Ingelene Rodewald über die NS-Zeit: „Ich war nicht mehr stolz"
Im Sterben übergab Helmy Spethmann ihrer Nichte Ingelene Rodewald Fotos, die sie im Warschauer Getto gemacht hatte.
taz: Frau Rodewald, mit welchen Gefühlen gingen Sie 1942 als Lehrerin nach Polen? Wollten Sie dem NS-Staat dienen?
Ingelene Rodewald: Oh nein! Ich hatte mich doch nach Den Haag beworben. Als ich erfuhr, dass ich nach Polen musste, war ich total geschockt. Ich war noch nie östlich von Berlin gewesen und dachte, ich stapfe da jeden Winter durch tiefen Schnee.
Wie stand Ihre Familie zum NS-Regime?
Sie waren Demokraten. Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, sagte meine Mutter: „Wenn morgen in den Zeitungen steht, dass ganz Kiel-Holtenau die Nazis gewählt hat, steh ich auf und rufe: ,Das stimmt nicht. Ich habe sie nicht gewählt.‘“ Und wenn der Blockwart zu meinem Vater sagte: „Sie müssen endlich in die Partei eintreten“, antwortete er: „Muss ich?“ Das sei eine Ehre, fand der Blockwart. Von Müssen könne keine Rede sein. Da sagte mein Vater: „Dann ist es ja gut.“
Sie selbst haben Hitlers Versprechungen nie geglaubt?
Natürlich war ich begeistert von vielen Dingen. Jeden Tag hörten wir, dass die Jugend eine glückliche Zukunft haben und die im Ersten Weltkrieg verlorene Ehre Deutschlands wieder hergestellt würde. Aber eine kleine Skepsis war immer da.
Was für eine Gesellschaft fanden Sie in Reichelsfelde vor, dem heutigen Zalasewo?
Es war ein Straßendorf ohne Strom und fließendes Wasser, in dem 500 polnische und 50 deutsche Familien lebten. Unter den Deutschen gab es „volksdeutsche“ Bauern, die immer dort gewohnt hatten. Außerdem gab es Umsiedler aus Bessarabien, Wolhynien und dem Baltikum.
Jahrgang 1922, stammt aus Kiel-Holtenau und war von April 1942 bis September 1944 als Volksschullehrerin im Warthegau in dem Dorf Reichelsfelde bei Posen. Auf Betreiben ihres späteren Ehemanns, Georg-Wilhelm Rodewald, wurde sie 1944 nach Schleswig-Holstein versetzt. Tatsächlich überlebte die deutsche Bevölkerung von Reichelsfelde den Vormarsch der russischen Armee nicht.
Nach dem Krieg arbeitete Rodewald als Lehrerin in Kiel und lebt seit dem Tod ihres Mannes im schleswig-holsteinischen Strande.
Über ihre Familiengeschichte hat sie bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Im Herbst 2014 soll im Husum-Verlag ein Buch über Helmy Spethmann erscheinen, das auch die Fotos aus dem Warschauer Getto enthält.
tazHH_hamburg_119458
Wie lebten sie miteinander?
Die polnischen Familien waren kaum sichtbar. Und zwischen den Volksdeutschen und den Umsiedlern gab es wenig Gemeinschaft. Denn wer dort geboren war, hatte seinen Hof von Eltern und Großeltern geerbt. Und jetzt kamen Umsiedler aus dem Osten, saßen apathisch auf ihren Höfen und trauerten den saftigen Böden Bessarabiens nach.
Woher hatten die Umsiedler die Höfe?
Von Polen, die zwangsenteignet worden waren und jetzt verarmt am Rande des Dorfes lebten.
Wussten Sie das?
Anfangs nicht. Aber irgendwann fragte ich: „Wieso hat der Amtsvorsteher so ein schönes Grundstück?“ Marta, die polnische Reinigungskraft der Schule, sagte: „Das war mal unser Hof.“ Ich bin fast umgefallen. Wie kann man es ertragen, auf einem Hof zu leben, während der Eigentümer in einer Kate fast verhungert?
Und was war Ihre Aufgabe?
Ich unterrichtete an einer einklassigen Grundschule, um den Kindern – Volksdeutschen und Umsiedlern – vor allem flüssiges Deutsch beizubringen.
Spielte die Herkunft unter den Kindern eine Rolle?
Gar nicht. Die polnischen und deutschen Kinder spielten jeden Nachmittag zusammen.
In welcher Sprache?
Polnisch. Vor 1939 gehörte dieses Gebiet zu Polen, weshalb alle Kinder natürlich Polnisch sprachen. Die Volksdeutschen hatten daneben ihr Deutsch bewahrt. Aber die Umsiedlerkinder sprachen es kaum.
Haben Sie versucht, Polnisch zu lernen?
Ja, aber es ist mir leider nur wenig gelungen.
Und wie waren Sie integriert?
Ich habe mich schnell zu Hause gefühlt. Am ersten Tag bot mir meine Nachbarin an, bei ihr zu wohnen. Das tat ich gern, und die Familie kümmerte sich um mich. Überhaupt war ich oft eingeladen. Ich bin fast täglich zu einem Bauern geradelt und habe mir erzählen lassen, wie sie vorher gelebt haben.
In Ihrem Buch „Auf dem Schulhof stand ein Apfelbaum“ erwähnen Sie, dass die Stimmung 1943 umschlug. Inwiefern?
Mit der Niederlage 1943 bei Stalingrad wendete sich der Krieg, und die Polen erkannten, dass ihr Land bald wieder ihnen gehören würde. Plötzlich wurden sie sichtbar auf den Straßen und Geschäften. Und auf den oft schmalen Wegen wichen die Polen den Deutschen nicht mehr aus. Jetzt musste ich beiseite treten.
Obwohl sie Sie mochten.
Ja, aber das Gesetz, dem zufolge die Polen den Deutschen Platz machen mussten, galt jetzt nicht mehr. Ich war nur noch geduldet.
Zur gleichen Zeit war Ihre Tante Helmy Spethmann in Polen, wo sie heimlich im Warschauer Getto fotografierte. Was war sie für ein Mensch?
Sie war ausgesprochen herzlich, verstand mich und sorgte für mich. Ich liebte sie sehr.
Helmy Spethmann machte das Umsorgen zum Beruf.
Sie war unverheiratet, musste einen Beruf ausüben und entschied sich, Krankenschwester zu werden. Sie arbeitete dann beim Johanniterorden in Flensburg. Als ihr Vater starb, zog sie wieder zu ihrer Mutter. Aber 1933, als die Nazis an die Macht kamen, wurde sie sofort als Schwester eingezogen.
Schon 1933?
Ja. Das zeigt, wie knallhart die Nazis diesen Krieg vorbereiteten. Sechs Jahre vor Hitlers Überfall auf Polen schulten sie bereits Krankenschwestern, damit sie den Hausfrauen zeigten, wie man kocht, wenn Lebensmittel knapp werden, und wie man Verletzungen und Brandwunden behandelt.
Anfang 1941 wurde Ihre Tante als Lazarettschwester nach Warschau beordert. Warum durfte sie das nicht erzählen?
Weil Hitlers Vorbereitung auf den Überfall auf die Sowjetunion, der im Juni 1941 erfolgte, geheim bleiben sollte. Niemand durfte darüber sprechen oder schreiben: weder über die vielen Soldaten, die an die Grenze Russlands transportiert wurden, noch über die Krankenschwestern und Ärzte, die in Warschau Lazarette für die zu erwarteten Verwundeten vorbereiteten.
Die bald kamen. Wie hat Ihre Tante deren Leiden verkraftet?
Sie ist daran zerbrochen. Sie schrieb: „Man erlebt und sieht zu viel, ich kann nicht mehr.“
Trotzdem ist sie auch ins Warschauer Getto gegangen.
Das war wegen der Seuchengefahr streng verboten, aber sie tat es. Was sie dort sah, warf sie um: hungernde Kinder, Kranke, Sterbende. Darauf war sie seelisch nicht vorbereitet. Sie war als Krankenschwester dafür ausgebildet, Menschen zu helfen!
Stattdessen machte sie Fotos.
Sie wollte wenigstens dokumentieren, was die Nazis taten. Sie dachte wohl: „Wenn ich das später erzähle, glaubt man mir nicht. Dann haben die Nazis alles vertuscht.“ Also fotografierte sie im Getto zusammengepferchte Menschen, Beerdigungen, Tote.
Wie gefährlich war das?
Sie wäre sicher streng bestraft worden, wenn jemand sie beobachtet und angezeigt hätte.
Hat Ihre Tante die Fotos nach dem Krieg veröffentlicht?
Nein. Noch während des Krieges wurde sie arbeitsunfähig und kam in die Hamburger Universitätsklinik. Auch später sprach sie nie über ihre Erlebnisse. Dabei wäre sie von den Alliierten sicher ausgezeichnet worden. Aber sie hat die Fotos erst im Sterben aus der Hand gegeben.
Und zwar Ihnen. Wie ging das vor sich?
Im April 1979 rief mich ein Arzt des Schleswiger Krankenhauses an und sagte: „Ihre Tante Helmy Spethmann ist sehr krank. Ich möchte, dass Sie kommen.“ Als ich kam, bat sie mich, ein Bilderalbum aus ihrem Nachttisch an mich zu nehmen. Ich versprach es, und bald danach starb sie. Das Album enthielt Fotos von Ärzten, Schwestern und Freunden.
Sonst nichts?
Viele Jahre später habe ich bemerkt, dass im Stoffbezug Fotos aus dem Warschauer Getto versteckt waren. Es fällt mir immer noch schwer, diese grauenhaften Bilder anzusehen. Aber es ist ein Vermächtnis und war für mich Anlass, Helmys Geschichte aufzuschreiben. Sie soll im Herbst als Buch erscheinen.
Wussten Sie in Reichelsfelde vom Warschauer Getto?
Nein. Ich wusste nicht einmal, dass in der Nähe von Reichelsfelde ein Lager für Juden war.
Haben Sie es gesehen?
Ja. Auslöser war ein Zwischenfall. Eines Tages sah ich die Kinder in der Pause mit zwei Männern vor einem Graben stehen. Einer meiner Schüler schlug die Männer mit der Faust. Ich habe dem Jungen eine runtergehauen und mich bei den Männern entschuldigt. Später sagte der Junge: „Sie hatten kein Recht, mich zu schlagen. Das waren Juden.“ Ich sagte: „Das waren Menschen.“ Am nächsten Tag sagte sein Vater, er werde mich anzeigen. Die Männer würden gesucht.
Warum?
Sie waren aus einem Lager geflohen, wie meine polnische Mitarbeiterin erzählte. Sie sagte: „Die Deutschen gehen nicht gut mit den Juden um.“ Ich habe das erst nicht geglaubt. Ich hatte doch immer gehört, dass die Ehre für Deutschland das Wichtigste ist. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, wo das Lager war. In der Nähe von Schwerenz habe ich es tatsächlich gefunden. Es war ein mit Draht umzäuntes Gelände, in dem 30 bis 40 Juden in Häftlingskleidung waren. Vielleicht war es ein Arbeitslager. Aber ich vermute, dass sie von dort in ein KZ transportiert worden sind.
Bekamen Sie später Schwierigkeiten wegen der Schläge?
Man fing an, meine Linientreue zu überprüfen. Dabei wollte ich nur Kinder unterrichten und sie zu hilfsbereiten, toleranten Menschen erziehen. Aber nach dieser Geschichte war ich nicht mehr stolz auf meine Arbeit.
Haben Sie heute noch Kontakt nach Polen?
Er hat nie aufgehört. Ich bin oft wieder in das Dorf gefahren. Und einige polnische Nachbarn schreiben mir, schicken Segenswünsche und teilen ihre Oblaten mit mir.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier