Selenski in Deutschland: Ziemlich beste Freunde
Der ukrainische Präsident Selenski bekommt bei seinem Deutschlandbesuch den Karlspreis verliehen – und eine Zusage für Waffenlieferungen in Milliardenhöhe.
E rst nach strikter Sicherheitskontrolle steuerten Hauptstadtjournalist:innen am Sonntag im Sondershuttle das Bundeskanzleramt an. Die hohen Sicherheitsmaßnahmen für den ukrainischen Staatspräsidenten Wolodimir Selenski überstiegen gefühlt die, die 2013 anlässlich des Besuchs von US-Präsident Barack Obama vorgenommen wurden, als er Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) traf.
Damals tobte kein Krieg in Europa, aber genau wie damals, bei Selenskis erstem Deutschlandbesuch kurz vor dem Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022, war am Sonntag der Ton freundlich, zwei Partnerländer, die sich auf gegenseitige Freundschaft einschwören.
Schon bei seinem Treffen mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier – frisch rasiert, Hemd und Krawatte – sparte Selenski – unrasiert mit Militärhose und schwarzem Pullover mit ukrainischer Flagge und dem Hinweis auf der ukrainischen Spendenplattform „United24“ – nicht mit Lob:
„In der schwierigsten Zeit der modernen Geschichte der Ukraine hat sich Deutschland als unser wahrer Freund und verlässlicher Verbündeter erwiesen, der im Kampf für die Verteidigung von Freiheit und demokratischen Werten entschieden an der Seite des ukrainischen Volkes steht“, schreibt Selenski im Gästebuch der Residenz in Bellevue.
180-Grad-Drehung
Keine Spur ist geblieben von der Spannung, die in den ersten Kriegsmonaten die Beziehung zwischen Steinmeier und Selenski prägte. Wegen der russlandfreundlichen Politik des SPD-Politikers, besonders in seiner Zeit als Außenminister in Merkels drittem Kabinett, musste Steinmeier im April 2022 eine Reise nach Kyjiw kurzfristig absagen – er war dort nicht willkommen. Ein Jahr später hat sich die Stimmung um 180 Grad gedreht: „Vielen Dank, Herr Bundespräsident, für Ihre persönliche Unterstützung der Ukraine und Gastfreundschaft“, so Selenski.
Rund um das Bundeskanzleramt, auf tiefgrünen Wiesen, stehen mindestens vier Hubschrauber der Bundespolizei. Sie warten. Drinnen, hinter dem Rednerpult, wo kurz vor Mittag die Pressekonferenz von Scholz und Selenski stattfinden wird, zwei Flaggen der Europäischen Union (EU) flankieren jeweils die deutsche und die ukrainische.
Zwischen die versammelte Presse und aufgebaute Fernsehkameras mischen sich unauffällig einige Mitglieder der Ampelkoalition hinter den Fernsehkameras. Als käme er überpünktlich, tauchte als Erster der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) auf.
Als die wartenden Kameras ihn entdecken, lächelt er nur kurz – „ich werde nichts sagen!“. Bald darauf gesellen sich andere Minister*innen dazu, wahrscheinlich noch ein Versuch, ein Zeichen des freundlichen Zusammenhalts zu liefern. Finanzminister Christian Lindner (FDP) ist dabei, auch Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und ihr ukrainischer Amtskollege Dmytro Kuleba kommen dazu. Aber die Blicke richten sich vor allem auf Pistorius, denn sein Ministerium hat am Samstag das Geschenk für Selenski vorangekündigt: 2,7 Milliarden Euro für Waffenlieferungen an die Ukraine.
Deutschland jetzt auf Platz 2
Die bislang größte deutsche Lieferung seit Kriegsbeginn ist der Mittelpunkt der nun folgenden Presseunterrichtung. Scholz und Selenski duzen sich – es geht ja vor allem um Augenhöhe, Freundschaft auszustrahlen. Deutschland ist nach den USA zweitgrößter Lieferant von Waffen für die Ukraine. Seit Kriegsbeginn hat die Bundesregierung die Ukraine insgesamt mit 17 Milliarden Euro unterstützt.
Das nun angekündigte Maßnahmenpaket beinhaltet unter anderem Material für die Artillerie, Luftverteidigung, über 200 Aufklärungsdrohnen, gepanzerte Gefechtsfahrzeuge, 18 Radhaubitzen, Artilleriemunition, 4-Iris-T-SLM-Feuereinheiten zur Flugabwehr, aber auch 30 Leopard-Kampfpanzer vom Typ 1 A5 und 20 Marder-Schützenpanzer.
Zur Frage einer möglichen Friedensinitiative von Drittländern wie China oder Brasilien, die zusammen mit Russland in der wirtschaftlichen Vereinigung BRICS sind, antwortete Selenski am Sonntag in Berlin, dass der Krieg auf ukrainischem Gebiet tobe und deshalb nur Kyjiw die Friedensinitiative übernehmen könne. Einen 12-Punkte-Friedensplan stellte Selenski bereits im Rahmen des G20-Gipfels in Indonesien im November vergangenen Jahres vor.
“Wir sind bereit, jegliche Vorschläge zu besprechen, aber nur auf der Plattform, die wir anbieten.“ Scholz unterstützte seinen Gast und betonte, dass Gewalt “keine Grenze verschieben“ darf.
Kritik aus dem Globalen Süden
Der Bundeskanzler versprach ebenfalls diplomatische Bemühungen seinerseits, um die Kritik an “Doppelstandards“ gegenüber dem Westen, die in Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens oft zu hören ist, zu bekämpfen. Der Ukrainekrieg habe Auswirkungen in der ganzen Welt, zum Beispiel in den Liefer- und Ernährungsketten.
In der finalen gemeinsamen deutsch-ukrainischen Erklärung am Sonntag hieß es, dass die Frage der Förderung und Ausweitung der Nato-Ukraine-Partnerschaft beim Nato-Gipfel im kommenden Juli in Vilnius erörtert werde.
Pünktlich zum Besuch des ukrainischen Präsidenten veröffentlichte auch das Bundesinnenministerium Zahlen zu Einsätzen des Technischen Hilfswerks in der Ukraine – dem größten Logistikeinsatz seiner Geschichte. Deutschland hat 419 Hilfstransporte durchgeführt, 736 Verletzte und Verwundete sind bislang zur Behandlung in Deutschland in Kliniken und Krankenhäuser eingetroffen.
In der EU insgesamt wurden bislang 2.427 Patientinnen und Patienten aus der Ukraine aufgenommen. Darüber hinaus hat das THW über 600 Stromgeneratoren, 15 Batteriespeicher, Wohn- und Sanitärcontainern, Feldküchen, Feldbetten, Decken und Schlafsäcken geliefert.
Die Kampfjet-Koalition
„Seit Jahrzehnten haben wir eine enge Verbindung mit der Ukraine“, unterstreicht Scholz bei der Pressekonferenz. „Aber angesichts des Schreckens und Unrechts sind wir noch enger zusammengerückt. Die humanitäre, politische, finanzielle und, natürlich auch, Unterstützung mit Waffen werden wir so lange fortsetzen, wie es notwendig ist“, sagte Scholz.
Das „natürlich“ löst unter den Journalist*innen vereinzelt Lächeln aus, denn die 18 modernen Kampfpanzer bekam die Ukraine aus Deutschland erst nach langen innenpolitischen Diskussionen Ende März. Und das auch nur im Rahmen einer europäischen Initiative zusammen mit Polen, Norwegen, Kanada und Spanien. Ob Berlin nun auch Kampfjets westlicher Bauart liefern wird, will die akkreditierte Presse in Berlin wissen.
Wolodimir Selenski, Präsident der Ukraine
„Wir arbeiten an einer Kampfjet-Koalition“, antwortete Selenski, der in den letzten Tagen Polen, Finnland, Niederlande und Italien besucht hat. „Ich werde Deutschland darum bitten, sich auch daran zu beteiligen. Russland hat weiterhin ein Übergewicht im Luftraum.“ Scholz möchte nicht konkreter werden und wiederholt lediglich, dass die russischen Truppen zurückgezogen werden müssten.
Auf die Frage, ob die ukrainischen Streitkräfte mit den westlichen Waffen auch russische Gebiete angreifen werden, antwortet der ukrainische Präsident: „Wir greifen keine russischen Gebiete an, wir befreien nur unsere legitimen Gebiete und haben weder Zeit noch Kraft, auch keine Waffen übrig; mit der Gegenoffensive wollen wir die weltweit anerkannten Grenzen wieder erobern“, fügt Selenski hinzu. Und Scholz unterstützt seinen Gast: „Es handelt sich um einen imperialistischen Krieg auf ukrainischem Territorium.“
Großaufgebot in Aachen
Das Recht auf Selbstverteidigung scheint bei vielen Demonstrierenden in Aachen an diesem Sonntag kein gutes Argument für die deutsche Unterstützung zu sein. Schon am Morgen ist unübersehbar, dass der Stadt ein hektischer Tag bevorsteht. Ein Großaufgebot von Mannschaftswagen parkt um den Bahnhof, Polizist:innen haben sich in den umliegenden Straßen in Position gebracht.
Die Kundgebungen – gleich sechs sind anlässlich der Verleihung des Karlspreises an den ukrainischen Präsidenten und die ukrainische Bevölkerung geplant – beginnen Stunden vor dem Festakt. Im Kurpark südlich des Zentrums stimmt sich die Querdenken- und Friedensszene der Stadt auf diese Tag ein. „Raus aus der Nato, Nato raus!“, steht auf Fahnen, „Ich bin nicht im Krieg mit Russland“ auf einem Plakat.
Erst sind es nur wenige Dutzend, doch ihre Trommler:innen übertönen bald die Beats der Fitnessgruppe drüben auf dem Rasen. Einer von ihnen ist Wolfgang Burkhard, dessen weiße Kleidertracht an das Hambacher Fest erinnern soll. Warum er hier protestiert? „Selenski ist ein bösartiger Nazi“, sagt er. „Ein Zionist.“ Er selbst beschreibt sich als „freien, souveränen Menschen“, der sich nicht in einem Rechts-links-Spektrum verortet. „Unser Steuergeld geht für Waffen drauf, darum haben wir diese Inflation, und der kleine Mann kriegt es immer ab.“
Bis zuletzt hatte Unsicherheit darüber geherrscht, ob der ukrainische Staatspräsident persönlich in Aachen auftreten würde. Von Berlin flog er zusammen mit Scholz, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki in die nordrhein-westfälische Stadt an der belgischen Grenze.
Russlandversteher und Weltverschwörer
„Die Ukraine ist Teil unserer europäischen Familie“, würdigt Scholz seinen Gast bei der Preisvergabe im Aachener Rathaus. „Die blau-gelbe Fahne der Ukraine und das blau-gelbe Sternenbanner der EU wurden zu Symbolen für die Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung des Landes“, so Scholz.
Rund 120 Menschen im Aachener Kurpark sehen das anders. Nicht wenige davon teilen den Querdenken-Hintergrund. Wolfgang Burkard sagt: „Die Spritze war schon eine große Lüge.“ Eine ältere Teilnehmerin mit reflexhaftem Misstrauen gegen Journalist:innen – „Schreiben Sie die Wahrheit? Und wieso haben Sie dann Ihren Job noch?“ – spricht von einer „Agenda der Entmenschlichung“, die europaweit stattfinde:„Die WHO-Agenda 2030: ‚Sie werden nichts besitzen und glücklich sein‘.“
Was auffällt: Viele Teilnehmer:innen grenzen sich von Verortungen wie „links“ oder „rechts“ ab. Das gilt auch für eine Frau, die ein Banner der Basisdemokratischen Partei Deutschlands, hervorgegangen aus der Querdenken-Szene, trägt und erst nicht mit der taz reden möchte. „Wir wollen nicht, dass die WHO über unsere Gesundheit entscheidet und Baerbock Russland den Krieg erklärt“, sagt sie dann aber doch. Vor der Pandemie sei sie nicht politisch gewesen. „Bis vor zwei Jahren war meine Welt in Ordnung. Ich habe an die Regierung geglaubt. Jetzt stelle ich alles infrage.“
Auf der Gegenfahrbahn passieren zwei Autos, aus deren offenen Fenstern russische Fahnen wehen. Aus dem Lautsprecher erklingt „Give peace a chance“. In der Nähe des Bahnhofs tauchen vereinzelt andere Demonstrant:innen auf, die blau-gelbe Flaggen tragen. Ukrainische Geflüchtete aus Aachen und der Umgebung wollen sich gegen Mittag dort treffen. Auch zwei Rentner sind unterwegs. Einer stellt sich als Viktor aus Lwiw vor. „Nicht nur Selenski bekommt diesen Preis, sondern auch die ukrainische Bevölkerung. Täglich sterben Hunderte.“
Das Gesicht der Ukraine
Viktor selbst, in Schal und T-Shirt in den Landesfarben gekleidet, betont, er sei kein Fan von Selenski. „Der Vorgänger, Poroschenko, hat mir besser gefallen. Aber Selenski ist jetzt das Gesicht der ukrainischen Bevölkerung.“ Außerdem sei die Auszeichnung für den Präsidenten wichtig für ganz Europa. „Wenn Russland nicht gestoppt wird, gehen sie weiter.“
Vor dem Stadttheater formiert sich am Mittag eine andere Kundgebung. Es sind kaum mehr als zwei Dutzend Menschen, doch mit ihren russischen Fahnen und der aggressiven Rhetorik ist ihnen die Aufmerksamkeit von Passantinnen und Polizisten gewiss.
Eugen Walter, ein für prorussische Positionen hinlänglich bekannter AfD-Politiker aus Krefeld, zieht am Mikrofon gegen Amerika und Gender-Diskurs vom Leder und ruft dazu auf, die aktuellen Politiker:innen abzulösen. Sein Nachredner prangert die deutsche Rolle als „Hiwis, Vasallen und Knechte der Amerikaner“ an. Mehrmals wird „Ami go home“ skandiert, ein Einzelner ruft: „Deutschland erwache!“
Nur wenige Meter weiter vereinigt sich die Demonstration aus dem Park nun mit anderen Friedensbewegten und Querdenker:innen. Der Elisenbrunnen ist ein aus Pandemiezeiten bekannter Treffpunkt der Szene. Einige hundert Menschen haben sich versammelt. Das „Friedensbündnis NRW“ ist ebenso vertreten wie die „Freie Linke“.
Querdenker und Fuck Putin
Der „Deutsche Freidenker-Verband“ teilt Broschüren mit dem Titel „Russland ist nicht unser Feind. Keinen Euro für den Krieg“ aus. „Der Aggressor heißt Nato“, bringt sie es auf den Punkt, bevor eine umgetextete Version von Brechts „Resolution der Kommunarden“ das „Kriegsgeschrei gen Russland“ brandmarkt.
Am Rand der Kundgebung ereignet sich ein Gespräch zweier Bekannter, die in den 1990er Jahren in der lokalen Antifa-Szene aktiv waren. Der eine ist abgestoßen von der Rechtsoffenheit der Friedensbewegung und Querdenker:innen, der andere mokiert sich darüber, dass er bei ehemaligen Genoss:innen mit schwarz-roten Fahnen heute auf Ablehnung trifft. „Ich wäre für ein offenes Gespräch zwischen Antifa und Querdenken“, plädiert er noch, bevor eine andere herannahende Demonstration ihn übertönt.
Die Polizist:innen schließen die Reihen zwischen den beiden Gruppen. Aus dem blau-gelben Meer strecken sich wütende Mittelfinger in Richtung der Friedensfreund:innen, Daumen richten sich nach unten, manche davon gehören 12-jährigen Kindern.
Pfeifen und Buh-Rufe werden laut und lauter, doch die Querdenken-Trommelgruppe hält dagegen. Es dauert mehrere Minuten, bis der Zug den Elisenbrunnen passiert hat. „U-kra-i-na“, klingt es aus sicher 2.000 Mündern auf der anderen Seite. Blau-gelbe Banner ziehen sich von Anfang bis Ende. „Stop Russian Imperialism“ steht auf Schildern und: „Fuck Putin“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen