Shoa-Überlebender über Ghetto-Fotos: „Schaut in alte Alben“
Marian Turski (98) appelliert an die Deutschen, Dokumente des Holocausts zu retten. Unlängst wurden ihm Fotos aus dem Warschauer Ghetto übergeben.
taz: Herr Turski, vor einigen Tagen erhielten Sie als Repräsentant des Jüdischen Geschichtsmuseums Polin 23 Fotos aus dem Warschauer Ghetto. Was zeigen diese Bilder?
Der 98-Jährige ist Holocaust-Überlebender und bis heute als Journalist beruflich aktiv. Er leitet die Geschichtsredaktion des linksliberalen Nachrichtenmagazins Polityka. Darüber hinaus ist er u.a. Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees und Vorsitzender des Rates Warschauer Geschichtsmuseums der polnischen Juden POLIN.
Marian Turski: Die Bilder hat die deutsche Lazarettschwester Helmy Spethmann aufgenommen. Sie zeigen Szenen aus dem Alltag im Ghetto: Straßen, Leute, die auf etwas warten – vielleicht auf Arbeit, auf Essen, auf ein bisschen Glück? Es ist sehr kalt. Es regnet und windet. Dabei ist das im Jahre 1941 noch nicht einmal die schlimmste Zeit. Noch fährt die Straßenbahn mit dem Schild „Muranow“. Dann gibt es aber auch Bilder, die den Tod zeigen, eine Beerdigung in der Nähe des jüdischen Friedhofs oder vielleicht sogar auf dem Friedhof. Einen hölzernen Leichenwagen, Totengräber, ausgemergelte Tote auf Tragen, einen Rabbiner.
Wie wichtig sind diese Bilder für die Geschichte des Warschauer Ghettos?
Sie sind enorm wichtig. Überhaupt sind alle Fotos, die den Holocaust dokumentieren, sehr wichtig. Dabei unterscheiden wir die Bilder aber vor allem nach der Intention der Fotografen. Die Bilder der Propagandakompanie des SS-Führers Jürgen Stroop sind wichtig, weil wir keine anderen von der Liquidierung des Warschauer Ghettos haben. Aber wenn deutsche Soldaten den polnischen Juden die Bärte und Schläfenlocken abschneiden – und die Fotografen auf den Auslöser drücken, ist die Intention klar: Verachtung und Erniedrigung. Für uns aber sind die Bilder wichtig, weil sie den Weg der Opfer von der Dehumanisierung zur Vernichtung zeigen.
Und Helmy Spethmann. Was für ein Motiv hatte die Wehrmachtskrankenschwester?
Das ist schwer zu sagen. Auf diese Frage ging auch Präsident Frank-Walter Steinmeier ein, als er uns die Bilder übereignete. Denn Frau Spethmann schrieb auch einige Briefe an ihre Schwester im Deutschen Reich, wo sie kurz „das große Elend im Judenviertel“ beschreibt und das „Seuchensperrgebiet, dessen Betreten streng verboten war“. Sie kündigt mehrfach in ihren Briefen an, mehr darüber erzählen zu wollen, wenn sie erst wieder zu Hause sei. Doch das scheint sie nie getan zu haben. Und die Fotos versteckte sie im Umschlag eines Fotoalbums. Sie scheint Angst gehabt zu haben. Erst auf dem Totenbett vertraute sie ihrer Nichte das Album an.
Aber kann man aus den Fotos nicht die Intention der Fotografin herauslesen?
Ich persönlich gehe davon aus, dass sie die Bilder aus Empathie mit den polnischen Juden aufgenommen hat, dann aber Angst vor der eigenen Courage bekommen hat. Als Präsident Steinmeier uns die 23 Bilder überreichte, zitierte er Rachela Auerbach, eine der wenigen Überlebenden des Warschauer Ghetto-Aufstandes 1943. Ich habe mir das Zitat notiert: „Mit eisernem Besen fegen die ersten kalten Tage jene fort, die schon jetzt auf der Straße leben, die all ihre Kleidung verkauft haben und schwach wie die Herbstfliegen sind. Vergebens die unglaubliche Lebenskraft der Warschauer Juden. Sie schreien und sie wehren sich bis zum Schluss, bis zur letzten Stunde und Minute, aber diese Stunde und Minute wird kommen.“ Steinmeier hat das richtige Zitat gefunden, denn genau das sagen die Bilder von Helmy Spethmann aus.
Warum zögerte die Familie so lange, die Ghetto-Bilder Polin oder einem anderen polnischen Museum zu übereignen?
Das weiß ich nicht. Aber als Holocaust-Überlebender habe ich eine große Bitte an alle Deutschen, an die Enkel und Urenkel derjenigen, die am Krieg teilgenommen haben: Es trifft euch keine Schuld. Ihr habt die Geschichte geerbt, so wie sie nun mal ist. Aber – so mein inständiger Appell: Schaut in die Schubladen, in alte Koffer und Fotoalben! Vielleicht finden sich dort auch Fotos aus anderen Ghettos oder überhaupt aus dem deutsch besetzten Polen. Werft diese Fotos und Andenken nicht weg! Für uns sind sie von großem Wert. Das Museum Polin ist dankbar für jeden noch so kleinen Hinweis.
An diesem Samstag ist der 79. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Was bedeutet das für Sie als ehemaligen Auschwitz-Häftling?
Für mich persönlich war der 27. Januar 1945 noch nicht der Tag der Befreiung. Der kam erst am 9. Mai, als ich nach dem zweiten Todesmarsch von Buchenwald nach Theresienstadt dort befreit wurde. Aber ich hatte Fleckfieber, war völlig apathisch und unfähig, auch nur einen Funken an Freude zu empfinden. Aber allgemein gesehen ist für uns Juden der 27. Januar der Tag der Befreiung.
An einem der letzten Gedenktage forderten Sie die Europäer auf: „Seid nicht gleichgültig!“ Seit einigen Tagen gehen in Deutschland hunderttausende aus Protest gegen die AfD auf die Straße. In Polen haben im Oktober 2023 rund zwölf Millionen Polen die regierenden Nationalpopulisten abgewählt. Ist es das, worum es Ihnen geht?
Ja, absolut. Die Demonstranten in Deutschland haben schon verstanden, dass man sich gegen Populisten und Antieuropäer wehren muss, bevor diese die Demokratie zerstören können. In Polen ist die Situation eine andere. Hier mussten die Bürger acht Jahre lang mit ansehen, wie sich die Korruption ungestraft ausbreitete und die regierende „Recht und Gerechtigkeit (PiS) den Rechtsstaat aushöhlte. Millionen Polen verstanden, dass jeder individuell etwas tun kann, um den polnischen Staat zu retten. Noch nie sind so viele Polen an die Wahlurnen gegangen, über 70 Prozent der Wahlberechtigten. Ich will jetzt nicht sagen, dass das mein Verdienst ist. Aber ja: Die Polen haben verstanden, dass sie nicht gleichgültig und passiv einem verhängnisvollen Zeitenlauf zusehen dürfen. Vielmehr müssen sie die Verteidigung der Demokratie ganz individuell in die eigene Hand nehmen. Und das haben sie getan.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!