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Selenskyj mit Siegesplan in der EUUkrainischer Wettlauf gegen die Zeit

Der ukrainische Präsident Selenskyj reist nach Brüssel, um für seinen „Siegesplan“ zu werben. Bei Nato und EU stößt er auf nüchterne Skepsis.

Verteidigungsminister treffen sich in Brüssel: Nato-Chef Rutte und US-Verteidigungsminister Austin beraten über die Ukraine Foto: Yves Herman/reuters

Berlin taz | Dramatische Appelle und emotionale Reden kann er. Nach Besuchen in der vergangenen Woche in Paris, London, Rom und Berlin tauchte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag nun in Brüssel beim EU-Gipfel auf. Er warnte vor einem „gefährlichen Winter“ für die Ukraine – und forderte erneut mehr Luftabwehrsysteme, um sein Land gegen die Angriffe Russlands zu verteidigen. Sein Hauptanliegen in Brüssel: Die 27 europäischen Staats- und Regierungschefs von seinem „Siegesplan“ zu überzeugen.

Ort und Zeit sind strategisch gewählt. Um seinen „Plan“ – der eigentlich eher einem Wunschkatalog entspricht – umzusetzen, ist er auf die internationalen Verbündeten angewiesen. Denn sie sind die entscheidende Stütze, damit die Ukraine militärisch wie wirtschaftlich überlebensfähig ist. Und Europa ist mehr denn je gefragt. Kommt es bei der US-Präsidentschaftswahl am 5. November zu einem Machtwechsel im Weißen Haus und sollte der Republikaner Donald Trump erneut US-Präsident werden, dürfte es für die Ukrainehilfen düster aussehen.

Auch unter der Demokratin Kamala Harris wird es vermutlich finanzielle Einschnitte geben, auch wenn sich in der Haltung gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin wenig ändern dürfte. Selenskyj bleibt derzeit nichts anderes übrig, als für Unterstützung zu werben und sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten.

EU-Ratspräsident Charles Michel versicherte dem ukrainischen Präsidenten, dass die EU so lange wie nötig an der Seite der Ukraine stehen werde. Michel sagte zudem zu, dass man schauen werde, wie die Hilfen – sowohl militärisch als auch finanziell – beschleunigt werden können. Diese vorsichtige Formulierung lässt auch auf Spannungen innerhalb der Mitgliedsstaaten schließen. In Arbeit ist derzeit ein Hilfspaket, aus dem die EU bis zu 35 Milliarden Euro beisteuern will und das aus den Zinsen eingefrorener russischer Vermögenswerte finanziert werden soll.

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Zukunft der Ukraine soll in der EU liegen

Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán hat sich mehrfach kritisch zu einer solchen Finanzhilfe geäußert. Ungarn hat derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne und sorgte gleich zu Beginn für Verstimmung innerhalb der EU mit nicht abgesprochenen Reisen erst nach Kyjiw, dann nach Moskau und schließlich nach Peking und in die USA.

„Die Zukunft der Ukraine liegt in der EU“, sagte Michel. Die Rede ist von enormen Fortschritten für den EU-Beitritt, es gibt Lob für Selenskyj und die Reformbemühungen der Ukraine. „Auf die EU könnt ihr zählen.“ Was das für die nächsten Monate heißt, bleibt aber unklar. Zwar ist die „Winterhilfe“ längst angelaufen und vor allem zerstörte kritische Infrastruktur wie Wärme-, Strom- und Wasserversorgung wird wieder aufgebaut.

Auch an Schutzmaßnahmen wird gearbeitet. Russland bombardiert gezielt Umspannwerke oder Großanlagen. Diese sind im Ernstfall deutlich langsamer zu reparieren. Brennt etwa ein Autotransformator, gilt das Feuer als nahezu nicht löschbar. Das Bundesentwicklungsministerium unterstützt etwa beim Bau von Betoneinhausungen, also einem dicken Schutzmantel für Umspannwerke. Der Wiederaufbau findet unter hohen Sicherheitsvorkehrungen statt und ist eine logistische Herausforderung.

In seinem „Siegesplan“ fordert Selenskyj auch eine Einladung zum Nato-Beitritt. „Ab sofort muss Putin sehen, dass er mit seinem geopolitischen Kalkül falsch liegt.“ Russland wollte mit Angriffskrieg unter anderem verhindern, dass sich die Ukraine dem Transatlantischen Bündnis annähert. Der neue Nato-Generalsekretär Mark Rutte äußerte sich beim Treffen der Verteidigungsminister vorsichtig bis skeptisch. Zwar stehen die Verbündeten geschlossen hinter der Ukraine. Allerdings ist der Zeitpunkt völlig offen. Die Frage nach dem „Wann“ könne er – Rutte – jetzt nicht beantworten.

Biden trifft Scholz, Starmer und Macron in Berlin

Am Donnerstagabend wurde US-Präsident Joe Biden in Berlin erwartet. Der Besuch in der Hauptstadt findet unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen statt. Biden hätte bereits in der vergangenen Woche nach Berlin kommen sollen. Geplant waren hochrangige Gespräche mit etlichen Staats- und Regierungschefs.

Vor allem vom sogenannten „Ramstein-Gipfel“ hatte sich Selenskyj viel erhofft, sollte doch von dem Treffen ein deutliches – wenn auch symbolisches – Signal an Putin ausgehen. Dank Hurrikan „Milton“ wurde daraus nichts. Nun wird der Empfang Bidens in Deutschland nachgeholt. Allerdings abgespeckt. Neben einem 4-Augen-Gespräch mit Kanzler Scholz, kommen auch der britische Premier Starmer und Frankreichs Präsident Macron mit Biden in Berlin zusammen.

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11 Kommentare

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  • Der sogenannte 'freie Westen' ist nicht bereit, weder sein diplomatisches noch sein militärisches Gewicht einzusetzen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. So treibt man das 'Spiel' mit den unterschiedlichen Interessen zu Lasten der UkrainerInnen, deren 'Wehrhaftigkeit' soweit unterstützt wird, dass ein Sieg für Putin unmöglich oder zu teuer wird. Das wohl in der vagen Hoffnung, Putin würde irgendwann aufgeben oder beseitigt werden. Bisher scheint aber nur das Gegenteil erreicht zu werden: Putin sitzt fester im Sattel denn je. Russland und seine Verbündeten bringen sich derweil auf vielen Fronten, mittels Aufrüstung, 'Geisterschiffen', Trolle und BRICS, in Position, um eigene Interessen durchsetzen zu können. Und das einzige was dem 'freie Westen' dazu einfällt ist, bei jeder Gelegenheit seinen hegemonialen Führungsanspruch in Sachen Freiheit, Wohlstand und Moral anzumelden. Solche Selbstgerechtigkeit ist ein sicherer Weg in die Eskalation.

    • @Stoersender:

      In der Analyse stimme ich Ihnen zu.



      Aber was ist jetzt die Schlussfolgerung: Putin und Selenskyi an den Verhandlungstisch zwingen, um einen russischen Diktatfrieden auszuhandeln? Krim/Donbass (plus Landkorridor) gegen NATO-Mitgliedschaft der Rest-Ukraine (der alte Kissinger-Vorschlag)? Oder Putin so lange militärisch unter Druck zu setzen - mittels noch massiverer Ukraine-Unterstützung oder gar direkter NATO-Intervention - bis sich in Moskau ein Regimewechsel bzw. Sieg der Ukraine abzeichnet?



      Dass letzteres Szenario dabei das unwahrscheinlichste ist, dürfte wohl auf der Hand liegen.

  • "Die Rede ist von enormen Fortschritten für den EU-Beitritt, es gibt Lob für Selenskyj und die Reformbemühungen der Ukraine."

    Worin bestehen diese "enormen" Fortschritte konkret? Schöne Worte und Reformen, die hauptsächlich auf dem Papier stehen, sind hoffentlich nicht gemeint.

  • Was für ein lächerliches Versprechen! Welche Urkraine solle da eigentlich eine Zukunft in der EU bekommen? Ist da etwa die russisch besetzte Ukraine gemeint? Widersprüchlicher könnte das westliche Lavieren nicht sein. Man will Russland eine Lehre erteilen, hofft, dass Putin seine Truppen stoppt, wenn sie an den Grenzen von Polen und den Baltischen Staaten stehen und er de Errichtung seines Cordon sanitaire zur NATO ein gutes Stück näher gekommen ist., und läßt ihn gewähren. Man schickt Hilfsgelder, aber gerade so viel, dass sie den Zusammenbruch eben nicht verhindern.



    Im Augenblick sieht es jedenfalls so aus als würde der ukrainische Widerstand wegen mangelnder westlicher Unterstützung bald zusammenbrechen.



    Spätestens am 6. November, nach der Präsidentenwahl in den USA wird Selensky klarer sehen. Scholz ist in aus mancherlei Günden in Putins Netz gefangen. Auf ihn war nie Verlass. Das ist Selensky sicher lange klar, auch wenn er sich weiter artig bei Scholz für dessen Unterstützung bedankt.

    • @NormalNull:

      "Scholz ist in aus mancherlei Günden in Putins Netz gefangen."

      Nein. Scholz Haltung kann man auch ohne Verschwörungsgemukel erklären.

      Er ist als deutsche Kanzler vereidigt. Nicht als ukrainischer Präsident.

  • "Bei Nato und EU stößt er auf nüchterne Skepsis. "



    Toll wäre, wenn er stattdessen auf tragfähige Alternativlösungen stieße. Aber da kommt nix...

  • Das ist schon irgendwie obskur. Die Zukunft liegt in der EU, nur wie der Weg dahin aussehen soll, das sagt niemand, schließlich ist die Ukraine im Krieg mit Russland, das ist nicht irgendein Prozess, entweder gibt es die Ukraine am Ende des Krieges noch (durch Verhandlung oder Sieg) oder eben nicht. Es mutet schon weltfremd an, wenn über einen EU Beitritt gefaselt wird, "Auf die EU könnt Ihr zählen" (oder so) nur gibt es eben nichts konkretes, Politik as usual. Nur das hier nichts gewöhnlich ist, entweder man setzt alles auf eine Karte oder lässt es bleiben, das ist die Logik im Krieg, ein taktieren, wi eüblich, wohin soll das führen?



    Sagt doch der Ukraine, das wird nichts mehr mit dem Sieg, arangiert euch mit Russland, aber solche Luftschlösser wie der EU Beitritt, was soll das?



    Niemand in der EU würde einen Beitritt zulassen, weil dann die EU Kriegspartei wäre, ergo muß der Krieg vorher zu Ende sein, nur darüber macht sich niemand Gedanken, alles am Köcheln halten, läuft sich schon tot, irgendwie.



    Absurd!

    • @nutzer:

      Dass so viele lupenreine Demokrat*innen, wenn es darauf ankommt, eine aufkeimende Demokratie wie die Ukraine vor die Hunde gehen lassen, macht mir Angst.



      Hätten Sie das Rückrat und den Mut unsere Demokratie zu verteidigen, wenn es darauf ankäme oder würden sie uns für ein gepämpertes Exil im Stich lassen?

      • @DieLottoFee:

        So ganz verstehe ich Ihre Antwort nicht.... was es braucht, ist eine Position der EU, die der Ukraine hilft. Kein Versprechen von Luftschlössern, Symbolpolitik hilft niemanden. Will die EU sich nicht positionieren, dann ist es dasselbe, wie zu sagen "Ergebt Euch!". Ein EU Beitritt ist keine Lösung, keine Drohung an Russland, lediglich ein Selbstbetrug, wir tun doch was (solange es nicht weh tut)



        Was ich tun würde, k.A., was würden Sie tun? Ist aber auch irrelevant, ich kann nur die über diese Politik das Brechen kriegen...

        • @nutzer:

          Das "Sie" war nur versehentlich groß geschrieben. Mir ging es auch um unsere Politiker*innen. Es ist bitter, wenn man sich fragen muss, wem man überhaupt zutrauen würde, unsere Demokratie tatsächlich zu verteidigen.

      • @DieLottoFee:

        Ja, ok, es gibt einige, die sich auf in die Ukraine gemacht haben, um unsere Demokratie zu verteidigen. Ich dagegen bin old school, damals gehörte es für Linke zum guten Ton den Kriegsdienst zu verweigern. Die Grünen wollten vor der letzten Bundestagswahl noch keine Waffen in Kriegsgebiete senden. Ich gehe nicht in die. Ukraine, um die westlichen Werte zu verteidigen.