Sexismus als Struktur in Deutschland: Frauen zählen
Die Justizminister:innen der Grünen fordern, dass frauenfeindliche Straftaten künftig auch als solche erfasst werden. Das ist längst überfällig.
Auf der Straße, im Netz und vor allem im eigenen Zuhause – Frauen in Deutschland leben gefährlich. Einen Raum, in denen sie sich ohne die Gefahr aufgrund ihres Geschlechts beschimpft, belästigt oder missbraucht zu werden, bewegen können, gibt es nicht. Klingt dramatisch, ist es auch: Jeden Tag versucht ein (Ex-)Partner eine Frau zu töten, jeden dritten gelingt es ihm. Im Schnitt greift alle 45 Minuten ein Mann seine Partnerin an. Und die Zahlen der Betroffenen steigen, Jahr für Jahr. Hinzu kommt, dass Frauen in sozialen Medien regelmäßig Hass, Gewaltandrohung, Mobbing und Stalking ausgesetzt sind.
Wir wissen, dass Frauen, die sich feministisch äußern oder aufgrund von Rassismus, Religion, Sexualität, Klassismus oder Behinderung mehrfach diskriminiert werden, besonders unter digitaler Gewalt leiden. Gleichberechtigte Teilhabe wird dadurch gefährdet. Und wir wissen auch, dass digitale Gewalt ins Analoge übergreifen kann und man frühzeitig eingreifen muss, um physische Gewalt einzudämmen.
Doch wie vielen sexistischen Straftaten, analog wie digital, Frauen in Deutschland wirklich ausgesetzt sind, können wir nur erahnen. Denn bisher werden Taten, in denen das „Geschlecht“ des Opfers eine Rolle spielt, nicht explizit als Hasskriminalität kategorisiert – und damit auch nicht juristisch statistisch erfasst.
Das soll sich, wenn es nach den Landesjustizminister:innen und -senator:innen der Grünen geht, nun ändern. In einem gemeinsamen Beschluss, der der taz vorliegt, fordern sie, dass frauenfeindlich motivierte Straftaten „als solche benannt und bundeseinheitlich erfasst werden“. Ende November wollen sie sich bei der Justizminister:innenkonferenz für die Einrichtung einer Bund-Länder-Gruppe einsetzen, die sich nicht nur der statistischen Erhebung annimmt, sondern auch die strafrechtlichen Möglichkeiten sowie die „zivil- und familienrechtlichen Ansatzpunkte“ überprüfen soll.
Ein drängender Zeitpunkt
Dass sexistische Straftaten bisher noch nicht erhoben werden, ist für Deutschland durchaus peinlich. Verstärkt es doch den Eindruck, dass Deutschland allzu gerne mit dem Finger auf die Zustände anderer Länder, wie aktuell Polen oder Ungarn, zeigt und sich wenig um die Bedrohungslage für Frauen im eigenen Staat kümmert.
Der Beschluss der grünen Justizminister:innen kommt also spät, aber zu einem besonders drängenden Zeitpunkt. Denn durch die Coronapandemie hat sich die Gewalt gegen Frauen deutlich verschlimmert. Da sich aufgrund von Kontaktbeschränkungen vieles ins eigene Zuhause und ins Digitale verschoben hat, ist dort auch sexistisch motivierte Gewalt angestiegen. Und diese bleibt meist unsichtbar.
Der Beschluss der grünen Justizminister:innen könnte dabei helfen, das Ausmaß sichtbar zu machen, und er enthält zusätzlich einen wichtigen symbolischen Charakter: Denn noch immer werden frauenfeindliche Straftaten individualisiert oder bagatellisiert – beispielsweise durch Täter-Opfer-Umkehr. Natürlich erfahren auch Männer Gewalt, doch bei Frauen ist sie strukturell. Es ist eine Form des Machtmissbrauchs, der aus einer historischen Ungleichheit heraus gewachsen ist, und seit Jahrhunderten immer wieder aufs Neue festgeschrieben wird.
Sexismus als Struktur begreifen
Ein juristisches Erfassen aller frauenfeindlichen Straftaten kann also dabei helfen, Sexismus als Struktur zu begreifen. In dem Beschluss wird auch die „Aufklärung und Verfolgung“ der Straftaten gefordert. Doch da ein Großteil von sexualisierter Gewalt, Missbrauch und Bedrohung überhaupt nicht zur Anzeige kommt, muss die Prävention priorisiert werden.
Mit der 2018 in Kraft getretenen Istanbul-Konvention hat Deutschland sich verpflichtet, Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhüten und zu bekämpfen. Und auch wenn Maßnahmen ergriffen wurden, ist laut Frauenrechtsorganisationen die Konvention noch nicht genügend umgesetzt.
Es fehlt an Hilfestrukturen für Betroffene, Frauenhäuser und Nottelefone sind überlastet. Die zuständigen Behördenmitarbeiter:innen sind häufig nicht ausreichend sensibilisiert und geschult. Auch die Gewaltprävention muss, angefangen bei den Jüngsten der Gesellschaft, ausgebaut werden. Erst wenn das erreicht ist, kommen wir einer Gesellschaft näher, in der Frauen auf der Straße, im Netz und im eigenen Zuhause sicher leben können.
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