Sechsjährige Romni mit Behinderung: Abschiebung trotz Härtefallantrag
Celle schiebt eine sechsjährige Romni mit Behinderung und ihre alleinerziehende Mutter nach Serbien ab. Ein Härtefallantrag wurde abgelehnt.
Die Stadt Celle demonstriert dagegen lieber wie es abseits der Podiumsdiskussionen und Pressekonferenzen um das Schicksal von Rom:nja und Sinti:ze in Deutschland bestellt ist. Am 30. Juni hat die Ausländerbehörde der Stadt Celle nachts um 1.30 Uhr die sechsjährige Anastasia, ein Kind mit schweren Behinderungen und ihre alleinerziehende Mutter nach Serbien abgeschoben.
Anastasia wurde 2015 in Celle geboren. Sie ist das Produkt einer Vergewaltigung, hat die Mutter einer ehrenamtlichen Betreuerin erzählt. Das zierliche und kränkliche Mädchen kam mit einer schweren Hörminderung, einer Mikrozephalie und Hüftdysplasie zur Welt. Aufgrund der Schwerhörigkeit ist auch ihr Spracherwerb gestört.
Praktisch von Anfang an war das Jugendamt und später auch eine Familienhelferin der Caritas mit ihr befasst. Die Mutter ist Analphabetin, durfte als Romni nicht zur Schule gehen, ist darüber hinaus psychisch schwer belastet, vor massiven Gewalterfahrungen geflohen.
Mühsam errungene Fortschritte gefährdet
Trotzdem sei es gelungen, die Kleinfamilie zu stabilisieren, sagt Helga Habekost vom Arbeitskreis Asyl und Migration in Celle, die sich seit dem vergangenen Jahr um die beiden kümmert. Die Mutter hatte sie auf der Straße angesprochen, weil sie wusste, das Habekost Flüchtlingen hilft. Sie hatte wieder einmal einen Brief erhalten, der dringend aussah, auch wenn sie ihn nicht lesen konnte.
Es habe durchaus so etwas wie Fortschritte gegeben, sagt die Helferin, beim Kind durch den integrativen Kindergarten und die Sprachheilpädagogin, die sich dort um die Kleine kümmerte. Bei der Mutter, die einen Deutschkurs besuchte und sich in psychiatrische Behandlung begab.
Doch dann standen am 30. Juni nachts um 1.30 Uhr Beamt*innen in ihrer kleinen Wohnung und ließen der Frau laut Habekost nicht einmal mehr Zeit zu packen. Obwohl ihr Einspruch im Asylverfahren noch gar nicht abschließend behandelt worden war und obwohl ihre Unterstützer*innen einen Härtefallantrag beim niedersächsischen Innenministerium gestellt hatten.
„Das ist formal-rechtlich nicht zu beanstanden, weil beides nicht zwingend aufschiebende Wirkung hat“, sagt Sebastian Rose vom Flüchtlingsrat Niedersachsen. „Die Stadt hätte trotzdem anders entscheiden können und viele andere tun das auch.“ Der Flüchtlingsrat hat den Fall zusammen mit dem lokalen AK Asyl und Migration und dem Roma Center aus Göttingen öffentlich gemacht und scharf kritisiert.
Versorgung in Serbien ist nicht gesichert
Habekost vermutet, die Betreuung sei wohl einfach zu teuer gewesen. Man wolle die Frau und das Kind gern los sein. Dabei – und das ist ihr Hauptvorwurf an die Behörden – sei die Versorgung des Mädchens in Serbien alles andere als gesichert.
„Die Mutter hat mir erzählt, dass sie das Kind nicht einmal anmelden konnte, weil die Behörden die in Deutschland ausgestellte Internationale Geburtsurkunde nicht anerkennen wollen.“ Auch eine Unterkunft haben die beiden nicht. Seit über einer Woche schlafen sie bei wechselnden Verwandten und Bekannten auf dem Sofa.
Bald, fürchtet die Unterstützerin, würden die Hörgeräte der Kleinen neue Batterien und eine Wartung brauchen – was die quasi mittellose Mutter vor ein weiteres schwer lösbares Problem stelle. Und dann lösen sich all die mühsam errungenen Fortschritte in Luft auf. Habekost hat jetzt mit Hilfe des Flüchtlingsrates einen Spendenaufruf gestartet, um der kleinen Familie irgendwie ein Minimum an Boden unter den Füßen zu verschaffen.
Roma-Center dokumentiert weitere Fälle
Es ist nicht der einzige Fall in Niedersachsen, der so klingt. Ebenfalls am 30. Juni wurde ein älteres Roma-Ehepaar aus Göttingen nach Serbien abgeschoben. Nachts um drei Uhr holte man sie vor den Augen ihrer Kinder und Enkelkinder aus der Wohnung und führte sie in Handschellen und Fußfesseln ab. Nach 30 Jahren in Deutschland.
Der Aufenthalt war ihnen aus humanitären Gründen gestattet worden, weil sie sich um eine geistig behinderte Tochter zu kümmern hatten. Nachdem die im letzten Jahr in einer Einrichtung untergebracht worden war, entfiel dieser Grund, vermutet der Flüchtlingsrat.
Ihre Perspektive in Serbien ist genauso ungesichert, zumal sie nicht einmal von dort stammen. Sie flohen ursprünglich aus dem Kosovo, aber der Bruder der Frau, Gani Rama, war vor zwei Jahren nach seiner Abschiebung aus Göttingen in Pristina auf offener Straße zu Tode geprügelt worden, wie das Roma Center mehrfach berichtet hat.
Dutzende weitere Fälle hat das Center für den Antiziganismus-Bericht dokumentiert. Zusammen mit anderen Verbänden fordert es die Abschiebungen in die Balkanstaaten zu stoppen. Angesichts der brutalen Ausgrenzung und Diskriminierung könne da von „sicheren Herkunftsstaaten“ keine Rede sein – zumindest dann nicht, wenn man Rom:nja sei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Im Gespräch Gretchen Dutschke-Klotz
„Jesus hat wirklich sozialistische Sachen gesagt“