Siedlungspolitik im Westjordanland: Wenn Straßen teilen
Beit Ummar bekommt gratis eine Umgehungsstraße. Darüber ist der Bürgermeister wenig erfreut. Denn die neue Straße zerstöre Existenzen.
D ie neue Straße wird unsere Stadt in zwei Teile teilen“, sagt Nasri Sabarna, Bürgermeister der palästinensischen Stadt Beit Ummar. Hinter ihm stehen auf sandigen Hügeln eine Reihe von Baggern, Planierraupen und Lastwagen: „Tausende von Quadratmeter östlich der neuen Straße können von unseren Bauern dann nicht mehr erreicht werden.“
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Wie sehr der Verlauf und der Bau von Straßen das Leben von Menschen beeinflussen kann, wird deutlich, wenn man in eine Straße hineinzoomt, die sich einmal längs durch Israel und das Westjordanland zieht: die Straße Nummer 60. Beginnend am südlichen Punkt, der israelischen Stadt Beersheva, führt sie hinein in das palästinensische Westjordanland, vorbei an Hebron und Bethlehem, erreicht Jerusalem und geht danach weiter in Richtung Norden, passiert Ramallah und Nablus, bis sie, wieder auf israelischem Territorium, in Nazareth endet.
Auf dem Weg von Hebron nach Bethlehem passiert man die palästinensische Stadt Beit Ummar mit ihren etwa 17.000 Einwohner*innen – zumindest noch. Denn schon bald soll die Straße Nummer 60 Beit Ummar umfahren. Bürgermeister Sabarna weist mit seiner Hand in Richtung Osten auf die Weinberge, die auf den Hügeln liegen, auf die Oliven- und Obstbäume. Bislang konnten viele palästinensischen Familien damit ihren Lebensunterhalt verdienen, konnten aus den Reben den süßen Traubensirup machen, für den Beit Ummar bekannt ist.
Das Land Das Westjordanland wurde nach dem Ende britischer Kontrolle 1948 von Jordanien okkupiert. 1967 eroberten israelische Truppen im Sechstagekrieg das von Palästinensern bewohnte Gebiet. Inzwischen leben dort und in Teilen Ost-Jerusalems neben knapp 3 Millionen Palästinensern etwa 300.000 Israelis. In Israel wird das Gebiet Judäa und Samaria genannt, nach internationalem Völkerrecht gilt es als von Israel besetzt, die Siedlungen gelten als illegal.
Die Kontrolle Ein zwischen Israel und der PLO 1995 geschlossenes Abkommen unterteilt das Westjordanland in A-, B- und C-Gebiete. Die A-Gebiete stehen unter palästinensischer Kontrolle und bestehen aus den größeren Städten. In den B-Gebieten haben die Palästinenser die administrative und Israel die Sicherheitskontrolle. Das C-Gebiet wird ausschließlich von Israel kontrolliert, dazu zählen unter anderem die Siedlungen. A- und B-Gebiete hängen geografisch nicht zusammen, sie umfassen knapp 40 Prozent des Territoriums. Sie bilden die palästinensischen Autonomiegebiete. (taz)
Das könnte sich mit dem Bau der neuen Schnellstraße ändern. „Unsere Bauern werden mit ihren Traktoren die Schnellstraße nicht überqueren können“, sagt der 62-jährige Bürgermeister mit Schnauzer und kurzem, grau meliertem Haar: „Das Land wird den Siedlungen zugute kommen, die sich östlich von Beit Ummar befinden, Migdal Oz, Efrat.“ Dabei befindet sich das Land in Privatbesitz von Bewohner*innen von Beit Ummar.
Ein Masterplan für neue Straßen
Die Beit-Ummar-Umgehungsstraße ist eine von vielen Straßen, die die israelische Regierung derzeit in den palästinensischen Gebieten bauen lässt. Sie sind Teil eines Masterplans, den die Verkehrsministerin Miri Regev im November 2020 in Anwesenheit zahlreicher Siedler und der Leiter der israelischen Behörden im Westjordanland veröffentlicht hat.
Der Plan ist eine auf Papier gebrachte Vision davon, wie die israelische Regierung sich das Westjordanland im Jahr 2045 vorstellt. „Wir nehmen den Fuß nicht vom Gas“, kommentierte Regev den Bau von vier Straßen, die in diesem Masterplan enthalten sind: „Wir wenden de facto Souveränität an und verbinden Israel, auch in Judäa und Samaria.“ Letzteres sind die in Israel verbreiteten Bezeichnungen für das seit 1967 besetzte Westjordanland.
In einem Jerusalemer Hotel greift Yehuda Shaul in seine Tasche. „Die israelische Regierung wird sagen, dass die Straßen auch den Palästinensern zugute kommen“, sagt der 38-Jährige und breitet eine Karte von Regevs Masterplan aus: Ein Netz aus orange markierten Schnellstraßen spannt sich über die Fläche der besetzten Gebiete – vom östlichen Jordantal bis in den Westen und damit ins israelische Kernland hinein: „Doch wenn man einen Blick auf die Karte wirft, wird schnell deutlich, dass die Straßen den Siedlern und dem Siedlungsbau dienen sollen.“
Shaul fährt regelmäßig die Straßen des Westjordanlands entlang, um den in seinen Augen skandalösen Straßenbau zu dokumentieren. Dass er einer der schärfsten israelischen Kritiker der Besatzungspolitik geworden ist, ist in seiner Biografie nicht angelegt. Aufgewachsen ist Shaul in einer ultraorthodoxen, politisch rechtsgerichteten Familie in Jerusalem. In einer Jeschiwa in Maale Michmash, einer israelischen Siedlung östlich von Ramallah, ist er als Teenager zur Schule gegangen. Viele seiner Schwestern und Brüder leben heute in solchen Siedlungen.
Doch während seines Wehrdiensts kamen ihm immer mehr Zweifel: „Dir wurde gesagt, dass du dort warst, um Israel vor palästinensischen Terroristen zu schützen. Aber dann kam ich in die besetzten Gebiete und sah, dass ich da war, um absolute Kontrolle herzustellen, um zu verhindern, dass eine palästinensische Entität entsteht.“ Shaul erinnert sich, wie er mitten in der Nacht auf Befehl hin in beliebig ausgewählte Häuser eindrang, Familien aufweckte und Angst schürte. „Unsere Präsenz fühlbar machen“, so lautet das militärische Motto.
Wenn der korpulente Shaul spricht, verbreitet er eine natürliche Autorität, vielleicht ist ihm das von seinem Militärdienst geblieben. Der junge Soldat begann mit seinen Kamerad*innen zu sprechen und stellte fest, dass er nicht der Einzige mit Zweifeln war. So wurde „Breaking the Silence“ ins Leben gerufen, mittlerweile eine international einflussreiche Nichtregierungsorganisation. Im Juni 2004 eröffneten Shaul und andere frühere Soldat*innen eine Foto- und Videoausstellung, „um Hebron nach Tel Aviv“ zu bringen, wie es damals hieß, also den Israelis zu zeigen, was in den besetzten Gebieten in Wahrheit vor sich geht.
„Die Autobahn zur Annektion“
Mittlerweile hat Shaul das „Israelische Zentrum für öffentliche Angelegenheiten“ gegründet und in einem Gemeinschaftsprojekt mit „Breaking the Silence“ einen Bericht zum Straßenbau im Westjordanland erarbeitet. „Highway to Annexation“, Straße zur Annektion, hat er das Papier genannt: „Der internationale Aufschrei kommt immer dann, wenn Israel Wohnungsbau in Siedlungen ankündigt. Straßenbau und Infrastruktur – das waren bisher blinde Flecken, auch von uns, auch in der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen. Dabei macht die Infrastruktur es erst möglich, dass Siedlungen florieren.“
Ein Jahr lang hat Shaul sich durch Protokolle von parlamentarischen Komitees gewühlt, die sich mit dem Straßenbau im Westjordanland beschäftigen, und ist dabei durch Berge von Papieren und Plänen gegangen. „Das ist alles nicht geheim“, sagt Shaul: „Es geht darum, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, hinter die Szenen zu schauen und die Punkte zu verbinden.“
Die Punkte zu verbinden – darum geht es nach Shauls Auffassung auch der israelischen Regierung. Mit dem Stift zeigt er einige Male von links nach rechts über die ausgebreitete Karte: „Die Querstraßen im Masterplan sollen die Karte verändern. Sie sollen ermöglichen, die Siedlungsbildung tiefer ins Westjordanland zu tragen.“
Außerdem ist geplant, zahlreiche Straßen, die bisher nur einspurig verlaufen, auszubauen – allerdings nur diejenigen Pisten, die die Siedlungen untereinander und mit Israel verbinden. Schließlich seien weitere Umgehungsstraßen um palästinensische Zentren geplant, so wie die um Beit Ummar. „Kein Siedler, mit Ausnahme derer in Hebron und Nevoot“, erklärt Shaul: „wird nach dem Bau der Umgehungsstraßen durch palästinensische Zentren fahren müssen.“
Die israelischen Behörden ließen Anfragen der taz zum Straßenbau unbeantwortet. In seiner Studie zitiert Shaul ein israelisches Planungsdokument für Siedlungen im Westjordanland aus dem Jahr 1997: Getrennte Straßen für Israelis und Palästinenser, so das Dokument, seien statt gemeinsamer Straßen das vorzuziehende Modell. Zwar seien gemeinsame Straßen „billiger und besser für den Verkehr“, jedoch „nur zu Friedenszeiten geeignet“. Getrennte Straßen könnten „auch in angespannten Zeiten“ genutzt werden.
„Die Erfahrung zeigt“, sagt Shaul, „dass Umgehungsstraßen ein Aufblühen von Siedlungen erlauben.“ Als Beispiel nennt er das 1985 südwestlich von Jerusalem gegründete Beitar Illit. 1990 lebten in der mittlerweile boomende Siedlung gerade einmal 5.500 Siedler. Der Bau eines Straßentunnels, der fünf Jahre später den Einwohnern auf dem Weg nach Jerusalem die Fahrt durch Bethlehem ersparte, und eine Umgehungsstraße um den palästinensischen Nachbarort Husan sorgten dafür, dass die Zahl der Einwohner*innen von Beitar Illit mittlerweile um das Zehnfache angestiegen ist.
Noch ist die Straße Nummer 60 für alle da
Nasri Sabarna, der Bürgermeister von Beit Ummar, blickt von der Baustelle der neuen Schnellstraße aus hinunter auf die alte Straße Nummer 60, die sich wenige Meter unter ihm nach Jerusalem schlängelt. Noch teilen sich palästinensische und israelische Fahrzeuge den in jede Fahrtrichtung nur einspurigen Weg: palästinensische Kleinbusse und Taxis, Autos mit israelischen und palästinensischen Nummernschildern, dazwischen israelische Militärfahrzeuge.
In Zukunft soll die Straße Nummer 60 anders aussehen. In einem Bogen wird sie um die palästinensische Stadt herumführen; auch das nahe gelegene Flüchtlingslager Al-Arroub werden Israelis dann nicht mehr passieren müssen. Eine aufwendig gebaute Brücke wird über das Lagergebiet führen. Außerdem wird die neue Straße verbreitert und nicht mehr zwei-, sondern vierspurig sein.
Biegt man von der Straße Nummer 60 ab, um auf einem steilen Weg hinauf ins Zentrum von Beit Ummar zu gelangen, muss man dabei eine gelbe Schranke und einen grauen israelischen Wachposten passieren, besprenkelt mit weißen und pinken Flecken von Farbbomben. In Zeiten von heftigen Auseinandersetzungen lassen die Israelis die Schranke hinunter und können so den Ein- und Auslass kontrollieren.
Einige Meter vom Wachposten entfernt stehen zwei israelische Soldaten mit Maschinenpistolen im Anschlag und blicken auf die Straße. Einer von ihnen winkt drei kleinen palästinensischen Mädchen zu, die mit einem Reifen auf der sandigen Piste spielen. „Ab und zu werfen Palästinenser Steine oder Molotowcocktails auf die Straße, wir stehen hier, um das zu verhindern“, sagt ein 21-jähriger Soldat: „Es gibt überall gute und schlechte Menschen. Die meisten hier sind gut.“
Im Rathaus von Beit Ummar sind Bilder des vor mehr als 16 Jahren verstorbenen Palästinenserführers Jassir Arafat an der Wand und Zigarettenrauch hängt in der Luft. Bürgermeister Sabarna zeichnet in eine kopierte Luftaufnahme des 33 Quadratkilometer großen Gebiets seiner Stadt den Verlauf der neu zu bauenden Straße ein.
Das Militär habe sie in der Vergangenheit ein paar Mal über den Bau unterrichtet, etwas Schriftliches hätte die Stadtverwaltung aber nicht erhalten, geschweige denn, seien sie gefragt worden, sagt Sabarna. Selber über den Bau von Straßen entscheiden dürfen die Bürger von Beit Ummar nur auf neun Quadratkilometern ihres Stadtgebiets. Denn nur dort befinden sich die Grundstücke in der sogenannten B-Zone, in der die Palästinenser die administrative und Israel die Sicherheitskontrolle haben.
Der Bürgermeister fleht um Gehör
Der Rest liegt im C-Gebiet, steht also vollständig unter israelischer Verwaltung. „Mehr als drei Quadratkilometer wurden vereinnahmt, die Landwirtschaft zerstört. Ein knapper Quadratkilometer wurde zusätzlich durch den Bau selber zerstört“, beklagt sich der Bürgermeister. „Zahlreichen Familien wird ihr Lebensunterhalt genommen.“ Sabarna macht eine Pause. „Es ist wichtig“, sagt er, und wirkt dabei fast flehentlich, „dass Sie über die Gewalt schreiben, über die Gründe, die dazu führen. Über die täglichen Erniedrigungen, die Hausabrisse, die Inhaftierungen und Tötungen. Erlaube den Menschen, sich einen Lebensunterhalt zu verdienen, eine Familie zu gründen, gib ihnen eine Zukunft, dann haben sie keinen Grund für Gewalt. Aber wenn ihnen alles genommen wird?“
Gewalt ist ein großes Problem auch in Beit Ummar. Die Stadt verfügt über keine eigene Polizeistation, da sie sich im B-Gebiet befindet. Wenn palästinensische Polizisten aus dem viel größeren Hebron kommen sollen, müssen sie erst die israelische Seite um eine Erlaubnis bitten. Auch wenn diese Erlaubnis erteilt wird, dauert der Prozess so lange, dass die Polizei zu spät eintrifft. „Die Situation ist ohnehin sehr schwierig“, sagt Sabarna, „die Straße verschlimmert die Situation noch. Noch mehr Familien verlieren ihren Lebensunterhalt.“ 60 bis 80 Prozent sind in Beit Ummar ohne Arbeit.
Mit dem Auto dauert es keine Minute von Beit Ummar zur nächsten israelischen Siedlung. Die liegt ebenfalls an der Straße Nummer 60 und heißt Karmei Tzur. Auf dem Weg kommt uns ein Bus entgegen: „Gesellschaft zum Aufbau von Gush Etzion“, ist daran zu lesen. Gush Etzion, so heißt der Siedlungsblock südlich von Jerusalem auf halber Strecke nach Hebron. Dazu gehört auch Karmei Tzur. Auch hier muss man zunächst eine gelbe Schranke passieren. Ein junger israelischer Soldat steckt seinen Kopf durch das Häuschen, hört sich das Vorhaben an, öffnet die Schranke und winkt durch.
Die Straßen der Siedlung mit ihren rund 1.000 Einwohner*innen sind leer. Ohne die steinigen Hügel der Umgebung sähe Karmei Tzur aus wie die verschlafene Vorortsiedlung einer deutschen Kleinstadt. Es dauert einige Runden mit dem Wagen, bis sich jemand auf der Straße zeigt. Ein Mann mit Mülltüte in der Hand und der Kippa der Nationalreligiösen, der sogenannten Kippa S’chruga, auf dem Kopf lächelt uns freundlich entgegen.
Israeli, Bewohner der Siedlung Karmei Tzur, der anonym bleiben möchte
„Ich freue mich über die neue Straße“, sagt er und wirft die Mülltüte in einen Container: „Sie macht mir das Leben leichter.“ Der Siedler, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, ist vor 24 Jahren aus Jerusalem nach Karmei Tzur gezogen. „Es ist ein wichtiges Gebiet hier“, sagt er und blickt über die Hügel, auf dem nächsten ist Beit Ummar zu sehen: „Es gibt hier ein Kontinuum von palästinensischen Zentren.“ Fragt man ihn, ob er deswegen hierher gezogen sei, hält er kurz inne. Er nickt, schüttelt den Kopf und nickt dann wieder: „Ja, eigentlich kann man das so sagen.“
Politische Gründe sieht der Berufspendler nicht in der Umgehungsstraße. Für ihn ist es selbstverständlich, im Westjordanland zu Hause zu sein. Wenn er zu Stoßzeiten nach Jerusalem fahren muss, brauche er mit dem Auto weit über eine Stunde, dabei ist die Stadt nur 29 Kilometer entfernt. Angst habe er keine, auch wenn auf die Autos von Bekannten schon mit Steinen beworfen worden seien.
Yehuda Shaul im Jerusalemer Hotel faltet die Karte zusammen: „Möglicherweise werden nicht alle Projekte des Masterplans so durchgeführt, wie sie geplant sind. Doch wir können davon ausgehen, dass hier Schritt für Schritt eine größere Vision umgesetzt wird.“ Dann steckt er seinen Stift zurück in die Tasche: „Und mehr Annexion als dieser Plan, das geht eigentlich nicht.“ Und darin sind sich eigentümlicherweise alle einig – der Menschenrechtsaktivist Yehuda Shaul, der palästinensische Bürgermeister Nasri Sabarna und die israelische Verkehrsministerin Miri Regev.
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