Sofi Oksanen über Kindesentführungen: Vor den Augen der Welt
Unzählige Satellitenaufnahmen zeigen, wie das russische Regime ukrainische Kinder entführen lässt. Warum sind wir nicht in der Lage, Verbrechen klar zu benennen?
Als ich klein war, begannen meine estnischen Cousins und Cousinen, die ein wenig älter waren als ich, sich Sorgen um ihre Größe zu machen. Ihr Vater war klein für einen Mann, und seine Kinder fragten sich, ob sie ebenfalls so klein bleiben würden. Doch so kam es nicht – ihr Vater war einen Kopf kleiner als ich, doch seine Nachkommen wurden groß, viel größer als ich.
Dass ihr Vater von kleiner Statur war, hatte einen Grund. Im März deportierte 1949 die Sowjetunion 20.073 Menschen aus dem von den Sowjets besetzten Estland, und er war mit vierzehn Jahren einer davon. In Sibirien überlebte er, indem er Kartoffelschalen aß, und verlor so einige Zentimeter Wachstum, kehrte aber im Gegensatz zu vielen anderen lebend zurück. Die Kindersterblichkeit unter den Deportierten war hoch.
Das als Gulag bekannt gewordene Lagersystem sollte eigentlich ewig bestehen, wurde aber in den Jahren nach Stalins Tod 1953 abgebaut, worauf die Insassen nach jahrelanger Lagerhaft wieder in die Gesellschaft entlassen wurden. Die Mehrheit hatte kein Zuhause, in das sie zurückkehren konnten. Was sie besessen hatten, war konfisziert worden. In Estland waren russische Siedler in ihre Häuser gezogen. Mein Onkel hatte in Sibirien wie die anderen Deportierten fließend Russisch zu sprechen gelernt, doch das half ihm bei den Problemen nicht weiter, vor denen er nach seiner Rückkehr in die Heimat stand: Weil sein Schulbesuch mit der Verschleppung geendet hatte, besaß er kein Zeugnis über irgendeinen Schulabschluss, was er aber für jede Art der Weiterbildung benötigte.
So wie auch für die Jobsuche. Schließlich gelang es ihm, einen Platz in einer Fahrschule zu ergattern, deren Leiter Mitleid mit ehemaligen Lagerinsassen hatte. Nicht alle zeigten so viel Verständnis – viele mieden den Kontakt mit Menschen, die das Stigma ehemaliger Volksfeinde trugen. Doch mit einem Führerschein konnte er sich Arbeit in einem Holzfällerlager besorgen, wo er den Holzlaster fuhr.
Herkunft als einziges Verbrechen
Mein Onkel war nicht deportiert worden, weil er irgendetwas GETAN hatte. Als Teenager hatte er sich nicht an antisowjetischen Aktivitäten beteiligt; er war kein „Waldbruder“ gewesen, kein Widerstandskämpfer wie mein Großvater. Er war nicht wie die Brüder meiner Großmutter, die gegen die Besatzer zu den Waffen gegriffen hatten und, gejagt vom sowjetischen Geheimdienst NKWD, ums Leben gekommen waren. Und er war auch nicht wie der Bruder meines Großvaters, der ebenfalls verschleppt wurde – allerdings als Erwachsener – und in dessen Akten sich immerhin der Vermerk befindet, dass er wegen Verbrechen gegen die Sowjetunion verurteilt worden war, mit dem Datum des Urteils daneben. Mein Onkel hingegen wurde in den sowjetischen Schauprozessen nie wegen irgendetwas verurteilt.
Er wurde als Kind nur aus einem einzigen Grund verschleppt: Er war Este – Sohn estnischer Eltern, Kind eines Mannes, der bereits Jahre zuvor wegen Widerstands gegen die sowjetische Besatzung ins Lager gekommen war.
Das Stigma der Deportation folgte meinem Onkel sein ganzes Leben, so wie allen Deportierten. Während der Perestroika wurden viele von ihnen rehabilitiert, doch zu dem Zeitpunkt war mein Onkel bereits Rentner. Immerhin konnte der sowjetische Terror jetzt öffentlich angesprochen werden. Vorher redete man nur in vertrauenswürdiger Gesellschaft darüber. Doch selbst diesen Menschen gegenüber verwendeten wir Euphemismen wie „das kalte Land“ statt Wörtern wie „Verschleppungen“. Wir sprachen über Menschen, die „geholt wurden“, und niemand musste aussprechen, wohin sie gebracht wurden, das wussten wir alle.
Als während des russischen Überfalls auf die Ukraine die Verschleppung ukrainischer Kinder ans Licht kam, erregte das weltweit Aufmerksamkeit. Ich war jedoch erstaunt, wie schnell das Thema wieder aus der medialen Öffentlichkeit und der politischen Diskussion verschwand. Kürzlich traf ich eine Journalistin, die nach meiner Rede über die Deportationen überrascht war, weil sie dachte, das Problem müsse doch schon gelöst worden sein, und als ich sie fragte, wie sie denn darauf komme, antwortete sie, wenn so etwas geschehe, dann erwarten wir von den zuständigen Regierungen und Behörden, dass sie das Problem lösen, und wenn nicht mehr darüber berichtet werde, nehmen wir an, dass genau das geschehen sei, denn sonst bekämen wir ja ständig weitere Berichte, oder?
Nur wenige Kinder kehrten zurück
Seit Russland nach der Besetzung der Krim 2014 mit den Deportationen begann, habe ich zu begreifen versucht, wieso diesem Verbrechen so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Bisher sind etwa 35.000 ukrainische Kinder nach Russland verschleppt worden, und nur wenige von ihnen konnten zurückkehren.
Während der sowjetischen Besatzung der baltischen Staaten versuchten wir, uns mit Hilfe von Euphemismen und dem Schreiben und Lesen zwischen den Zeilen zu schützen. Darin mag aber vielleicht auch einer der Gründe liegen, warum die Reaktion der westlichen Staaten auf die Deportationen so schwammig ausfällt. Wegen des Eisernen Vorhangs haben wir fünfzig Jahre verloren, um unsere Geschichte, unsere großen Ereignisse, unsere großen Erzählungen im Bewusstsein des Westens zu verankern.
Nachdem die Est:innen ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, begannen sie sofort, sich auch von der Sprache der Sowjetunion zu dekolonisieren, doch inzwischen ist deutlich geworden, dass es nicht gereicht hat, und wie sollte es auch?
Die westlichen Länder haben den kolonialen russischen Blick bereits während der Zarenzeit übernommen, und die Sowjet-Ära hat daran nichts geändert. In den baltischen Staaten gehören Deportationsgeschichten zu den wichtigsten Identitätserzählungen, doch für den Westen existieren sie nicht oder gehören bloß zur Lokalgeschichte. Der frühere Ostblock – der die Hälfte von Europa ausmacht – hat die Erfahrung zweier unterschiedlicher totalitärer Systeme gemacht, und trotzdem ist unsere Erfahrung immer noch nicht anerkannter Teil der gemeinsamen Erzählung des europäischen Kontinents geworden. Sie wurde nie zu einer historischen Erinnerung des gesamten Europas.
Klare Wortwahl
Die Ukrainer:innen bezeichneten die Deportationen, als sie begannen, zu Recht als Verschleppungen und Entführungen. Das sind klare, präzise und verständliche Wörter. Diese Wortwahl war klug, denn die Ukrainer:innen mussten die Information über das Geschehen in einer Weise verbreiten, die auch für Menschen verständlich war, die nichts über ukrainische Geschichte wussten oder über die vorherigen Deportationen, verständlich für Menschen, die den russischen Blick übernommen hatten, ohne sich darüber im Klaren zu sein, und hätte ich es besser gewusst, als ich vor über zwanzig Jahren über genau dieses Thema zu schreiben anfing, ich hätte genau diese Wörter gewählt.
Aber das hätte ich gar nicht gekonnt, denn als meine ersten Bücher in den 2000er Jahren veröffentlicht wurden, hatte Russland den Kampf gegen die Geschichte und die Fakten bereits begonnen. Ich verwendete die Wörter aus Geschichtswissenschaft und Forschung, damit deutlich wurde, dass ich über Ereignisse schrieb, die im echten Leben passiert waren, über Verbrechen, die von internationalen, unabhängigen Forscher:innen untersucht worden waren.
Zum russischen Vorgehen, das wahre Wesen der Deportationen zu leugnen, gehört auch das Verhöhnen der Opfer. Als die Prozesse gegen die Menschen begannen, die an den Deportationen in Estland beteiligt waren, verwandelten die russischen Medien die Gerichtsverhandlungen in eine Zirkusschau, in der russische Kinder den Tätern Nelken brachten und sie als Helden verehrten. Sie können sich sicher vorstellen, wie sich das anfühlte, wenn ich Ihnen sage, dass wir das Leugnen der Verschleppungen so ernst nehmen wie das Leugnen des Holocausts.
Doch ich habe den Eindruck, dass niemand sonst diese russischen Desinformationskampagnen ernst nahm. Der Kreml wertete das als schweigende Zustimmung, was ihn im Glauben bestärkte, bei den nächsten Deportationen würde die Reaktion genauso ausfallen, und als sie dann in der Ukraine losgingen, verwendete Russland sogar die gleichen Formulierungen wie die putinistischen Aktivist:innen damals, als ich über die Deportationen der 1940er zu schreiben begann. Sie nannten die Lager zu der Zeit „Sommerlager“ und die Verschleppung „Sommerferien“. Jetzt stiehlt Russland ukrainische Kinder unter dem Vorwand, sie in Ferien- und Sommerlager zu bringen, und das können sie tun, weil sich im internationalen Kontext niemand widersetzt hat, als sie historische Fakten verzerrten.
Verfassungsänderungen von 2020
Das Wesen früherer Deportationen abzustreiten, ist für die Russische Föderation so wichtig, dass die Verbreitung von Informationen über diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Russland inzwischen eine Straftat ist.
Als Russland 2014 die Halbinsel Krim annektierte, wurde die Glorifizierung der Sowjetunion ins Strafgesetzbuch der Russischen Föderation aufgenommen: Es ist eine Straftat, „Falschinformationen“ über das Vorgehen der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg zu verbreiten. Aus unserer Perspektive bedeutet das zum Beispiel, dass wir gehindert werden, Informationen über unsere Deportationserfahrungen zu verbreiten.
Die Verfassungsänderungen von 2020 waren ein Schlachtruf und hätten früher oder später unweigerlich zu einer Eskalation der Kämpfe in der Ukraine geführt, denn sie bestreiten die Unabhängigkeit der Ukraine. Artikel 67.1 gliederte die Verfassung der Russischen Föderation in die „tausendjährige Geschichte“ Russlands ein und nahm damit Bezug auf das Reich der Kiewer Rus (862-1242), das Vorläufer-Staatsgebilde des heutigen Russlands, von Belarus und der Ukraine.
Nach der von Russland gefälschten Geschichte bedeutet diese Kiewer Rus, dass Russ:innen, Ukrainer:innen und Belaruss:innen zu einem vereinten Volk gehören. In dieser Geschichtsprojektion sind Russland, die Ukraine und Belarus keine eigenständigen Nationen, sondern eher Bevölkerungsgruppen der Kiewer Rus, die gemeinsam die Russische Föderation bilden.
Artikel 67.3 der Verfassung der Russischen Föderation „ehrt die Erinnerung an die Verteidiger des Vaterlandes und sorgt für den Schutz der historischen Wahrheit.“
Diese Entwicklung steht im Gegensatz zu den Jahren der Perestroika, als die Deportationen zu rechtswidrigen, kriminellen Handlungen des stalinistischen Regimes erklärt wurden, zum ersten Mal 1956, dann wieder von 1989 bis 1991.
Den Weg geebnet für zukünftige Deportationen
Doch Russlands älteste Menschenrechtsorganisation, die das Gedenken an die Opfer sowjetischer Verbrechen wachhält und Daten dazu sammelt – Memorial – wurde 2015 als „ausländischer Agent“ eingestuft, und 2021 ordnete das Oberste Gericht Russlands die Auflösung der Organisation an. Die Anklage behauptete, Memorial „erzeuge ein falsches Bild der Sowjetunion als terroristischer Staat“.
All das ebnete den Weg für die zukünftigen Deportationen und die Umerziehung ukrainischer Kinder. Die Aktualisierung traditioneller Deportationspolitik geschieht nicht über Nacht. So etwas erfordert langfristige Planung, und als Russland mit der Invasion begann, war der Plan zur Entführung ukrainischer Kinder bereits vorhanden.
Solche Taten brechen zwar das Völkerrecht, aber innerhalb der Russischen Föderation sind sie legalisiert worden. In den letzten beiden Jahren hat Putin persönlich Gesetzesänderungen in die Wege geleitet, welche die rasche Einbürgerung ukrainischer Kinder erleichtert, und hat staatliche Mittel zur Finanzierung dieser Initiativen bereitgestellt. Unter präsidialer Verwaltung stehende Einrichtungen haben diese Kinder beherbergt, und das Präsidialamt hat Adoptions-Datenbanken finanziert. Die Mitwirkung von Sicherheitsdiensten war integraler Bestandteil der Operation.
Drei Wellen von Deportationen
Nicht zum ersten Mal leidet die Ukraine durch solche Verbrechen, verübt durch denselben Aggressor. Zwischen 1925 und 1941 sah sich die Ukraine drei Wellen von Deportationen ausgesetzt, die alle eine „Ent-Ukrainisierung“ zum Ziel hatten und in deren Verlauf 10-20 Prozent der Bevölkerung verschleppt wurden. In Estland kam es im Juni 1941 zu den ersten massenhaften Deportationen, wobei etwa ein Drittel der Entführten Kinder und Jugendliche waren. Bei den März-Deportationen, denen mein Onkel zum Opfer fiel, war das Verhältnis das gleiche. Ähnliche Operationen wurden zeitgleich in den anderen sowjetisch besetzten baltischen Staaten durchgeführt, und auch vor der Gründung der Sowjetunion hatte das Russische Reich seine imperialen Ziele bereits mithilfe umfassender Deportationen verfolgt.
Auch aus Finnland wurden Kinder gestohlen. Unsere Nationalerzählung „Die Birke und der Nordstern“, verfasst von Zacharias Topelius und 1852 veröffentlicht, beruht auf der wahren Geschichte von Kindern, die während der russischen Besatzung des Landes als Sklaven nach Russland verschleppt wurden. Doch damals gab es noch keine Eisenbahnen, die später für massenhafte Deportationen genutzt wurden. Und in den 1940er Jahren hatten sie nicht genug Flugzeuge, um Zehntausende Menschen zu deportieren, aber sie hatten Züge und Viehwaggons. Das System entwickelt sich weiter: Deportierte werden dorthin geschickt, wo sie gebraucht werden. In den 1940ern brauchte man Arbeiter für die Bergwerke und den Eisenbahnbau. Heute konzentriert man sich wegen der demografischen Probleme auf Kinder, und statt die Deportierten wie früher in Lagern oder Exilgemeinden zu isolieren, werden sie jetzt in die russische Gesellschaft assimiliert. Doch beide Methoden haben das gleiche Ziel – die nationale Identität der betroffenen Gruppen auszulöschen – und sind daher genozidale Praktiken.
Auch heute sind erzwungene Umsiedlungen ein fundamentaler Bestandteil der imperialen Leitlinien Russlands. Nach der Beseitigung von Bevölkerungsgruppen, die für die Besatzungstruppen unerwünscht sind, folgt die nächste Phase, nämlich die Russifizierung der Verbliebenen. Russische Siedler:innen werden herbeigeschafft, um die deportierten Gemeinschaften zu ersetzen. Diese Methode wurde bei der Besetzung der baltischen Staaten angewandt, und diese Methode setzt Russland nun in den Territorien ein, die es der Ukraine gestohlen hat.
Als die Welt 1945 das Ende des Zweiten Weltkriegs feierte und Estlands zweite Besatzung durch die Sowjets begonnen hatte, bestand die Bevölkerung Estlands zu 97,3 Prozent aus Esten. 1989 war dieser Anteil auf 61,5 Prozent gesunken. Das zeigt, wie effektiv diese russische Kolonisierungsmethode ist, doch in meiner Schulzeit wurde überhaupt nicht darüber gesprochen. Als ich für meinen Debütroman recherchierte, fand ich bei meiner Google-Suche nichts über russischen Kolonialismus, von Dekolonisierung ganz zu schweigen. Während meines Studiums an der Universität Helsinki stand nichts über russischen Kolonialismus auf meinen Lektürelisten. Als ich mich mit Gender Studies beschäftigte, war Dekolonisierung der Begriff der Stunde, aber das bezog sich nicht auf Russland oder Osteuropa. Es ging nur um den westlichen Übersee-Imperialismus. Nicht um den östlichen Siedlerkolonialismus, der zu Pferd vorangetrieben wurde.
Koloniale Assimilierungspolitik zeigt Wirkung
Dank der Ukraine ist die Situation inzwischen besser, aber der russische Blick lässt sich nicht innerhalb weniger Jahre dekolonisieren. Als ich meine ukrainische Freundin fragte, warum ihrer Ansicht nach die westliche Reaktion auf die Deportationen so windelweich ausfällt, gab sie mir eine düstere Antwort: „Die halten uns immer noch für Russen.“ Wenn das stimmt, ist die koloniale Assimilierungspolitik Russlands wirksamer, als man glauben möchte, denn sie betrifft nicht nur die Menschen in den von Russland kontrollierten Gebieten, sondern auch Menschen, die außerhalb Russlands leben. Sie hat auch Ihr Denken, Ihre Weltsicht, Ihre Werte und moralischen Maßstäbe beeinflusst.
Russlands Kolonialpolitik ist so effizient, dass das westliche Sprechen über den Krieg überhaupt nicht den zentralen Aspekt des Krieges betont, seine eigentliche Ursache, mit dem die Deportationen so unmittelbar verknüpft sind. Und genau darum kann die Friedensrhetorik, die sich nur auf Grenzverläufe fixiert, auch niemals zu einem nachhaltigen und gerechten Frieden führen. Im Herzen des Krieges liegt Identitätspolitik: Ukrainer:innen sind keine Russ:innen und wollen auch keine Russ:innen werden, während Russland die Ukrainer:innen um jeden Preis zwingen will, Russ:innen zu werden. Darum stehen diese Kindesentführungen auch im Zentrum des Konflikts: Russland stiehlt ukrainische Kinder, um sie zu Russ:innen umzuerziehen, und sie tun das ganz offen, ohne es zu verbergen.
Das ist der Unterschied zu den Massendeportationen der 1940er. In der Sowjetunion ließen sich Deportationen leicht vor der Welt verbergen. Die Kommunikation mit er Außenwelt war unterbrochen, Briefe wurden zensiert, Deportationszügen durfte man sich weder zu Fuß noch auf dem Fahrrad nähern, es war unmöglich, an sie heranzutreten, geschweige denn Fotos von ihnen zu machen. Jetzt hingegen kann die ganze Welt Russlands Vorgehen beobachten; Satellitenaufnahmen zeigen Busse, die an Flughäfen auf die Kinder warten, die in Flugzeugen des Präsidenten hergebracht wurden. Das scheint Russland jedoch gar nichts auszumachen.
Ganz im Gegenteil. Sie verdrehen die Sichtbarkeit ihrer Taten, indem sie die Deportationen als „Evakuierungen“ oder „Rettungsmaßnahmen“ verschleiern. Diese Taktik, Kindesentführungen als wohltätige Akte zu verkleiden, passt zur umfassenderen Erzählung des Kremls, die Russland als Retter darstellt. Das Narrativ von der Errettung dieser Kinder dient also auch innenpolitischen Zwecken, es soll Unterstützung für das generieren, was „militärische Spezialoperation“ genannt wird.
Am hellichten Tage
Diese Öffentlichkeitsarbeit könnte auch ein Grund für die schwache Reaktion der westlichen Staaten sein. Vielleicht ist ein Präsidialflugzeug ein zu eigenartiges Transportmittel für die Entführung von Kindern? Oder vielleicht liegt es einfach daran, dass diese Verbrechen am helllichten Tage begangen werden? Denn wer begeht schon schamlos ein Verbrechen vor aller Augen im hellen Tageslicht?
Oder vielleicht nutzt Russland mit dieser ganzen Sichtbarkeit, den Hunderten von sogenannten „Freizeitlagern“ und den Präsidentenflugzeugen auch nur die Legende der „Großen Lüge“: Laut Adolf Hitler lassen sich Menschen dazu bringen, eine kolossale Lüge zu glauben, einfach weil sie nicht glauben können, dass jemand „die Unverfrorenheit besitze, die Wahrheit so ungeheuerlich zu verdrehen“.
Vielleicht rührt die schwache Reaktion aber auch nur daher, dass die Menschen des Westens einfach das Verbrechen nicht erkennen.
Und wer nicht in der Lage ist, das Verbrechen zu IDENTIFIZIEREN, wird auch nicht darauf reagieren können.
Breites Wissen über NS-Verbrechen
Wir haben eine ungeheure Menge von öffentlichen Erzählungen über Nazi-Verbrechen.
Jedes Jahr erscheinen unzählige Bücher dazu überall auf der Welt – denn, wie ein Verleger es einmal ausdrückte, Nazis verkaufen sich immer. Die Streamingdienste bringen fast jeden Monat neue Filme und Serien über Deutschland unter Hitler heraus. Forscher:innen graben immer neue Daten und Perspektiven zum Thema aus – und offenbar werden sie in dieser Arbeit auch gefördert und finanziert, was ganz richtig so ist.
Dank dieser kulturellen Aufmerksamkeit können wir die Gefahren des Nationalismus erkennen – solange es nicht um Russland geht.
Weil Nazis faszinieren, können wir die Anzeichen ethnischer Verfolgung erkennen – solange der Verfolger nicht Russland heißt.
Unsere Faszination mit dem Nationalsozialismus erlaubt es uns, Antisemitismus zu entdecken, auf Rassismus zu reagieren, und das können wir nur, weil wir gelernt haben, diese Übel offen und laut zu benennen, und weil wir eine moralische Einschätzung dieser Übel teilen – jedenfalls in der westlichen Welt.
Wenig Wissen über Verbrechen des sowjetischen Regimes
Im Gegensatz dazu ist die Anzahl der Bücher, die sich mit den Verbrechen des Kommunismus, der Sowjetunion oder Russlands beschäftigen, ungleich geringer. Der Unterschied ist gewaltig. Wollten wir diesen Abstand verringern, würde das nicht Jahre dauern, sondern Generationen.
Wer an diesem Ungleichgewicht zweifelt, kann ja selbst nachzählen: Durchsuchen Sie alle Datenbasen und Streamingdienste und sehen Sie selbst, wie viele Arbeiten Sie über die Menschenrechtsverbrechen kommunistischer Regime finden – und wie viele über die der Nazis.
Jeder Mensch weiß, wer Mengele ist, aber könnten Sie einen einzigen Namen der Ärzte nennen, die in der UdSSR in Giftlabors oder an Menschenversuchen arbeiteten? Wie viele Bücher über die Strahlentests an Gulag-Insassen in der Sowjetunion haben Sie gelesen? Wie viele Filme zu dem Thema haben Sie gesehen? Zu Recht kennt jeder Mensch den Namen Anne Frank, aber könnte irgendjemand den Namen eines Mädchens nennen, das nach Sibirien deportiert wurde und dort ums Leben gekommen ist?
Unser moralischer Kompass richtet sich an öffentlichen Narrativen aus – an Büchern, Filmen, Fernsehserien, Nachrichten und Reportagen. An Kunst.
Wenn es über ein bestimmtes Verbrechen nicht genug öffentliche Erzählungen gibt, können sich Politiker:innen, Journalist:innen und Entscheidungsträger:innen keine klare Meinung bilden. Ihre Entscheidungen fallen schwammig, zögerlich, schwach aus. Jeder veröffentlichte Titel ist ein Beweis für die Bedeutung des Themas. Ist die Liste der Titel kürzer, wirkt auch das Thema kleiner. Weniger wichtig.
In einer Blase der Wissenschaft
Natürlich gibt es akademische Forschung zu den Deportationen, und im Lauf der Jahre habe ich an zahlreichen Konferenzen zu den Verbrechen der Kommunisten teilgenommen, doch erst bei den jüngsten Deportationen und der schwächlichen Reaktion darauf ist mir klar geworden, dass ich mich in einer Blase bewegt habe, indem ich mich nur mit Kolleg:innen traf, die über das gleiche Thema schrieben. Forschungen auf einem bestimmten Gebiet verwandeln sich nicht notwendig in allgemeines Bewusstsein. Informationen sind kein Wissen. Wissen ist nicht gleich allgemeines Verständnis.
Ohne ein Bewusstsein dieser Verbrechen können wir die Warnsignale nicht erkennen, und das geht auch nicht, wenn wir die historische Verbindung zwischen den gegenwärtigen Deportationen und den früheren nicht sehen. Wenn Sie nicht wissen, dass dies schon einmal geschehen ist, können Sie das Muster nicht erkennen, den Kontext nicht sehen, die Tradition nicht wahrnehmen, die solche Praktiken ermöglichen, und wenn Sie das nicht sehen, dann verstehen Sie auch nicht, dass wir nicht bloß die verschleppten Menschen aus Russland zurückholen müssen, sondern auch diese Praxis stoppen, die einen 80 Jahre alten Schutzschild zerstört, der Kinder bisher geschützt hat.
Die Genfer Konventionen wurden geschaffen, um dafür zu sorgen, dass Kinder nicht wie Kriegsgefangene oder Agenten behandelt werden. Namentlich das vierte Genfer Abkommen IV enthält Vorschriften zum besonderen Schutz von Kindern. Wenn Putins Regierung solche internationalen Vereinbarungen zum Kinderschutz ignoriert, will der Kreml damit demonstrieren, dass Regeln und Vereinbarungen keine Rolle spielen, und wenn wir diese Verbrechen ignorieren, wird Russlands Beispiel einen Präzedenzfall schaffen, dem andere Länder nacheifern können.
Wir alle haben politische Führungskräfte gehört, die Donald Trumps Worte „#Stop killing / Stoppt das Töten“ nachbeten wie ein Mantra. Aber haben Sie irgendjemanden sagen hören: „Stoppt die Deportationen“? Ich nicht. Das hat niemand gesagt. Die Massenverschleppungen, die meinen Onkel aus seiner Heimat rissen, fanden in den baltischen Staaten im Jahr 1949 statt – Jahre, nachdem der Westen das Ende des Zweiten Weltkrieges gefeiert hatte. Auch sein Vater wurde nach Kriegsende deportiert. Ebenso der Bruder meines Großvaters. Ein Friedensschluss oder ein Waffenstillstand beendet nicht irgendwie automatisch die Verschleppung von Ukrainer:innen durch Russland. Die Besatzung ist eine Fortsetzung des Krieges, und auch wenn Sie glauben, eine Beendigung des „heißen“ Krieges könnte das Leiden beenden: So ist es nicht – es wird dadurch nur unsichtbar für Sie.
Bevölkerungskontrolle
Russland nutzt immer wieder dieses Instrument des „demographic engineering“, der Bevölkerungskontrolle und -manipulation, weil es das kann. Weil diese Verbrechen ungesühnt bleiben. Weil die demografische Situation Russlands sich nicht bessert und das Land Kinder braucht. Es braucht Kinder, die zu Männern heranwachsen, die Russlands Kriege führen, und zu Frauen, die zukünftige Soldaten gebären, und darum ist dies auch Ihr Problem.
Selbst wenn Sie nicht in der Lage sind, das Verbrechen zu erkennen, bedeutet das nicht, dass es Sie nichts angeht, und genau das ist ein entscheidender Teil des Problems. Ihnen tun vielleicht die ukrainischen Eltern leid, die ihre Kinder verloren haben, aber Sie glauben nicht, dass es auch Ihnen passieren könnte. Sie sehen keine Masken tragenden russischen Soldaten, die Ihre Kinder mit vorgehaltener Waffe in einen Bus zwingen. Sie glauben, so etwas könne Ihnen in Mitteleuropa nicht zustoßen. Aber wenn Sie glauben, das ginge Sie nichts an, dann entgeht Ihnen Russlands Motivation für den Raub ukrainischer Kinder.
Als der Winterkrieg im Jahr 1939 begann und die Sowjetunion in Finnland einzumarschieren versuchte, war die Mehrzahl der Soldaten der Roten Armee keine Russen. Oh nein, nein, sie kamen aus den Kolonien, viele waren Ukrainer, denn der Kreml schützt seine Zentralmacht, schützt seine Moskauer und will die Kolonien schwach halten, und darum schickt er die ethnischen Minderheiten des Reiches zum Kämpfen in seine Kriege.
Sie benutzen die ukrainischen Kinder als Bauernopfer, sie wollen damit den Widerstand der Ukraine brechen, aber sie stehlen ukrainische Kinder auch, weil sie aus ihnen neue russische Soldaten formen wollen. Sie stehlen ukrainische Kinder, um eine neue Generation von Soldaten heranzuziehen, die gegen Sie, gegen euch kämpfen, gegen eure Kinder oder eure Enkel. Sie erziehen die entführten Kinder um, erziehen sie zum Hass auf den Westen. Zum Hass auf euch.
Übersetzung: Ingo Herzke
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