Seltsames Spektakel mit Frau und Pferd: „Kolossal dumm“
In den USA stürzten sich bis 1978 vornehmlich Frauen mit Pferd vom Sprungturm in einen Pool. Das Publikum war begeistert. Die Idee hatte ein Mann.
D er Vater wollte nicht springen. Die Theorie hatte er sich hübsch ausgedacht, aber die Praxis sollte dann doch lieber die Tochter ausprobieren. Lorena Carver war gerade 18 Jahre alt, reiten konnte sie nicht. Dennoch stieg sie aufs Pferd, sittsam gekleidet in eine Art Burkini. Dieses Pferd stand weder auf einer Weide noch in einem Parcours, sondern auf einem zwölf Meter hohen Sprungturm über einem Pool. Und Lorena Carver stürzte sich vor dem atemlosen Publikum mitsamt Gaul kopfüber vom Sprungturm ins Wasser. Beide überstanden den Sturz. Horse Diving hieß dieser irre Sport, den der Wildwest-Scharfschütze, Selbstdarsteller und Buffalo-Bill-Kumpan William Frank „Doc“ Carver hiermit 1894 erfand. Aus der Schnapsidee wurde ein Klassenschlager, der in den USA bis 1978 praktiziert wurde. Und den vor allem Frauen betrieben.
Als Selbstbefreiung muss man das sicher nicht verstehen. Carver suchte per Anzeige „attraktive, junge“ Frauen, in späteren Versionen der Show zupfte der Gaul der Frau vorab die Kleider über dem Badeanzug vom Leib. „Doc“ Carver war ein Aufschneider, der sich rühmte, 30.000 Büffel erlegt zu haben und Wildwestshows veranstaltete, bevor er sich mit Spezi Buffalo Bill gegenseitig verklagte und ein neues Steckenpferd brauchte.
Die Idee, Pferde mit Reiterin aus bis zu 18 Metern Höhe ins Wasser springen zu lassen, wollte er wahlweise durch einen eigenen Sturz oder auf der Flucht vor Banditen bekommen haben. Selbst sprang er nie. Tochter Lorena hatte den Mumm und wurde die erste Athletin in einer Art Wanderzirkus der springenden Pferde. Ungefährlich war das nicht: Tierschützer:innen gehen davon aus, dass die Tiere Verletzungen etwa an inneren Organen erhielten. Ein Pferd ertrank, ein Reiter starb. Die Reiter:innen beharrten stets darauf, die Pferde sprängen freiwillig und schadlos.
Das Risiko, das die springenden Frauen eingingen, trug nur zu Faszination bei. Vor allem bei Sonora Webster, der berühmtesten Pferdespringerin. Webster kam 1923 zur Show. Die 20-Jährige, älteste von sechs Geschwistern, hatte zuvor Bücher verkauft, sah die Show und war fasziniert. Ihre Mutter entdeckte kurz darauf eine Anzeige von Carver in der Zeitung. Webster war zwar vernarrt in Pferde, wollte aber zuerst nicht gehen – Mutti hielt es dagegen für eine gute Idee.
Die sollte Sonora Webster berühmt machen, auf zweischneidige Weise. Nach Schlankheitskur und Reitstunden trat Webster bei und sprang bis zu sechsmal täglich, die Show stand auf ihrem Zenit. Doch 1931 gelang es ihr nicht rechtzeitig, beim Aufprall aufs Wasser die Augen zu schließen. Sie erblindete und stürzte sich dennoch weiter hinunter. Die „Blinde Venus“ wurde der größte Star. Schwester Arnette, die mittlerweile ebenfalls mitmachte, sagte später, die beiden konnten nie verstehen, warum die Öffentlichkeit so viel Aufhebens um den Mut machte, blind zu springen. „Es hat einfach so viel Spaß gemacht. Wir haben das so geliebt.“
Elf Jahre lang machte Sonora Carver (sie hatte mittlerweile den Sohn des „Doc“ geheiratet) ohne Augenlicht weiter, bis der Zweite Weltkrieg ihre Karriere beendete. In den Neunziger Jahren verfilmte Disney ihre Geschichte in einem schnulzigen Streifen namens „Wild Hearts can’t be broken“. Die Athletin selbst war wenig beeindruckt. „Das einzig Richtige in dem Film war, dass ich Horse Diving gemacht habe, blind wurde und weitergemacht habe.“ Sie wurde 99 Jahre alt. Das Pferdespringen war da längst Geschichte. 1978 setzte ihm der Tierschutz ein Ende. Wiederbelebungsversuche 1993 und 2012 scheiterten an öffentlichem Protest. Tierschutzorganisationen nannten es eine „kolossal dumme Idee“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“