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Schutzlos im WestjordanlandJenseits des Iron Dome

Im Westjordanland gibt es keine Bunker, die vor iranischen Raketen schützen. Im arabischen Teil Jerusalems heulen immerhin noch Sirenen als Warnung.

Die Stadt Tamra im Norden Israels: Vier Menschen, darunter ein Kind, sind dort bei einem iranischen Raketenangriff gestorben Foto: Ahmad Gharabli/afp

RAMALLAH taz | Wenn die Sirene heult, rennen die An­woh­ne­r*in­nen des multikulturellen Viertels Musrara, Jerusalem. Nein, eigentlich rennen sie nicht wirklich. Sie bemühen sich sichtlich um Ruhe, während sie mit zügigen Schritten, doch ohne zu laufen, zu ihrem nächstgelegenen Schutzbunker eilen.

Ultraorthodoxe Jugendliche in weißem Hemd und schwarzer Hose, die hungrig nach Informationen sind, weil sie am Schabbat ihre Handys nicht benutzen dürfen; ältere, säkulare Jüd*innen, die sich mit langsameren Schritten zum Schutzort begeben und dabei noch ein paar Nachbarn grüßen, während die anfliegenden Raketen bereits den Himmel über ihren Köpfen erhellen und Explosionen die Luft erschüttern – denn sie haben das alles schon zigmal erlebt.

Es ist eine Mischung aus der Neugierde der Jüngeren, der gefassten Anspannung der Erwachsenen und der resignierten Gelassenheit meistens der Älteren Ein Paar mit Hund kommt mehrere Minuten nach Ertönen der Sirene an. „Wo wart ihr?“, ruft ihnen eine Frau entgegen.

Es ist Freitag Abend, kurz nach 21 Uhr, und der iranische Gegenschlag nach dem Angriff Israels früher am Tag hat gerade begonnen. Wie unheilbringende Meteore überqueren um die 200 Raketen an diesem Freitag den Himmel über Jerusalem, in mehreren Wellen. Die meisten können die israelischen Luftabwehrsysteme Iron Dome, Arrow und David’s Sling bereits im Anflug abfangen und zerstören. Einige werden einschlagen. Nicht hier, nicht in Jerusalem, doch in Tel Aviv. Und im Vorort Ramat Gan.

Wenn der Bunker fehlt

Während sich die An­woh­ne­r*in­nen von Musrara in unterirdische Bunker flüchten, sitzt der 35-jährige Jarid vor einem Café in Ramallah, Westjordanland. Jarid schaut in den Himmel und sieht den Raketenhagel, der in Richtung Israel fliegt. Er bringt seine zwei Kinder nach Hause, dann läuft er wieder raus und blickt hoch, sieht sich die Reise der Flugkörper an. Wovor Angst haben, fragt der junge Mann mit dem Spitzbart. „Sie zielen eh nicht auf uns.“ Dann geht er wieder zurück ins Haus, setzt sich vor den Fernseher und schaltet die Nachrichten ein.

Wenn die Sirene heult, laufen die Ein­woh­ne­r*in­nen von Ramallah nicht in den Bunker. Denn es gibt keinen. Eigentlich heult hier auch keine Sirene. Nur eine SMS geht raus an die palästinensischen Simkarten-Besitzer*innen zwischen 13 und 65 Jahren, die in einer Datenbank der Behörden registriert sind. Das erklärt Nael Azza, Oberstleutnant und Sprecher beim palästinensischen Zivilschutz.

Doch anfliegende Raketen sind jenseits der Sperranlage, die Israel vom Westjordanland absondert, ebenso gefährlich. Sieben Menschen, die meisten von ihnen Kinder, wurden zwischen Freitag und Samstag verletzt. Fünf davon von einem Marschflugkörper, der fehlschlug, die anderen durch Teile von Projektilen, die der Iron Dome abfing. Teile, die immer wieder auf den Boden knallen. Eigentlich gibt es im Westjordanland auch keinen Iron Dome. Er schützt nur die israelischen, nach internationalem Völkerrecht rechtswidrigen, Siedlungen in dem Gebiet. Die Raketenfragmente treffen jedoch auch palästinensische Häuser. 180 von ihnen sind seit Freitag leicht beschädigt worden, sagt Azza.

Raketen gucken auf dem Flachdach

Während Jarid seine Kinder nach Hause brachte, gingen in Ramallah Menschen auf die Straße. Oder schauten neugierig in den Himmel. Sie gingen auf Flachdächer, zum Fenster. Azza sitzt in blauer Uniform am Schreibtisch seines Büros im Süden Ramallahs und schmunzelt. Dass sich viele so verhalten, ist nicht gut, das weiß er. „Wir arbeiten verstärkt daran, dies zu ändern. Über die Gefahren zu informieren.“ Dabei sollte man zweierlei betrachten, sagt der Oberst: Die Menschen dächten, weil sie nicht das Ziel der Raketen sind, dass für sie keine Gefahr bestünde. Und für viele sei es neu, dass Raketen aufs Westjordanland fallen. Normalerweise tun sie es in Gaza.

Über Azzas Kopf lächeln die palästinensischen Anführer Jassir Arafat und Mahmud Abbas, ehemaliger und aktueller Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde. Der Beamte richtet sich die Brille zurecht und erklärt freundlich, dass die Menschen hier friedlich seien, umgeben von arabischen Ländern. Soll bedeuten: Es gebe kaum Bedarf für Schutzbunker vor Raketen. Auch seien moderne Häuser, wenn sie gesetzeskonform gebaut sind, ziemlich widerstandsfähig. Der Schwachpunkt seien indes die öffentliche Aufmerksamkeit und das Warnverfahren. Daran arbeiteten sie gerade. Bald soll ein flächendeckendes System entstehen, das das Internetnetz ebenfalls miteinschließt. Parallel dazu soll die Bevölkerung sensibilisiert werden. Problematisch seien zudem die Häuser in den Flüchtlingslagern, die nicht besonders stark sind.

Unklar ist indes, ob die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen Schutzbunker bauen dürften, wenn sie es wollten. Eine Anfrage an das israelische Verteidigungsministerium blieb unbeantwortet. Seit 1967 steht das Westjordanland unter israelischer Besatzung. Das Gebiet ist in drei Zonen unterteilt: A, B, C. Die Sicherheit steht teils unter Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde, teils unter der israelischen, die die Grenzen ebenfalls kontrollieren.

Für den 35-jährigen Jarid ist alles aeadi, normal. Er habe keine Angst. Was könne noch Schlimmeres geschehen als das, was man bereits im Westjordanland tagtäglich erlebt? „Wenn du in Palästina lebst, bist du ein Teil davon. Es ist okay. Lass uns eine Nacht das erleben, was die Kinder in Gaza jede Nacht erleben.“ Er ist Fatalist. Passiere, was passieren soll. Seine Kinder bringt er doch rein, ins Haus.

Nicht jeder im Westjordanland sieht es indes so gelassen. Ali, der in Wahrheit anders heißt, ist nicht nach draußen gerannt, als die ersten Flugkörper den Himmel überquert haben. Er wollte keine Erinnerungsbilder schießen. Er saß zu Hause, in einem Dorf nahe Ramallah, und bekam eine Push-Benachrichtigung von einem Medium, war es Haaretz oder die Jerusalem Post? Oder doch Al-Jazeera? Er erinnert sich nicht mehr so richtig. Ein Sirenenalarm aus einer benachbarten israelischen Militärbasis ging an. „Der ist aber für sie, nicht für uns“, sagt der 42-Jährige in T-Shirt und kurzen Hosen.

Er schaltete den Fernseher an, in den Nachrichten kam, dass man sich in der Nähe eines Bunkers aufhalten sollte. Ja, bloß im Westjordanland gibt es keine. „Wir wussten, dass die Raketen um die zehn Minuten gebraucht hätten, um anzukommen. Ich schaute aus dem Fenster und sah zunächst die Abfangraketen der Israelis. Und dann den Marschflugkörper von der anderen Seite. Bum, bum, bum.“

Ali weiß um die Gefahren von herabfallenden Raketentrümmern. Fragt man ihn, ob Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen ebenso Schutzräume haben sollten, bejaht er das. Iron Dome kümmere sich nicht um die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen und ihre Dörfer.

„Die Leuten haben seit gestern ihre Wagen vollgetankt“, sagt Ali. Für den Notfall. Bloß können sie derzeit kaum irgendwohin

Dass Ali nicht für ein Selfie aufs Dach gestiegen ist, hat nichts mit einer wohlwollenden Haltung gegenüber Israel zu tun. Für ihn ist der Angriff auf Iran lediglich erfolgt, um Premier Benjamin Netanyahu an der Macht zu halten. „Er wird nicht an der Macht bleiben, ohne die iranische Bedrohung zu eliminieren“, sagt er.

Leben in Ramallah geht weiter

Es ist Samstagabend, das Leben in Ramallah geht weiter, die Verkäufer am Straßenrand preisen lauthals ihre Waren, das Zentrum ist indes vergleichsweise menschenleer. Dass es an der aktuellen Lage liegt, ist wahrscheinlich. Seit dem Angriff auf Iran hat Israel die Bewegungsfreiheit im Westjordanland und Ostjerusalem stark eingeschränkt. Einige Checkpoints sind zu, andere nur für Fußgänger und zu unregelmäßigen Zeiten geöffnet. NGOs beklagen Schwierigkeiten für Krankenwagen, Notfälle zu erreichen. Und gewaltsame Razzien, die – so sagen sie – an die Zeit direkt nach dem 7. Oktober erinnern, als Hamas-Kämpfer aus Gaza fast 1.200 Israelis massakrierten.

Der Übergang in Qalandia war kurz vor Sonnenuntergang fast verwaist, nur eine lange Autoschlange wartete auf der palästinensischen Seite. Nervöse israelische Sol­da­t*in­nen standen an den Toren. Palästinensische Passanten überquerten zu Fuß die Brücke, die Israel vom Westjordanland trennt. Auf der anderen Seite, wo sich Mülltüten am Straßenrand stapeln und die Wände der Gebäude vom Abgas rußig sind, beginnt für Israelis die Gefahrenzone. So sagt es zumindest ein rotes Warnschild, das vor dem Checkpoint hängt. Und, in Zeiten vom israelisch-iranischen Raketenbeschuss, für Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen ebenso.

„Die Leuten haben seit gestern ihre Wagen vollgetankt“, sagt Ali. Für den Notfall. Bloß können sie derzeit kaum irgendwohin. Die Grenze an der Allenby Bridge wurde geschlossen, morgen erst soll er vielleicht wieder offen sein.

Ali sitzt im Garten eines Restaurants, der Abend ist angenehm frisch. Die Gäste trinken Cola und Bier, essen gewürzte Nachos. Plötzlich ploppt eine Warnmeldung der israelischen Zeitung Haaretz auf dem Bildschirm seines Handys auf. Alarm, Iran schieße erneut. Ab in die Bunker – die es hier nicht gibt. Ali seufzt und schaut auf das Handy. Die anderen Männer rennen auf die Straße, sehen sich den glühenden Raketenregen an. Leise Detonationen in der Entfernung. Einige jubeln.

Lage seit 7. Oktober zugespitzt

Nach dem 7. Oktober hat sich die Lage in beiden Bevölkerungen zugespitzt. Manche Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen freuen sich nicht auf die iranischen Raketen, weil sie das Regime in Iran gut finden. Sie wollen, dass Israelis fühlen, was Ga­za­ne­r*in­nen fühlen, seit 21 Monaten unter den Bomben eines Konflikts, der nach palästinensischen Angaben bereits 55.000 Menschen das Leben gekostet hat.

In Israel sind die An­woh­ne­r*in­nen von Musrara gerade in ihre Schutzräume gelaufen. Eine Rakete wird auf einem Gebäude der arabischen Stadt Tamra in Nordisrael landen, vier arabisch-israelische Frauen werden sterben. Ein Video wird dann die Runde machen, in dem ein ultraorthodoxer Mann die tödliche Fahrt des Flugkörpers bejubelt. So wie manch einer in Ramallah, wenn die Raketen in Richtung Israel fliegen. Andere Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen werden sich Sorgen machen, um sich selbst und ihre Liebsten. Außerhalb der Schutzräume.

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