endlose Karawane Wannen vor. Was erwarten die hier? Den ersten verkaufsoffenen Freitag in diesem Jahr? Villenversteigerung für das niedrigste Gebot? Freibier?

11.25 Uhr, Grunewald: Die PolizistInnen steigen aus ihren Mannschaftswagen. Doch aus jedem steigt nur jeweils eine Person. Corona-Abstandsregel. Vorbildlich.

11.57 Uhr, Brandenburger Tor: Der DGB baut seine Minikundgebung auf. Eben hieß es, der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes sei erschienen. Aber: Wie sieht der aus? Wie heißt der?

12.52 Uhr, Fontanestraße: Social Distancing? Im Grunewald ist das lange eingeübte Praxis. Vom nächsten Nachbarn ist hinter der drei Meter hohen Hecke nichts zu merken. Auch „Stay at home“ lässt sich auf dem Liegestuhl am Pool ganz gut ertragen. Und Homeoffice machen die Wertanlagen ganz allein. Vor dem Zaun rufen ein paar Verwirrte nach „Enteignung“. Oder ist das Einbildung nach dem dritten Aperol Spritz? Zur Sicherheit werden die Boxen lauter gedreht: „Das Leben ist so schön. Wer braucht ein Leben danach.“

13.12 Uhr, U-Bahnhof Kottbusser Tor: Eine Gruppe angeheiterter ItalienerInnen steigt laut singend aus der Bahn aus: „Eins, zwei, Polizei. Drei, vier, Grenadier.“

13.25 Uhr, S-Bahnhof. ­Grunewald: Das Quarantänemanagement Grunewald entscheidet, eine unbeschränkte Ausgehsperre über den Kiez zu verhängen. Grund: Die Jetsetter aus dem Viertel sind als Superspreader eine zu große Gefahr für den sozialen Frieden. Raus darf nur noch, wer sein Haus aufgibt, seine Aktienpakete verkauft und eine Wohnung in einem anderen Teil der Stadt für nicht mehr als den durch den Mietendeckel festgelegten Betrag anmietet.

13.30 Uhr, Adalbertstraße: Die ItalienerInnen singen nicht mehr und sehen ziemlich geknickt aus. Scusi, wo isse das MyFest?

13.33 Uhr, Bürgerpark Pankow: Entgeistert ist auch ein deutscher Deutscher auf der Suche nach dem Wutbürgerfest der AfD: „Sach ma, wo kann ick hier jejen die Asylanten unterschreiben?“ Danke, Merkel.

14.00 Uhr, SO36: Ein in der Oranienstraße wohnender Resident-DJ legt mit zwei riesigen Boxen am offenen Fenster Minimal-Techno für die AnwohnerInnen auf. Stellt sich dabei wohl vor, wie Touri-Massen mit farbigen Sonnenbrillen und Mischbier in der Hand seine Knopfdrückkünste abfeiern. Allerdings wird er bei jedem Basedrop jäh aus seinem Tagtraum gerissen: Statt frenetischen Applauses schreit nur ein Nachbar von unten, dass er die „hedonistische Scheißmucke ausmachen soll – sonst fliegen Steine!“ Von den ItalienerInnen ist auch nichts mehr zu sehen.

15.15 Uhr, Rosa-Luxemburg-Platz: Schlimme Szenen vor der Volksbühne. Nach Jahren, in denen die Deeskalationsarbeit der Polizei und das Betteln der Autonomen um den Friedensnobelpreis den Tag der Arbeit nahezu vollständig befriedet hatten, sorgt ein neuer Akteur für die Rückkehr der Gewalt. Die Verschwörungsideologen und Rechten, die sich hier die sechste Woche in Folge treffen, gehen erstmals zum Angriff über. Hunderte hustende Menschen bedrängen PolizistInnen. Die Speicheltröpfchen der CoronaleugnerInnen überwinden die Schlagstockdistanz spielend. Ein Einsatzleiter mit hochrotem Kopf funkt panisch nach Wasserwerfern. Die erste Hundertschaft rennt davon. Aluhüte werden ihr hinterhergeschmissen. „1. Mai bullenfrei“, schallt es über den Platz. Dazu immer wieder: „Grundgesetz! Grundgesetz!“

15.30 Uhr, Görlitzer Park: Vor lauter Polizeipräsenz plus Unterbeschäftigung der stiernackigen Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten aus anderen Bundesländern können die DealerInnen im Görli nicht mehr in Ruhe Drogen verkaufen. Immer wieder werden vor allem Menschen mit schwarzer Hautfarbe von PolizistInnen drangsaliert und müssen sich ausweisen. Später deutet Bodo Pfalzgraf, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, die Schikanen zum Erfolg um. Er lässt sich in einer eilig verschickten Pressemitteilung mit den selbstgefälligen Worten zitieren: „Dank des beherzten Einsatzes unserer Kollegen am 1. Mai konnten wir das Gefahrengebiet um den Görlitzer Bahnhof befrieden – zumindest an diesem Tag gab es im dem Park, diesem Vortor zur Hölle, keine Drogen zu kaufen oder Menschen, die sich wie sonst in aller Öffentlichkeit Haschisch spritzen.“

16:23 Uhr, Rosa-Luxemburg-Platz: Die Lage hat sich beruhigt seit Ken Jebsen über sein Videoportal Ken FM zu Ruhe und Meditation aufgerufen hat. Die eben noch Militanten rekeln sich nun auf dem Rasen. Auf dem Absatz vor der Volksbühne gibt der als „Volkslehrer“ bekannte Nikolai Nerling den Vorturner. Der AfD-Abgeordnete Gunnar Lindemann steht enttäuscht am Rand. Er mag lieber Randale als Besinnung.

16.35 Uhr, Bürgerpark Pankow: Der deutsche Deutsche tritt vor lauter Wut gegen einen Mülleimer und schüttet sich dabei sein Dosenbier über die Jogger. Stört zum Glück kaum beim Hitlergruß. Danke, Merkel.

30. April: 17 Uhr: Walpurgisnacht-Kundgebung der Initiative Hände weg vom Wedding. Ort bleibt ungenannt, da die Veranstaltung auf 20 Teilnehmende beschränkt ist.

1. Mai: 11 Uhr: 1.-Mai-Livestream des DGB mit Rede- und Musik­beiträgen, Interviews und Filmen

13 Uhr: Kundgebung der Berliner Aktion gegen Arbeitsgeber­unrecht am Urbanhafen: „Wir wollen nicht für Eure Krise zahlen“

14 Uhr: Kundgebung des MyGruni-Bündnisses im Grunewald und Start des Livestreams

15.30 Uhr: Verschwörerkundgebung am Rosa-Luxemburg-Platz

18 Uhr: Beginn des Revolutionären 1. Mai in Kreuzberg.

16.30 Uhr, Hasenheide: Die Dealer verkaufen ihren Stoff jetzt einen Park weiter. Nach kurzer Zeit ist jedoch auch dort eine Polizeihundertschaft vor Ort. Die allerdings konfisziert nur den Stoff und ergreift keine weiteren Schritte. Später stellt sich heraus, dass es sich bei der Hundertschaft um die Berliner Partybullen von G20 handelt, die sich heute Abend noch zur Einsatznachbesprechung in der Asservatenkammer treffen wollen.

17.30 Uhr, Oranienstraße: Die Mülleimer sind ungewöhnlich leer für diese Jahreszeit. Die BSR meldet für heute Kurzarbeit an.

17.59 Uhr, Görlitzer Bahnhof: Einkaufswütige Menschen stürmen den Bolle (oder heißt der inzwischen Kaiser’s?) am Görlitzer Bahnhof, plündern Klopapier, Seife und Desinfek­tionsmittel. Die Plünderer halten sich zwar nicht an den Mindestabstand, sind aber zumindest vorbildlich vermummt. Die Polizei sieht keinen Grund zum Eingreifen.

18.20 Uhr, Homeoffice: Ein Revolutionär will per Zoom-Konferenz den nächsten klandestinen Protestort bekannt geben. Leider photobomben seine Kinder das Meeting, woraufhin sich die übrigen Autonomen auswählen. Mit Kindern im Homeoffice könne man ja wohl keine Revolution anzetteln, schreibt noch jemand in den Gruppenchat. „Die bürgerliche Kleinfamilien ist der Tod für die Bewegung!“, tippt eine andere Person, gefolgt von mehreren Pflasterstein-Emojis.

18.21 Uhr, SO36: Moment mal. ZOOM;!!!1!1!! Dann könnten sie ja gleich Adidas-Schuhe tragen oder Amazon benutzen. Oh wait...

19.00 Uhr, Naunynstraße: Menschen stellen sich auf ihre Balkone und beklatschen die Arbeit der Pflegekräfte im Gesundheitssystem. Eine zufällig nach einer 12-Stunden-Schicht vorbeikommende Altenpflegerin ruft zurück: „Behaltet euren Applaus und gebt mir 4.000 Euro brutto, ihr Ausbeuter!“

20.30 Uhr, Wiener Straße: Im Vorfeld hatten Autonome angekündigt, den Infektionsschutz ernst zu nehmen, auch um der FDP eins auszuwischen. „Alle allein gegen den Faschismus“ lautet die ausgegebene Parole. In SO36 sieht man nun, was das heißt: Am Mariannenplatz buddelt ein Vermummter einen Stein aus der Erde, ums Eck hämmert ein anderer auf die Glasfassade eines Burger-Ladens ein. Am Görlitzer Bahnhof steht eine Polizeikette, etwas löchrig wegen der 2-Meter-Abstände. Ihr gegenüber ein einzelner Steinewerfer. Alles safe in Kreuzberg!

20.45 Uhr, taz-Bunker: Wir danken für die Aufmerksamkeit und wünschen allen LeserInnen einen gesunden und kämpferischen 1. Mai!

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