Sexualisierte Gewalt im Sport: Strukturen des Missbrauchs

Das Projekt Voice will Missbrauchsopfern im Sport eine Stimme geben. Gerade bei der Aufarbeitung vergangener Fälle gibt es viel zu tun.

Ein Oberschenkel wird massiert

Körperliche Nähe im Sport kann auch gefährlich sein Foto: imago/Martin Hoermandinger

In den Ländern, in denen man sich die schlimmsten Geschichten erzählt, ist die Lage vergleichsweise häufig am besten. In England etwa, wo die im Jahre 2016 ans Licht gekommenen zahlreichen sexuellen Missbrauchsfälle im Fußball ein Bewusstsein geschaffen haben für die Gefahren, welche die Strukturen des Sports bieten. So hat der Dachverband „Sport England“ eine volle Stelle für die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt im Sport bei einer Opferorganisation eingerichtet. Das berichtet Bettina Rulofs von der Sporthochschule Köln. Sie ist Koordinatorin des von der Europäischen Union unterstützten Projekts Voice, das sich zum Ziel gesetzt hat, den Betroffenen von sexualisierter Gewalt im Sport eine Stimme zu geben.

Von diesem englischen bereits institutionalisierten Verantwortungsbewusstsein ist der deutsche Sport ein gutes Stück entfernt. Und in Ungarn will man über derlei schlimme Geschichten noch nicht einmal sprechen. Wegen immenser Widerstände im Lande sahen sich die ungarischen Partner von Voice nicht imstande, das Projekt durchzuführen. Man einigte sich auf einen Ausstieg.

Auf der Abschlusskonferenz an diesem Wochenende in Köln werden die Ergebnisse aus den Initiativen der verbliebenen sieben Ländern in den letzten anderthalb Jahren zusammengetragen. Neben Deutschland und Großbritannien haben sich Dänemark, Österreich, Belgien, Spanien und Slowenien an dem Voice-Projekt beteiligt. Die Idee dabei war, die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen mit dem Gedanken der Prävention zu verknüpfen.

Es wurden Tiefeninterviews mit insgesamt 72 Betroffenen sexualisierter Gewalt geführt, die dann in den jeweiligen Ländern auf Hearings mit Verantwortungsträgern des Sports zusammengeführt wurden. Durch den Vortrag ihrer Erlebnisse sollte sowohl ein Verständnis für die Hintergründe und Formen von sexualisierter Gewalt im Sport als auch Ideen für eine Präventionsarbeit entwickelt werden.

„Es war nicht unbedingt so, dass uns die Sportfunktionäre die Türe eingerannt hätten“, erzählt Rulofs. In den nationalen Dachverbänden und den Landessportbünden sei man den Einladungen bereitwillig gefolgt, auf der Leistungssport­ebene dagegen sei die Reaktion verhaltener ausgefallen. Grundsätzlich konstatiert Rulofs eine aufkeimende Aufgeschlossenheit des organisierten deutschen Sports bei der Präventionsarbeit. Die #MeToo-Debatte und Missbrauchsvorfälle im englischen und österreichischen Sport hätten auch hierzulande zu einer größeren Offenheit geführt. „Ein großes Defizit“, sagt sie, „ist aber die Aufarbeitung vergangener Fälle. Da sehe ich doch eine gewisse Zurückhaltung, sich mit Geschehenem auseinanderzusetzen.“

Auch Opfer emotionaler und physischer Gewalt

Dazu passt Rulofs Hinweis, dass es bislang nur eine Einmalzahlung von der Sporthilfe in einen allgemeinen Fonds des Familienministeriums für Opfer von sexualisierter Gewalt gab. Das Geld ist längst ausgeschöpft. Die Funktionäre, erklärt Rulofs, sprächen von einem gesamtgesellschaftlichen Problem. Der Sport könne nichts dafür, wenn Täter die Strukturen des Sports ausnutzen würden. Die Bundesregierung versuchte dagegen zuletzt mit unterschiedlichem Erfolg, Institutionen und gesellschaftliche Akteure für die Bestückung des Fonds mit in die Verantwortung zu nehmen.

Leistungssportler stellen eine besonders belastete Gruppe dar

Während die Sporthochschule Köln in einer Vorgängerstudie zu dem Urteil kam, sexueller Missbrauch käme im Leistungssport genauso häufig wie auch sonst in der Gesellschaft vor, erklärt Rulofs heute, die vertiefte Analyse zeige, dass Leistungssportler eine besonders belastete Gruppe seien, nicht nur im Fall von sexualisierter, sondern auch von emotionaler und physischer Gewalt.

Diese komplexe Gemengenlage sei im Rahmen des Voice-Projekts ebenfalls durch die Berichte ehemaliger DDR-Sportler gespiegelt worden. Und es sei wichtig, die einzelnen Probleme nicht isoliert voneinander zu betrachten. Bettina Rulofs sieht hier ebenso noch einen riesigen Forschungsbedarf wie im Bereich der sexualisierten Gewalt im Breitensport. Hierzu gibt es bislang noch keine systematischen Untersuchungen. Rulofs möchte das bald an der Sporthochschule Köln ändern.

„Wir sind erst am Anfang“, sagt Rulofs. „In gewissen Kreisen wird über das Thema erst seit 2010 gesprochen. Es sickert erst so langsam in die Strukturen des Sports durch.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.