Social-Media-Sucht: Von der Freiheit, wollen zu können, was man wollen will
Wem es schwerfällt, vor dem Schlafengehen das Handy wegzulegen, der hat keinen freien Willen. Ein Plädoyer für das Deinstallieren der Sucht-Apps.

B is vor Kurzem lief bei meiner Handysucht alles bestens: Instagram und Tiktok waren seit einem Jahr von meinem Endgerät verschwunden, meine Bildschirmzeit war auf ein Minimum geschrumpft, nur ab und zu gönnte ich mir ein paar Minuten Hirntod auf Youtube.
Doch dann fuhr ich für die taz auf Recherche, bei der auch Inhalte auf Insta gewünscht waren – und schwups landete die App wieder auf meinem Telefon. Zunächst war es harmlos: Ich produzierte Videos, schaute sie mir an, legte das Ding wieder weg. Aber dann blieb ich doch mal bei einem unschuldigen Bissen Foodporn hängen, und ohne zu wissen, wie mir geschah, versank ich wieder in den Tiefen des Algorithmus und fand mich um halb 2 nachts im Bett wieder, während ich einem kleinen Mann mit Schnurrbart dabei zusah, wie er beim Versuch, einen Michael-Jackson-Moonwalk hinzulegen, rückwärts in einen Pool fällt. 8,3 Millionen Menschen gefällt das. Und ich hing wieder an der digitalen Nadel.
Wem es schwerfällt, vor dem Schlafengehen das Handy wegzulegen, der hat keinen freien Willen. Zumindest würde der 2023 verstorbene US-amerikanische Philosoph Harry Frankfurt das so sehen. Frankfurt, der auch für eher unsympathische Positionen zu Ungleichheit bekannt ist, hat sich bei diesem Thema recht einleuchtende Gedanken gemacht, nämlich: Willensfreiheit bedeutet, wollen zu können, was man wollen will.
Klingt komplizierter, als es ist: Laut Frankfurt haben Menschen Wünsche erster und zweiter Stufe: Auf der ersten Stufe kann ich mir wünschen, mein Telefon zu ergreifen und stundenlang Kurzvideos zu schauen, bis meine Augen viereckig werden. Auf der zweiten Stufe kann ich mir wünschen, diesen Wunsch nicht zu haben, weil er mich doof und zu einem von US-amerikanischen Tech-Konzernen fremdbestimmten Zombie macht.
Vieles nicht mitbekommen
Vereinfacht kann man mit Frankfurt von freiem Willen sprechen, wenn man fähig ist, zu kontrollieren, welche Wünsche erster Stufe handlungswirksam werden – also wenn man sich wünscht, nicht dem Drang nachzugeben, auf dem Klo auf den Insta-Button zu drücken – und es dann auch nicht tut.
Da ich das nicht kann, ist mein Wille unfrei. Schön und gut: Aber fehlt mir nicht auch was ohne Zugang zur dopamintriefenden Welt der Styletipps und Streetinterviews?
Denn wer den Schlüssel zu Zuckerbergs Zuckerbox wegwirft, wird nicht nur weniger vollgedröhnt, sondern bekommt (traurig, aber wahr) auch vieles nicht mit – das Meme, das der neue Insidejoke der Arbeitskolleg:innen wird, bei dem nur du nicht mitlachst, die Party im Lagerhaus, die man natürlich nicht auf rausgegangen.de findet, oder der Clip aus dem Krisengebiet, den der Betroffene selbst hochlädt und der es nicht in die „Tagesschau“ schafft.
Ohne das appförmige Opium im Telefon bin ich freier, zu wollen, was ich wollen will. Um meine Handlungsfreiheit – die Frankfurt als Vorlage dient – ist es aber schlechter bestellt: Denn nicht nur wo ein Wille ist, ist ein Weg, sondern auch da, wo mir Social Media die richtige Adresse zur Feier verrät.
Vor einer Woche habe ich die Höllenapp trotzdem wieder gelöscht. Die Party findet jetzt ohne mich statt, digital und analog. Manchmal fühlt es sich eh besser an, frei zu entscheiden, der Langweiler zu sein und dafür morgen keinen Kater zu haben.
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