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Sexismus beim IntelligenzbegriffDer Faustkeil war nicht der Durchbruch

Wie konnte das menschliche Hirn so komplex werden? Forschende sagen: Weil wir uns umeinander sorgen. Warum soziale Intelligenz so vernachlässigt wird.

Ein großes Gehirn ist energieintensiv Foto: imago

Wenn die Entwicklung der menschlichen Intelligenz so ablief, wie die Evolutions-T-Shirts nahelegen, dann wurde jeder Schritt vom Affen bis zum aufrechten Gang durch immer schickere Werkzeuge begleitet. Der frühe Homo sapiens geht noch leicht gebeugt mit dem Faustkeil in der Hand, dann läuft er aufrechter mit einem Speer über der Schulter, bis er schließlich – wahlweise mit Laptop, Angel oder Harley-Davidson ausgestattet – in der Gegenwart angekommen ist. Es gibt unzählige Varianten dieses berühmten Bildes mit der Aneinanderreihung von Entwicklungsschritten. Fast immer sind es Männer, die darauf den Höhepunkt der Evolution verkörpern.

Dass uns als Errungenschaft menschlicher Intelligenz immer ausgeklügeltere Werkzeuge einfallen, macht Sinn. Immerhin ist es das Bauen von Maschinen, Kathedralen und Ü-Eier-Figürchen, was uns als Spezies auf den ersten Blick am stärksten von anderen abhebt. Ohne Handwerkskunst kein Anthropozän. Da liegt es nahe, technologische Fertigkeiten auch als Triebfeder menschlicher Intelligenz zu sehen. Wir sind schlau, weil jedes neue Werkzeug einen Evolutionsvorteil bringt. Allerdings bringt diese technologiebasierte Vorstellung menschlicher Intelligenz mehrere Probleme mit sich.

Das vielleicht größte ist die zeitliche Abfolge. Denn tatsächlich hatten menschliche Vorfahren schon mehrere Millionen Jahre ein verhältnismäßig großes Gehirn und die meiste Zeit davon ist uns außer Steinkeilen recht wenig Weltbewegendes eingefallen. Erst vor 250.000 Jahren wurden diese Werkzeuge etwas komplexer und erst in den letzten 50.000 Jahren entstand alles von Grillutensilien bis zu Mikrochips. Als Anstoß menschlicher Hirnentwicklung kommt technische Überlegenheit also zu spät.

Ein großes Gehirn ist energieintensiv, es braucht viel und bestimmte Nahrung. Man muss es sich als Geschöpf also leisten können. Deswegen liegt es nahe, dass sich dieses Gehirn schon lange vor der Erfindung ausgeklügelter Werkzeuge für den Menschen gelohnt hat. Warum? Einige Forschende sagen: Weil es uns das Leben in sozialen Verbänden ermöglicht. Dieser Theorie zufolge ist die soziale Intelligenz die eigentliche Triebfeder der Hirnentwicklung.

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Der Neokortex – also der Teil der Großhirnrinde, der vereinfacht gesagt für Intelligenz eine besonders große Rolle spielt – ist vor allem bei den Affenarten groß, die in großen Gruppen zusammenleben. Sozialstrukturen erlauben es uns überhaupt erst, dass sich unser Gehirn über eine langwierige Kindheitsphase so komplex entwickelt.

Tatsächlich eint die meisten Spezies, die wir für besonders klug halten, eine lange spielintensive Kindheit. Und diese Zeit ist eine soziale Herausforderung, denn irgendjemand muss sie uns ermöglichen, sich kümmern. Mit sozialer Unterstützung lassen sich dann auch andere Dinge lernen: Sprache, Logik, Experimentalphysik. Selbst die Herstellung des Schneidwerkzeugs, das wir zur Ernährung unseres Gehirns tatsächlich brauchen, muss uns zuerst jemand beibringen.

Delphine, die sprechen

Sozialer Intelligenz kommt also eine Schlüsselrolle zu – als Kernkompetenz, auf der die anderen Fähigkeiten aufbauen. So brauchen wir zum Beispiel bestimmte grammatikalische Fertigkeiten, um komplexe Ursache-Wirkung-Ketten zu verstehen, die wiederum die Grundlage entsprechend komplizierter Werkzeuge sind.

Speziesübergreifend zeigt sich Intelligenz oft im Rahmen sozialen Verhaltens. Delfine sprechen sich gegenseitig mit Namen an, Ziegen verstehen Symbole. Bienen bringen ihren Nachkommen das Tanzen bei und Bonobos beherrschen eine bisher ungeahnte Form von Syntax. Selbst der Standardtest, mit dem Forschende versuchen, besonders komplex denkende Spezies aufzuspüren, ist ein fundamental sozialer: die Fähigkeit, sich im Spiegel zu erkennen, sprich, zwischen dem Selbst und Anderen zu unterscheiden.

Im Gegensatz zu dem, was der Begriff „Soft Skills“ nahelegt, handelt es sich dabei um eine sehr handfeste logische Fertigkeit, die wir längst nicht nur für Nettigkeit gebrauchen. Eichhörnchen und Krähen zum Beispiel täuschen ihre Artgenossen, indem sie ihr Essen unauffällig ganz woanders verstecken als da, wo sie demonstrativ ein Loch buddeln. Die Fähigkeit dahinter nennt sich Perspektiv­übernahme.

Wenn also soziale Fähigkeiten in Geschichte und Forschung so eine Schlüsselkompetenz sind, warum werden sie bei unserem Intelligenzbegriff dann so häufig abgekanzelt oder übersehen? Eine Erklärung lautet: Sexismus. Denn die Art, wie wir Intelligenz verstehen und messen, ist kulturell geprägt.

Soziale Kompetenz ist eng verbunden mit Fürsorge und Mutterschaft und damit eher weiblich konnotiert. Jedenfalls nach dem auch in der Wissenschaft lange verbreiteten Rollenbild, das Frauen alles Häusliche und Männern die Weltpolitik zuteilt.

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Diese Abgrenzung verlief nicht immer so scharf. Im 18. Jahrhundert erforschten so viele Frauen Astronomie, dass sie ein ganzes Buch füllen konnten, und für Mathematikinteressierte gab es mit dem Ladies’ Diary eine auflagenstarke Frauenzeitschrift der Arithmetik. Auch Geologie galt als angemessenes Frauengebiet (im Gegensatz zur potenziell gemütserregenden Historik). Überhaupt konnten sich wohlhabende Frauen in den Naturwissenschaften als Hobbyistinnen lange Zeit recht frei betätigen. Ähnlich wie in medizinischen Berufen wurden sie allerdings verdrängt, als die Fachgebiete professioneller, formal gebildet und besser bezahlt wurden.

Intelligenz wird missbraucht

Wem wir intellektuelle Qualifikation zusprechen, ist immer auch eine Macht- und Geldfrage, die oft dazu dient, Hierarchien zu zementieren. So wie sich der Mensch seine Krone der Schöpfung sichert, indem er seinen Intelligenzbegriff als Messlatte an andere Spezies anlegt. Oder selbst an Affenkindern beiderlei Geschlechts in Studien erforscht, ob sie lieber mit Puppen oder mit Autos spielen.

Den IQ-Test selbst wollte sein Erfinder nie als mehr als eine Momentaufnahme betrachtet sehen. Und er wurde umgehend rassistisch missbraucht, um Menschen in mehr oder weniger klug einzusortieren.

Fast jedes Maß von Intelligenz wurde genutzt, um Frauen selbige abzusprechen. Erst galten ihre Gehirne als zu klein, dann ihre Schädelproportionen als zu kindlich. Ihre Gedanken wurden angeblich erst vom Uterus, dann von Hormonen vernebelt. Der Verstand von Frauen ist „von Leidenschafften verdunckellt“ befand Kant. „Beim Weib behaupten Gefühl und Gemüt, beim Manne Intelligenz und Denken die Oberhand“, stand es 1904 in Meyer’s Großem Konversationslexikon. Bis heute finden sich auf Persönlichkeitsfragebögen Vertrauen und Mitgefühl oft unhinterfragt auf der weiblichen Seite. Dagegen vereint die männliche sehr gewagt Aggression und Analytik.

Im Endeffekt wirkt diesem Blickwinkel zufolge oft gerade klug, wer das Soziale außen vor lässt. Serienprotagonisten unterstreichen ihren Geniestatus regelmäßig durch soziale Ausfälle. Selbst im realen Leben gilt „Genie“ vielen als Argument, um die Misshandlung von Untergebenen zu rechtfertigen.

Falscher Genieglaube

Dabei ist der Geniebegriff als ultimative Steigerung von Intelligenz erst recht elitär geprägt. Von den griechischen Philosophen über die Maestros klassischer Kultur bis zu den „Business Genies“ auf dem Cover von Forbes und dem Aufstieg Silicon Valleys. Eine Studie stellte vor einigen Jahren sogar heraus, dass in Studienfächern mit besonders großem Genieglauben auch der Männerüberschuss besonders groß ist.

Dieses Ungleichgewicht sagt wahrscheinlich ebenso viel darüber aus, wer sich Genie zutraut, als wer den entsprechenden Habitus mitbringt, dass es ihm zugetraut wird. Wohin die Kombination aus Privilegien und Technikglauben führt, kann man gerade in den USA beobachten, wo Tech-Eliten betrunken vom eigenen Geniekult das Land auseinandernehmen.

Dabei war auch die Informatik lange ein Tummelplatz für Quereinsteigerinnen, wie die schwarzen Frauen, die Raketenberechnungen durchführten, lange bevor Elon Musk geboren wurde. Dass die Tech-Giganten so abgerutscht sind, und dabei zum Teil auch hier noch gehyped werden, liegt auch daran, dass wir unsoziale Männer immer noch für intelligent halten. Erst recht, wenn sie mit Werkzeug hantieren.

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6 Kommentare

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  • "Forschende sagen: Weil wir uns umeinander sorgen."



    Wird "soziale Kompetenz" hier nicht etwas einseitig dargestellt? Die andere Seite sieht so aus:



    "Der Selektionsvorteil eines hochgradig sozialen Gehirns ist offensichtlich. Wir können damit die Gedanken anderer Menschen erahnen, sie manipulieren und mögliche Geschlechtspartner oder Komplizen geschickt täuschen und anlocken...



    Der für Primaten besonders typische Teil des menschlichen Gehirns wuchs, um zu verstehen, wer mit wem nicht klarkommt, wer in der Hierarchie gerade abstürzt und welches Pärchen heimlich turtelt, obwohl sich das nicht gehört." (Robert M. Sapolsky in "Spektrum der Wissenschaft" 5/2013)



    Auch "unsoziales" Verhalten ist, wenn es erfolgreich ist, Ausdruck von "sozialer Kompetenz"...

  • Bester Artikel. Sehr intelligent würde ich mal sagen. Sprache ist übrigens auch höchstwahrscheinlich aus der Mutter Kind Kommunikation entstanden. Aber dass ist oft zu viel für die Gehirne der ehemaligen Mammutjäger*innen.

  • Ein interessanter Artikel, dessen grundlegende Idee sich aber leicht widerlegen lässt: Denn wenn das Leben im sozialen Verband Intelligenz begründen würde, wären Ameisen, Termiten oder Bienen die die vorherrschenden Spezies.

    • @Samvim:

      Es soll auf der Welt etwa 10.000 Billionen Ameisen geben. Es gab Ameisen vor dem Menschen und es wird sie wahrscheinlich auch nach dem Zeitalter des Menschen geben. Ameisen könnten daher durchaus als "vorherrschende Spezies" bezeichnet werden.

      Wie messen Sie Vorherrschaft? Vielleicht ist auch Herrschaft, wie Intelligenz, ein Begriff der neu gedacht werden könnte...

    • @Samvim:

      Sie liegen auf mehreren Ebenen falsch. Die These lautet, das Leben im sozialen Verband sei eine Voraussetzung. Das kann z.B. eine notwendige aber nicht hinreichende Bedingung sein. Sprich, es muss noch etwas hinzukommen. Beispielsweise eine bestimmte Qualität des Zusammenlebens (etwa in Sachen Kommunikation oder Komplexität des Zusammenlebens etc.). Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen ausschaut, aber mein soziales Leben unterscheidet sich von dem einer Termite erheblich. Es ließen sich diverse Punkte finden, die einen entscheidenden Unterschied ausmachen. So etwa Selbstbestimmung, die unsereins eigen ist. Termitengesellschaften sind letztlich analog zu Automatenschwärmen. Das gilt für unsere Spezies — so meine Hoffnung — nicht.

    • @Samvim:

      Intelligenz zeigt sich auch oder gerade darin, dass (vom einzelnen Individuum) mehrere Möglichkeiten gewählt werden können oder neue Wege ausprobiert werden. Das ist beim rein instinktiven Verhalten von niedrig entwickelten Organismen selten bis gar nicht der Fall. Sie folgen ihrem genetisch vorbestimmten Weg und Ziel und können diesen nicht verlassen ...