Schulunterricht auf dem Segelschiff: Lernen auf dem Meer

Bald fahren sie wieder über den Atlantik: Jugendliche haben an Bord eines Traditionsseglers Schulunterricht und lernen so die Welt besser kennen.

Jugendliche stehen auf dem Mastbaum eines Segelschiffs und winken

Jugendliche lernen auf einem Segelschiff Foto: epd/imago

BERLIN taz | „Auf dem Schiff fehlte der Druck zum Lernen“, erinnert sich Florentina Gerlach aus Berlin. „Aber dafür hat in unserem Bordalltag zum Beispiel der angewandte Biounterricht viel mehr Spaß gemacht, wenn wir uns Fische, Plankton oder Algenteppiche in ihrer natürlichen Umgebung genauer angeschaut haben.“ Auch die Geschichte des Kolonialismus – von Kolumbus bis Kuba – sei sehr spannend gewesen, als sie vor vier Jahren mit 25 anderen Schü­le­r*in­nen der gymnasialen Oberstufe auf der Route der Entdecker in einer Art Schule auf Planken über den Atlantik in die Karibik und zurück gesegelt ist.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

„Die Quantität an Schulstoff war auf dem Schiff geringer als in der Schule“, erinnert auch Johannes Alkofer aus dem bayerischen Schliersee. „Die Qualität war aber viel höher.“ Er kehrte letztes Jahr von so einer siebenmonatigen Schülerreise auf einem Traditionssegler mit Zehnt- und Elftklässlern zurück. Im Geologieunterricht auf dem Atlantik sei anschaulicher als je an Land gewesen, „wie die Wind- und Wettersysteme einschließlich der Corioliskraft“ wirken, sagt er.

Von eigenen großen Entwicklungen berichten die beiden Jugendlichen vor allem bei ihrer sozialen Kompetenz. Im Alltag auf dem engen Schiff, wo es keinen Handyempfang und kein Internet gibt und nur wenig Möglichkeiten, sich aus dem Weg zu gehen, wird die Konfliktfähigkeit und -lösungsfähigkeit gefördert. „Ich habe viel über mich gelernt“, sagt Gerlach. Sie achte seitdem mehr auf ihr menschliches Umfeld, sei empathischer und reflektierter. „Ich kann heute besser im Team arbeiten und auch Gruppen leiten.“

Alkofer sieht ähnliche Entwicklungen bei sich. Die habe er so richtig erst nach seiner Rückkehr bemerkt. „Ich habe seitdem einen bewussteren Umgang mit Menschen: Ich nehme mehr von anderen wahr und gehe wertschätzender mit ihnen um.“ Eltern, die ihre Kinder zu solchen Reisen als Jugendliche verabschiedet haben, sehen sie ein halbes Jahr später als junge Erwachsene wieder, die an Lebens- und Welterfahrung gereift sind. Diese Reisen prägen oft fürs Leben.

Auch in diesem Oktober fahren die drei deutschen Bildungsorganisa­tio­nen (High School, High Seas; Ocean College; Klassenzimmer unter Segeln) wieder mit je einem gecharterten Traditionssegler zu solchen Lernreisen über den Atlantik und zurück. Die 25 bis 40 Jugendlichen pro Schiff werden dabei von einer Handvoll Leh­re­r*in­nen und einer etwa gleich starken Stammbesatzung samt Kapitän begleitet. Die Schiffe sind traditionelle Zwei- oder Dreimastschoner, 40 Meter bis 70 Meter lang, für Jugendreisen umgebaut und haben schon viele Atlantiküberquerungen und Karibikaufenthalte hinter sich.

Erstmal Seekrankheit überwinden

Die Schü­le­r*in­nen müssen zunächst die Seekrankheit überwinden und sich außer an den schaukelnden Unterricht an die Enge des Bordalltags und seine strukturierten Abläufe samt regelmäßigen Wachen, Segelmanövern, Küchen- und Reinigungsdiensten gewöhnen. Schon nach wenigen Wochen entwickeln sie Routine in der Beherrschung des Schiffes. Dabei hatten die allermeisten zuvor keinerlei Segelkenntnisse. Später auf dem Rückweg, der von Kuba über Bermuda und die Azoren geht, fahren die Jugendlichen das Schiff überwiegend allein, die Stammbesatzung assistiert nur noch.

Unterbrochen werden die Seereisen, von denen die beiden Atlantiküberquerungen die längsten Etappen sind, von zum Teil mehrwöchigen Landaufenthalten und Exkursionen. Bei Besuchen von Gastfamilien etwa bei Kaffeebauern in Costa Rica oder einer Partnerschule in Kuba wird gleich das gelernte Spanisch praktiziert.

Die Reisen der drei Veranstalter verfolgen einen vergleichbaren ganzheitlichen erlebnispädagogischen Bildungs- und Erziehungsansatz und unterscheiden sich nur in Details. An der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg wird das Klassenzimmer unter Segeln, das nach dem baye­rischen Lehrplan stattfindet, sogar erziehungswissenschaftlich begleitet. Ruth Merk, die diese Reisen managt, promovierte dort einst über diese Art der Pädagogik. High Seas, High School entstand dagegen als ältester Veranstalter bereits 1993 am Hermann-Lietz-Internat auf der Nordseeinsel Spiekeroog und ist noch heute dort angedockt. Die Schü­le­r*in­nen sind dort während der Reise formal eingeschult, entsprechend gilt der niedersächsische Lehrplan. Ocean College mit Sitz in Berlin betont wiederum stärker Englisch als Unterrichtssprache.

Johannes Alkofer, Schüler

„Das war hart, bei Seegang für 40 Personen zu kochen und abzuwaschen“

Merk beschrieb das pädagogische Konzept der Reisen kürzlich in einem Podcast als „gleichberechtigte Förderung verschiedener Fähigkeiten“, die jeweils stark vom aktuellen Umfeld bestimmt würden: Von kognitiv-intellektuell über körperlich und handwerklich bis psychisch einschließlich mancher Grenzerfahrungen. In einem Dreiklang aus „Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Verantwortung“ prägten die Jugendlichen verschiedene Kompetenzen in Teamarbeit innerhalb einer Hierarchie heraus, wie sie zu einem solchen Schiff dazugehört. Denn dort müsse jede Person für sich und für die Gruppe, aber auch das Material und das Schiff Verantwortung übernehmen: Segelmanöver benötigen klare Ansagen und Koordination, die regelmäßigen Wachen rund um die Uhr sind für die Sicherheit auf See wichtig, und von der Backschaft, also dem Küchendienst, hänge die Versorgung aller ab.

Pandemiebedingte Reduzierungen

„Das war hart, bei Seegang für 40 Personen zu kochen und abzuwaschen“, erinnert sich Alkofer. Doch ist er auch stolz, die Aufgabe gemeistert zu haben, und denkt immer wieder auch daran zurück.

Die letzten Reisen wurden zum Teil stark von der Pandemie beeinträchtigt. Mancher Landaufenthalt musste ausfallen, in Häfen warteten zunächst Quarantäne und Coronatests. Die Begegnungen mit anderen Menschen und Kulturen mussten reduziert werden, dafür wurde stärker auf Natur­exkursionen gesetzt. Doch letztlich konnten die Reisen stattfinden und die Schü­le­r*in­nen waren froh, dem Lockdown und anderen Einschränkungen zu Hause entkommen zu sein.

Eine Erfahrung sind die Reisen auch für die Eltern. Ihre Chats mit anderen Eltern haben gelegentlich Züge von Selbsthilfegruppen. Für manche, die ihr Kind erstmals für lange Zeit nicht sehen und überwiegend Infos aus den Schiffsblog bekommen, ist es schwer zu ertragen, wenn sie von anderen Eltern erfahren, dass der geliebte Nachwuchs in einem Hafen zwar das Handy nutzen konnte, sie zu Hause aber nicht gleich angerufen wurden.

Umgekehrt sind Eltern erstaunt, wenn ihr Sohn, der sich bisher nicht für Technik zu interessieren schien, unterwegs plötzlich zum Experten für den Schiffsdiesel mutiert oder die Tochter zur Kapitänin avanciert. Gelegentlich zeigt schon ein originell geschriebener Beitrag im Schiffsblog, dass der Nachwuchs selbstbewusst einen eigenen Weg eingeschlagen hat. Die Schü­le­r*in­nen sind auf vielfältigste Weise gefordert und wachsen dabei oft über sich hinaus.

Der pädagogische Wert dieser Jugendseereisen, die andere Erfahrungen als kurze Klassenreisen oder ein typischer Schüleraustausch bieten, ist unbestritten. Doch die Kosten von inzwischen mehr als 25.000 Euro pro Person sind ein Problem. Darüber erfolgt eine soziale Selektion, die Jugendliche aus weniger begüterten Familien ausschließt. Bisher unternehmen die Veranstalter wie frühere Mit­schü­le­r*in­nen noch viel zu wenig, um die soziale Schieflage mittels eigener Fördervereine zur Vergabe von Stipendien oder Sponsorengeldern zu korrigieren. Für die allermeisten Jugendlichen aus ärmeren Familien dürfte es völlig unrealistisch sein, im eigenen Familien- und Bekanntenkreis mittels Crowdfunding einen Großteil des Geldes aufzubringen.

Trotz der hohen Gesamtkosten, die sich vor allem aus dem Betrieb des Schiffes ergeben, ist es für die Jugendlichen alles andere als eine Kreuzfahrt, sondern eine Reise voll Entbehrungen und Härten. Denn anders als bei den studentischen und akademischen US-Pendants Semester at Sea oder University at Sea fahren sie nicht auf einem Kreuzfahrtschiff mit eigener Kabine, Bedienungspersonal, Swimmingpool, Kinosaal und Fitnessstudio, sondern erarbeiten sich das Segeln, ihre Alltagsorganisation und die Erfahrungen der Reise im Team täglich selbst.

Immer wieder ist Ausdauer und Kreativität gefordert. Probleme müssen mit vorhandenen Bordmitteln innerhalb der Gruppe gelöst werden. „Man kann nicht einfach in den nächsten Supermarkt oder das nächste Geschäft rennen, wenn etwas kaputtgeht“, erklärt Merk. Das fördere Kreativität, Selbstbewusstsein und die Zusammenarbeit im Team.

Gerlach rät Introvertierten oder nicht an Gemeinschaft interessierten Jugendlichen von so einer Reise ab: „Wenig Empathie für andere kommt nicht gut“, sagt sie. Alkofer meint, es helfe zumindest, mit sich selbst im Reinen zu sein. Doch vor allem brauche man „Wachtumsbereitschaft und Offenheit“.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Ein Kopfhörer - das Symbol der Podcasts der taz

Entdecke die Podcasts der taz. Unabhängige Stimmen, Themen und Meinungen – nicht nur fürs linke Ohr.

Feedback willkommen! Wir freuen uns auf deine Gedanken, Eindrücke und Anregungen.

Schreib uns: podcast@taz.de

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.