piwik no script img

Sensorische Barrieren im Supermarkt„Stille Stunde“ reicht nicht

Eiken Bruhn
Kommentar von Eiken Bruhn

Supermärkte reduzieren einmal wöchentlich für zwei Stunden den Lärm. Das soll Au­tis­t:in­nen und anderen reizoffenen Menschen den Einkauf erleichtern.

Grelles Licht, Scanner-Piepen, Dudelmusik: Einkaufen ist für reizoffene Menschen der pure Stress Foto: Julian Stratenschulte / dpa

E ine „stille Stunde“, verspricht ein Supermarkt am Bremer Stadtrand ab sofort. Immer am Mittwochmorgen zwischen 8 und 9 Uhr soll es dort besonders ruhig zugehen, „kein Piepen an der Kasse, kein Marktradio, keine Warenverräumung“, auch das Licht würde gedimmt. Das ermögliche „reizarmes Einkaufen“ und für alle den Einkauf als „positives Erlebnis“, wie es auf der Homepage heißt.

Solche „stillen Stunden“ richten seit vergangenem Jahr deutschlandweit immer mehr Supermärkte ein, nicht immer in Randzeiten wie in Bremen und meistens für zwei Stunden. In Hannover gibt es ein Geschäft, in dem dienstags von 13 bis 15 Uhr kein Scanner-Piepen zu hören sein soll, in Greifswald dienstags zwischen 18 und 20 Uhr.

Dahinter steht die Erkenntnis, dass es manchen Menschen schwerer als anderen fällt, Sinneseindrücke auszublenden. Es geht dabei nicht um eine überwindbare „Empfindlichkeit“, sondern um neurologische Unterschiede. Wer sehr viele Reize auf einmal verarbeiten muss, verbraucht auch sehr viel Energie. Das kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass jemand nach einem Einkauf physisch und psychisch so überfordert ist, dass er oder sie zusammen bricht. Betroffen sind – in unterschiedlichem Schweregrad – vor allem Menschen aus dem Autismus-Spektrum.

Als besonders „reizoffen“ gelten auch Personen mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sowie Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Überlastung anders auf Sinneseindrücke reagieren als gewöhnlich oder einfach immer schon mehr wahrgenommen haben als der Durchschnitt – ohne dass dies als krankheitswertig gilt.

Lärm ist nur eine Kategorie

Das Konzept der stillen Stunde bekannt gemacht hat in Deutschland ein Verein aus Rheinland-Pfalz, der im September dafür vom Spiegel mit dem „Social Design Award“ ausgezeichnet wurde. Supermärkte sind für den Verein nur ein Beispiel dafür, wo sensorische Barrieren abgebaut werden müssen, um allen die uneingeschränkte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.

Das wird als Inklusion bezeichnet – und genau das ist die stille Stunde nicht. Denn Inklusion bedeutet, dass die Welt so gestaltet wird, dass sie immer für alle zugänglich ist – und nicht einmal in der Woche für zwei Stunden.

Ein Unternehmen, das Inklusion ernst nimmt, würde sich nicht darauf verlassen, dass Fi­li­al­lei­te­r:in­nen verstehen, wie Au­tis­t:in­nen die Welt wahrnehmen. Sondern in Supermärkten grundsätzlich auf Musik und Werbung verzichten und für leise brummende Kühlgeräte und Lüftungen sorgen. Dasselbe gilt übrigens für Schulen und Kindergärten, in denen es immer zu laut ist – worunter alle leiden, wie Untersuchungen zur Gesundheit von Kindern und Päd­ago­g:in­nen zeigen.

Lärm ist dabei nur eine Kategorie, diejenige, die am einfachsten zu messen ist, aber auch bei visuellen Reizen und Gerüchen ist Luft nach oben – etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Mit einer stillen Stunde ist es nicht getan.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Eiken Bruhn
Redakteurin
Seit 2003 bei der taz als Redakteurin. Themenschwerpunkte: Soziales, Gender, Gesundheit. M.A. Kulturwissenschaft (Univ. Bremen), MSc Women's Studies (Univ. of Bristol); Alumna Heinrich-Böll-Stiftung; Ausbildung an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin; Lehrbeauftragte an der Univ. Bremen; Systemische Beraterin.
Mehr zum Thema

12 Kommentare

 / 
  • Das wäre ein Segen, leider bietet das kein Supermarkt in meiner Nähe an und ich befürchte auch, dass andere Menschen im Markt sich nicht an die "Stille Stunde" halten würden.

    Ein Anfang wäre es auch, wenn die Waren an ihrem gewohnten Ort verbleiben würden, und nicht alle drei Wochen sämtliche Regale umorganisiert werden würden.



    So könnte ich routiniert durch den Laden flitzen, in den gewohnten Regalen das finden, was ich suche, und wäre schnell wieder raus, bevor die Reizüberflutung überhand nimmt.

  • Inklusion ist superwichtig. Gut, dass es diesen Ansatz gibt.



    Aber können wir nicht diesen unnötigen Lärm einfach bleibenlassen? Für alle? Der macht Einkaufen stressig.



    Wir gehen bewusst in Läden, die uns zumindest nicht mit Werbung quälen. Aber lautlose Scannerwären auch klasse.

  • Ich verstehe die stille Stunde auch nicht so ganz.



    Wissen denn die Durchschnittsmenschen, dass diese Zeit den Menschen mit überdurchschnittlicher Wahrnehmung vorbehalten ist? Wenn nicht, wie soll das abgeschaltete Radio dabei helfen, wenn in den Gängen weiterhin Kinder und Erwachsene reden, rufen und lachen? Und das Scannerpiepen, das lässt sich ausschalten? Warum gibt es das dann überhaupt?

    • @Herma Huhn:

      Zitat: "Und das Scannerpiepen, das lässt sich ausschalten? Warum gibt es das dann überhaupt?"



      Antwort: Weil der Kassierende dann immer auf das Display schauen muss, um zu sehen, ob die Ware registriert wurde. Das ermüdet ihn stark.

  • Supermärkte sind keine Arztpraxen oder Krankenhäuser. Das Ziel ihrer Betreiber ist es, Lebensmittel und sonstige Waren des alltäglichen oder auch weniger alltäglichen Alltags zu verkaufen. Dafür machen sie Werbung, auch im Markt selbst, mit Durchsagen und grellen Plakaten. Und laut Verkaufspsychologen und Verkaufspsychologinnen steigert auch die Dudelmusik (deswegen auch oft Kaufhaus- oder Fahrstuhlmusik genannt) das Einkaufsverhalten der Mehrheit der Kunden und Kundinnen, die kaufen dann mehr.

    Schön, wenn trotzdem für einige Stunden keine Musik und keine Werbung im Supermarkt läuft, aber die ganze Zeit drauf verzichten, würde zu weniger Einnahmen führen. Weniger Einnahmen führen dann schlimmstenfalls zur Schließung, und das will hoffentlich keiner.

  • Hätte ich auch gern. Allein diese fürchterlich nervende Stimme der Werbetante aus den Lautsprechern. Ich fühle ich im Laden derart unwohl, dass ich immer so schnell wie geht wieder raus will. ;-)

  • Wäre es für Betroffenen nicht einfacher, ihre Einkäufe online zu bestellen?

    • @Ruediger:

      Wird schnell teuer und ist oft ökologisch suboptimal. Ich wäre eher für eine dauerhafte Ruhe.

      • @Bunte Kuh:

        auch der weg zu supermarkt kann für betroffene menschen schon stress bedeuten.

      • @Bunte Kuh:

        Wirso soll das ökologisch suboptimal. Es fallen sehr viele Fahrten weg, die durch ein Paketdienstauto ersetzt werden.

    • @Ruediger:

      Nö.

  • Das würde ja Rücksichtnahme und eventuell sogar ein bisschen Verzicht bedeuten...