Schwangerschaftsübelkeit: Dem Erbrechen vorbeugen?
Warum Schwangere in den ersten Monaten unter Übelkeit leiden, wusste bisher niemand so genau. Nun steht ein bestimmtes Hormon in Verdacht.
Etwa vier von fünf Schwangeren leiden an Übelkeit und Erbrechen. Die Symptome beginnen meist zwischen der 4. und 10. Schwangerschaftswoche und ebben in der Regel bis zur 20. Woche wieder ab. Entgegen der Bezeichnung „morgendliche Übelkeit“ kann das Unwohlsein auch zu anderen Tageszeiten vorkommen, tritt aber in der ersten Tageshälfte am häufigsten auf. Für viele werdende Mütter ist das eine große Belastung.
Corinna Bryan, Chefärztin
Bei etwa 0,3 bis 3,6 Prozent der Betroffenen weltweit sind die Beschwerden besonders schlimm, man spricht dann von einer Erkrankung namens „Hyperemesis gravidarum“: Die Schwangeren übergeben sich mehr als dreimal pro Tag, verlieren in der Folge deutlich an Körpergewicht und leiden an Wassermangel. Nicht von der Statistik erfasst sind Trans-Männer, die schwanger wurden und unter der gleichen Symptomatik leiden könnten.
Warum überhaupt Schwangerschaftsübelkeit vorkommt, war lange ungeklärt. „Früher dachte man, es sei vor allem ein psychisches Problem“, sagt Corinna Bryan, Chefärztin der Geburtshilfe an der Universitätsklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Klinikum Lippe. „Da hieß es, die Frauen kämen beispielsweise nicht mit ihrer Mutterrolle zurecht und deshalb sei ihnen schlecht – diese Theorie wurde mittlerweile widerlegt.“
Als körperliche Ursachen wurden mehrere Möglichkeiten in Betracht gezogen, vor allem hormonelle Veränderungen. Als wahrscheinlichster Kandidat galt das humane Choriongonadotropin (beta-HCG), ein Hormon, das in der Schwangerschaft stark ansteigt und beispielsweise bei einem Schwangerschaftstest als Marker dient. „Frauen mit einem hohen beta-HCG-Spiegel leiden besonders unter der Übelkeit“, sagt Bryan. Ob das Hormon allerdings wirklich die Symptome verursacht, war bisher nicht nachgewiesen.
Neue Studien
Eine neue Studie legt nun nahe, dass es tatsächlich einen anderen Verantwortlichen gibt: den Wachstumsdifferenzierungsfaktor GDF-15. Seine genauen Funktionen sind nicht bekannt, er kommt aber in besonders hohen Konzentrationen in der Plazenta vor, wo er das Wachstum des Babys unterstützt. Generell ist GDF-15 bei allen Menschen vorhanden und reagiert auf zellulären Stress. Wird er vermehrt hergestellt, führt das auch bei Nichtschwangeren zu Übelkeit und Erbrechen. In den letzten Jahren kam daher der Verdacht auf, das Hormon könnte mit der Schwangerschaftsübelkeit zu tun haben.
Forschende aus den USA, Großbritannien und Sri Lanka wollten es genauer wissen. Sie untersuchten Schwangere etwa in der 15. Woche und befragten sie zu ihrem Wohlbefinden. Außerdem betrachteten sie gezielt eine Gruppe von Frauen, die wegen Hyperemesis ins Krankenhaus gekommen waren, und verglichen sie mit Schwangeren mit höchstens geringen Übelkeitssymptomen. Dabei zeigte sich: Bei schlimmer Schwangerschaftsübelkeit waren die GDF15-Werte deutlich höher. Zudem konnten die Forschenden nachweisen, dass der Großteil des Hormons aus dem fetalen Teil der Plazenta stammt und von dort in den Blutkreislauf der Mutter gelangt.
Interessanterweise muss ein hoher GDF15-Spiegel trotzdem nicht automatisch auch ein stärkeres Unwohlsein oder gar Hyperemesis mit sich bringen. Frauen, die bereits vor der Schwangerschaft mehr von dem Hormon im Blut hatten, verspürten weniger Symptome. Daraus schließt die Forschungsgruppe: Der Körper kann sich möglicherweise an den Wachstumsdifferenzierungsfaktor gewöhnen.
Diese Erkenntnis wiederum mag für die Behandlung von Schwangerschaftsübelkeit entscheidend sein. Bisher werden nur die Symptome behandelt. Bei leichten Beschwerden greifen Schwangere etwa zu Hausmitteln oder gängigen Medikamenten gegen Übelkeit. Für ihre Wirksamkeit gibt es zwar höchstens eingeschränkte wissenschaftliche Nachweise, viele davon – wie Ingwer- oder Kamillentee – schaden aber auch nicht und können deshalb problemlos ausprobiert werden.
Anders sieht es bei starker und anhaltender Übelkeit aus: „Wenn wir eine Patientin mit Hyperemesis aufnehmen, geht erst einmal die Triage los“, sagt Bryan. „Wir haben einen Stufenplan – es beginnt meist mit einer Flüssigkeitstherapie, weil viele Frauen dann ausgetrocknet sind.“ Dazu müssen die Vitaminreserven aufgefüllt und die Symptome mit übelkeitsstillenden Mitteln behandelt werden.
Die Suche nach einer Behandlung beginnt
Zu den häufig verwendeten und gut wirksamen Medikamenten gehört etwa das Antiemetikum Ondansetron. Es gilt allgemein als sicher für Schwangere und die ungeborenen Kinder. Nachdem eine wissenschaftlich umstrittene Untersuchung ein erhöhtes Risiko für Herzfehler bei den Babys zeigte, wird es mittlerweile aber erst nach der 11. oder 12. Schwangerschaftswoche eingesetzt, wenn das Herz weit genug entwickelt ist. Bei den meisten Frauen hat sich die Übelkeit bis dahin aber sowieso schon wieder deutlich gebessert.
Seit bekannt ist, dass GDF15 die Symptome auslöst, kann die Suche nach einer Behandlung beginnen, die direkt an der Ursache ansetzt. Die Forschenden schlagen beispielsweise eine Desensibilisierung vor: Frauen mit einem Kinderwunsch könnten mit kleinen Dosen an den höheren GDF15-Spiegel gewöhnt werden. Prinzipiell eine gute Idee, findet Bryan, allerdings müssten noch viele Fragen geklärt werden. Zum Beispiel, wann die Frauen mit der vorbeugenden Behandlung beginnen sollten. „Selbst bei einem Kinderwunsch werden Paare ja nicht immer schnell schwanger“, sagt die Ärztin. „Dann müsste die Frau unter Umständen das Hormon sehr lange einnehmen – oder vielleicht reicht es, damit nach einem positiven Schwangerschaftstest zu beginnen?“
Wer von einer Desensibilisierung profitiert, könnte mittels eines schnellen Gentests ermittelt werden. Denn die neue Studie zeigt auch, dass eine bestimmte Abweichung in der DNS-Sequenz des GDF15 besonders ungünstig ist: Frauen mit dieser Variante des Gens haben vor der Schwangerschaft weniger dieses Hormons im Körper und leiden dann eher an Schwangerschaftsübelkeit.
Vorsichtige Forschung
Bis zu einer Anwendung wird es jedoch dauern, falls es überhaupt einmal dazu kommt. „Es ist ein sehr wichtiger Fund“, so Bryan, „aber bevor ein Medikament auf den Markt kommen kann, muss viel Forschung passieren. Und das ist gerade mit Schwangeren eine schwierige Angelegenheit.“
Spätestens seit der Katastrophe mit dem Beruhigungsmittel Contergan sind Forschende und die Pharmaindustrie bei Studien mit werdenden Müttern besonders vorsichtig geworden. 1957 war die Arznei Contergan auf den Markt gekommen und sie galt als sicher – doch tatsächlich schädigte das Mittel die Nerven und störte die Ausbildung der Extremitäten, des Schädels oder der inneren Organe der Babys. Manche Kinder kamen ohne Arme oder Beine zur Welt, andere starben noch im Mutterleib.
„Bei neuen Medikamenten für Schwangere muss deshalb sehr langfristig gezeigt werden, dass sie für die Babys sicher sind und selbst nach Jahren keine negativen Auswirkungen auftauchen“, sagt Bryan. „Es wird daher noch viel länger dauern, bis eine mögliche GDF15-Therapie verfügbar ist, als wir Frauen uns das wünschen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja