Schwedens Umgang mit Corona: Selbstkritik am Sonderweg
Schwedens Staatsepidemiologe stellt erstmals die Strategie des Landes infrage. Es seien zu viele Menschen zu früh gestorben, vor allem Ältere.
Er glaube, dass man nach heutigem Kenntnisstand „irgendwo zwischen dem gelandet wäre, was Schweden gemacht hat und was der Rest der Welt unternommen hat“, sagte Tegnell in einem Interview mit dem schwedischen Rundfunk. Bislang hatte Tegnell die Strategie immer verteidigt: Letztendlich werde sie sich als richtig erweisen.
„Ganz klar, da gibt es ein Verbesserungspotenzial“, erklärte der Epidemiologe nun und machte auch klar, dass es die hohe Coronatodesrate sei, die ihn zum Umdenken veranlasst habe. Die Frage, ob zu viele zu früh sterben mussten, beantwortete Tegnell mit: „Ja, absolut.“
Mit 438 Toten pro einer Million EinwohnerInnen liegt Schweden hinter Belgien, Großbritannien, Spanien und Italien in Europa mit an der Spitze der offiziellen Statistik. Vergleichsweise hat das Land mehr als viermal so viele Coronatote zu beklagen als Deutschland oder Dänemark. Auch sinkt diese Zahl nur sehr langsam und liegt im Schnitt der letzten Tage immer noch bei fast 50 Menschen.
Dramatische Lage im Pflegesektor
Problematisch, so Tegnell, sei allerdings, dass man nach wie vor nicht wirklich wisse, was man genau hätte anders machen sollen. Während Schweden schrittweise vorgegangen sei und nach und nach seine Maßnahmen verschärft habe, hätten vergleichbare Länder „sofort alles auf einmal hineingeworfen“. Man könne daher nicht sicher sagen, welche der unterschiedlichen Maßnahmen eigentlich den besten Effekt gehabt und welche relativ wenig zur Eindämmung der Pandemie beigetragen hätten.
Schweden hatte im Prinzip die Strategie verfolgt, durch gezielte Maßnahmen die Verbreitung von Covid-19 so zu begrenzen, dass die Kapazität des Gesundheitswesens nicht überfordert werden würde und gleichzeitig die Risikogruppen besonders geschützt werden sollten. Dabei hatte das Land aber deutlich weniger strenge Maßnahmen ergriffen als die meisten europäischen Länder.
Während Ersteres gelang, scheiterte man beim Schutz der älteren Bevölkerung. 90 Prozent der Coronatoten waren bislang älter als 70 Jahre, nahezu die Hälfte älter als 85 Jahre. Drei Viertel der laut Statistik an Corona verstorbenen über 70-Jährigen befanden sich in stationären Altenpflegeeinrichtungen oder erhielten regelmäßige ambulante Altenpflegeversorgung zu Hause. Im Altenpflegesektor gab es laut aktueller Zahlen bei einem langjährigen Vergleich in den vergangenen Monaten eine Übersterblichkeit von rund 30 Prozent.
Stockholm fällt dabei mit einer erhöhten Sterblichkeitsrate von sogar 100 Prozent im Altenpflegesektor aus dem Rahmen. Erste Analysen machen hierfür neben der Tatsache, dass Stockholm sich sofort zum ersten Corona-Hotspot entwickelt hatte, die dramatische Lage im dortigen Pflegesektor verantwortlich. Die in Schweden in kommunaler Verantwortung stehende und landesweit immer mehr kaputtgesparte Altenpflege war gerade im Großraum Stockholm zuletzt auf ein zum großen Teil auf private Gewinnmaximierung ausgerichtetes System umgebaut worden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen