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Serienkolumne Die CouchreporterWettkampf um das Recht auf Flucht

Andreas Hergeth
Kolumne
von Andreas Hergeth

In der Netflix-Serie „3%“ sind Überwachung und Kontrolle Alltag. Doch es gibt einen Ausweg für jene, die sich in Tests bewähren.

Die Protagonisten von „3%“ leben in einer überbevölkerten Zukunft Foto: dpa

E ndlich mal unverbrauchte Gesichter. Endlich mal eine Geschichte, die gefühlt nicht schon hundertmal erzählt wurde. Dabei macht es einem diese erste Netflix-Eigenproduktion aus Brasilien anfangs nicht leicht.

Nicht, weil es sie nicht deutsch synchronisiert gibt, sondern nur untertitelt – das ist eher von Vorteil: das brasilianische Portugiesisch klingt so hübsch melodisch und sanft. Aber „3%“ hat ein ganz eigenes Erzähltempo, viel langsamer, als man es heute gewohnt ist, daran muss man sich in den ersten der acht Folgen erst (wieder) gewöhnen.

Die Serie ist in der nahen Zukunft angesiedelt. Die macht keinen Spaß, sondern Angst. Jeder Mensch hat einen implantierten Chip hinterm Ohr, der nicht nur seine Identität preisgibt; alle möglichen Daten sind abrufbar. Und so gut wie jeder Winkel im öffentlichen Raum ist über Kameras einsehbar. Ein Horrorszenario.

Es herrscht Endzeitstimmung, sie hängt wie eine graue Dunstglocke über dem Großstadtmoloch, dem „Festland“. Es gibt dort einfach zu viele Menschen. Sie leben in desolaten Zuständen, sind in Lumpen gekleidet, hungern. Einen funktionierenden Staat scheint es – bis auf Kontrolle und Sicherheit – nicht mehr zu geben. Amerikanische Serien greifen in diesem Genre gern auf brachiale Mittel, Gewalt, Militär oder eben Zombies zurück – das ist hier glücklicherweise anders.

Nur drei Prozent treten die Reise ins Unbekannte an

In „3%“ geht es um Überbevölkerung, digitale Überwachung und Bildung im weitesten Sinne. Denn es gibt eine Chance, dem Elend zu entkommen. Einmal im Jahr können alle Achtzehnjährigen an einem Ausleseverfahren teilnehmen, an dessen Ende ein Ticket in eine bessere Welt wartet. Und die liegt auf einer Insel.

Nur drei Prozent eines Jahrgangs (daher der Serientitel) werden nach einer Reihe von Tests die Reise in Unbekannte antreten. Niemand weiß, wie es dort zugeht. Es gibt nur Gerüchte: Alle haben genug zu essen, gründen Familien, werden steinalt, sind nie krank, aber immer glücklich. Klar, dass es da einen Haken geben muss.

Die Achtzehnjährigen müssen fürs Auswahlverfahren als Erstes ihre Lumpen ausziehen und – wie ein Ritual des Übergangs – in trendige Einheitskleidung schlüpfen. Ihre alten Klamotten werden aufgehoben: Alle, die es nicht schaffen, bekommen sie zurück – das sind bittere Szenen. Überhaupt gibt es hier kaum freudige Momente. Eine Serie, die Bauchschmerzen verursacht.

Mit einer brasilianischen Telenovela hat das nichts zu tun

Die Tests zielen natürlich nicht allein auf die körperliche Fitness ab, sonst wäre ein Typ wie Fernando nicht dabei, der im Rollstuhl sitzt – auf der Insel kann man seine Querschnittslähmung heilen. Die Intelligenz wird genauso getestet wie soziale Kompetenzen, Führungsqualitäten und Machtinstinkt. Mal kommt jemand weiter, der anderen hilft, mal jemand, der über Leichen geht – im wahrsten Sinne des Wortes.

Das alles ist starker Tobak und fesselnd, weil unerwartet. Der gut vorbereitete Schönling schafft es eben doch nicht, dafür aber die unangepasste Außenseiterin. Auf nichts ist hier Verlass. Alles und jede/r ist manipulierbar. Mit einer klassischen brasilianischen Telenovela hat das schönerweise nichts mehr zu tun. Die Serie spielt zwar in der Zukunft, verhandelt aber Themen unserer Tage.

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Andreas Hergeth
Redakteur & CvD taz.Berlin
In der DDR geboren, in Westmecklenburg aufgewachsen, Stahlschiffbauer (weil Familientradition) gelernt, 1992 nach Berlin gezogen, dort und in London Kulturwissenschaften studiert, 1995 erster Text für die taz, seit 2014 im Lokalteil Berlin als Chef vom Dienst und Redakteur für Kulturpolitik & Queeres.
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1 Kommentar

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • Das ist ganz alter Wein, und zwar in nur unwesentlich jüngeren Schläuchen.

     

    Geschichten, in denen Leute Gott gleichen wollen, indem sie andere willkürlich selektieren, dabei aber doch nur erkennbar Amtsanmaßung treiben, gibt es viele. Als Schüler mussten wir mal Krabat lesen, eine Geschichte, die auf eine alte sorbische Sage zurückgeht. Die Tribute von Panem sind Kaspertheater dagegen.

     

    Die Leute kriegen solche Storys niemals über. Das liegt nicht daran, dass sie ganz besonders spannend sind – der Plot läuft immer auf das selbe raus, mit Zombies oder ohne – sondern daran, dass viele Leute Abwechslung von ihrem langweiligen Leben suchen. Wären sie mutiger, könnte ihr eigenes Leben genau diese Abwechslung bieten. Das kann es nicht, weil sie das – wie die Philosophen sagen – Geworfensein nicht aushalten.

     

    Die Willkür eines Lebens, das ohne ohne jede erkennbare Logik heute diesen und morgen jenen am ausgestreckten Arm verhungern lässt oder zu ungeahnter Größe aufbläst, macht Angst. Niemand weiß, ob er nicht morgen schon an Krebs erkranken, einen geliebten Menschen verlieren, von seinem Sexpartner verlassen, fristlos gekündigt, ausgeraubt oder vom Laster überrollt werden wird.

     

    Weil das so ist, geht man den Unwägbarkeiten lieber aus dem Weg. Man tut brav das, was andere verlangen. Dann hat man wenigstens ein bisschen das Gefühl, man hätte die Kontrolle und alles könnte gut werden. Zur Strafe wird das Leben fad. So fad, dass man den Schauspielern im Kino beim Geworfenwerden zuschauen muss. „Wie gut“, denkt man dabei, „dass ich nicht so gefährdet bin!“

     

    Ich glaube nicht, dass ich etwas verpasse, wenn ich diese Serie nicht anschaue. Müsste ich selbst eine schreiben, würde meine Hauptfigur alle Tests bestehen. Aber nur, um ganz am Ende ihre alten Klamotten wieder anzuziehen und den Testern den Stinkefinger zu zeigen. Auf einer Insel, auf der die Glückseligkeit von Arschlöchern garantiert wird, könne sie unmöglich glücklich werden.