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Schulöffnungen in NRWRisikogruppe, zwangsverpflichtet

Vorerkrankte, ältere und schwangere Lehrer*innen sollen zurück an die Schulen. Die Schulministerin ignoriert ihre Fürsorgepflicht.

Wegen Personalmangel zwangsverpflichtet Foto: Hans Lucas/imago

BOCHUM taz | Trotz Coronapandemie und entgegen aller bisherigen Versprechen will Nordrhein-Westfalens FDP-Schulministerin Yvonne Gebauer vorerkrankte, ältere und schwangere Lehrer*innen zum direkten Kontakt mit Schüler*innen zwingen. Das geht aus einem Schreiben von Gebauers Ministerium an die fünf nordrhein-westfälischen Bezirksregierungen hervor, die gegenüber den Schulen die direkte Aufsicht führen. „Ein Einsatz dieser Personengruppen im Rahmen mündlicher Prüfungen ist zulässig“, heißt es in der auf den 11. Mai datierten Anweisung mit Erlasscharakter, die der taz vorliegt.

„Alle Lehrkräfte aus der Risikogruppe, d.h. Lehrerinnen und Lehrer mit Vorerkrankungen und Lehrerinnen und Lehrer, die das 60. Lebensjahr vollendet haben“ seien „verpflichtet, an Verfahren zur Abnahme mündlicher Prüfungen teilzunehmen“, schreibt Ludger Schrapper, im NRW-Schulministerium Leiter der für „Personal Schulbereich, Dienst- und Schulrecht“ zuständigen Abteilung 2 ganz ausdrücklich. Gleiches gelte für „schwangere und stillende Lehrerinnen“, so der Ministerialdirigent.

Konterkariert wird damit die bisherige Linie des von CDU und FDP getragenen Kabinetts des christdemokratischen Ministerpräsidenten Armin Laschet zum Schutz der Landesbediensteten. „Selbstverständlich trifft das Land Nordrhein-Westfalen als Dienstherr und Arbeitgeber gegenüber allen Beschäftigten gerade in Zeiten einer Pandemie eine besondere Fürsorgepflicht“, hieß es auf der Homepage von Gebauers Schulministerium noch am Dienstag.

Bei vorerkrankten Lehrer*innen bestehe „grundsätzlich ein erhöhtes Risiko für einen schwereren Krankheitsverlauf bei einer Infektion mit dem Corona-Virus (COVID-19)“, erklärten Gebauers Ministeriale da noch. Auch Ältere und Schwangere dürften nicht im Präsenzunterricht eingesetzt werden. Dazu zählten „alle Tätigkeiten mit direkten Schülerkontakten, also auch die Abnahme von Prüfungen, Pausenaufsicht etc.“ Ausnahmen sah Ministerin Gebauer bisher nur für gesunde Lehrer*innen ab 60 vor, die sich freiwillig zum Unterricht meldeten.

Grund: Personalmangel

Entsprechend groß ist jetzt die Empörung, seit klar ist, dass die Bildungsministerin doch auch besonders gefährdete Lehrer*innen zurück an die Schulen beordern will. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sprach in einer ersten Stellungnahme zu den neuen Plänen von einem „Skandal“ – und kündigte massiven Widerstand gegen das Vorhaben an: „Wir werden für die betroffenen Kolleg*innen Rechtsmittel einlegen“, sagte die GEW-Landesvorsitzende Maike Finnern der taz. Außerdem werde die Gewerkschaft „die Personalvertretungen rechtlich beraten, dagegen vorzugehen“.

Grund für den abrupten Kurswechsel der Ministerin ist massiver Personalmangel: Um Infektionsschutz per Sicherheitsabstand herzustellen, müssen Klassen halbiert oder sogar gedrittelt werden. Dazu fehlen Räume – und natürlich Lehrkräfte. Hinzu kommt, dass an manchen Schulen bis zu 50 Prozent der Lehrer*innen der Risikogruppe angehören. Im taz-Interview hatte die GEW-Vorsitzende Finnern schon Anfang Mai gewarnt, zumindest bis zu den Sommerferien sei „kein normaler Unterricht möglich“.

Zusammen mit den Grünen hatte die Gewerkschaft deshalb gefordert, in diesem Schuljahr auf Prüfungen zu verzichten und Abschlüsse auf Basis der bisher erreichten Durchschnittsnoten zu erteilen. Lehrer*innen bekämen so mehr Luft für regulären Unterricht, argumentierten Finnern und die bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Düsseldorfer Landtag, Sigrid Beer. Ministerin Gebauer hatte dagegen erklärt, Unterricht und Prüfungen seien gleichzeitig durchführbar.

„Belastbar“ seien die Planungen der FDP-Frau wohl nicht gewesen, kritisiert Beer deshalb nun. Die Ministerin, die dem Landtag am 29. April noch versichert hatte, Angehörigen von Risikogruppen müssten selbstverständlich nicht an den Schulen präsent sein, habe „Lehrer*innen bewusst getäuscht“, sagt Beer: „Diese Dienstherrin verspielt jedes Vertrauen.“ Zur Öffnung der Schulen habe Gebauer „von Anfang kein richtiges Konzept“ gehabt, findet auch der schulpolitische Sprecher der SPD, Jochen Ott: „So schafft man kein Vertrauen bei den Beschäftigten und bei Eltern und Schülern.“

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12 Kommentare

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  • Und wer interessiert sich für die ganzen „Mitglieder“ der Risikogruppe, die seit Wochen in Arztpraxen, Supermärkten, Baumärkten oder Gott weiß wo ihren Dienst verrichten?

  • Eine Bekannte von mir ist Lehrerin an einer Schule in NRW.



    Nicht nur, dass entegegen aller Datenschutz und Persönlichkeitsrechte Regeln, eine für alle Kollegen einsehbare farbcodierte Liste mit denjeniegen die der Risikogruppe angehören verschickt wurde, nein die Krönung des Ganzen ist Folgendes:

    LehrerInnen, die der Risikogruppe angehören müssen im Schulgebäude anwesend sein, Aufräumarbeiten der Fachtrakte erledigen (auf Leitern steigen, Schränke putzen, während die angestellten Putzkräfte die Leiter laut Protokoll nur bis zur zweiten Stufe besteigen dürfen, für die LehrerInnen gibt es diesbezüglich keine Regeln.). Dürfen natürlich keinen Schülerkontakt haben, sprich nicht im Präsenzunterricht zu unterrichten. Müssen aber weiterhin Online-Unterricht bereitstellen, welchen sie nur von zuhause aus vorbereiten können. Soweit so gut, Unterricht vorbereiten findet unter normalen Bedingungen ja auch dort statt. ABER LehrerInnen, die nicht zur Risikogruppe gehören und momentan nicht für den Präsenzunterricht eingeteilt sind BLEIBEN ZUHAUSE.

    Ich halte das zum einen für eine Unverschämtheit so eine Liste zu verbreiten und zum anderen finde ich es unter aller Sau die Leute für ihre Vorerkrankungen quasi mit Aufräumarbeiten zu bestrafen und derweil dem erhöten Risiko auszusetzten vor welchem gerade sie sich eigentlich schützen müssten.

  • Wenn ich es richtig verstehe, geht es ausschließlich um die Präsenz bei mündlichen Prüfungen. Da kann jeder ausreichend Abstand halten. Die angeblich 50 Prozent von Lehrern, die einer Risikogruppe angehören sollen, werden sich bislang sonst auch nicht in Selbstquarantäne begeben haben.

    • @Ignaz Wrobel:

      Ich gehöre zur Risikogruppe. Und ich befinde mich seit 2 Monaten in Selbstisolation. Zwei Freunde von mir im gleichen Alter (Mitte 50) und vergleichbaren Vorerkrankungen sind bereits verstorben.



      Das Virus wird über Aerosole übertragen, die sich über lange Zeiträume in der Luft halten. Aerosole mit Viren in Konzentrationen, die für eine Infektion ausreichen, wurden auch in 5 Meter Entfernung von einer infizierten Person gefunden. wwwnc.cdc.gov/eid/.../7/20-0885_article

  • 0G
    01349 (Profil gelöscht)

    Das Interview mit Gebauer vom 17.04., ab 2:30:

    www1.wdr.de/mediat...effnungen-100.html

    "Wie nehmen Sie denn den Schülerinnen und Schülern ... die Angst?"

    "Wir haben ... Programme aufgestellt ... wie man mit den Ängsten, den Sorgen, den Nöten umgeht. Wir haben natürlich auch vereinzelt Todesfälle, mit denen dann Schülerinnen und Schüler, aber auch Lehrkräfte klarkommen müssen. Wir bieten hier Unterstützungsangebote an über die Schulpsychologen... "

  • Es geht nur um ein paar Prüfungen.



    Das wird wohl noch tragbar sein!



    Ich habe nirgendwo erfahren, dass auch Verkäufer und Pfleger über 60 gegen volle Lohnfortzahlung zu Hause bleiben dürfen. Da scheint der tägliche Dienst am Menschen völlig ok zu sein.

  • Die Immobilienmaklerin Gebauer, hinsichtlich Schulpolitik befreit von Sachkenntnis, zeigt jetzt mit ihrem Chef Laschet das hässliche Gesicht einer schwarz-gelben Regierung, die offensichtlich alle gesundheitlichen Aspekte der Pandemie inkl. der Expertisen der Virologen in den Wind schlagen.



    Ich hoffe sehr, dass die betroffenen LehrerInnen mit Vorerkrankungen, Schwangerschaften und/oder diejenigen, die altersbedingt zu den Risikogruppen gehören, Hausärzte haben, die per Krankschreibung diese betroffenen LehrerInnen aus dem Verkehr ziehen. Außerdem wünschte ich mir, dass die GEW in NRW endlich einmal etwas massiver auftritt und nicht nur Bildungsgewerkschaft sein will, sondern auch echte Interessenvertreterin ihrer Kolleginnen und Kollegen.

    • @Rolf B.:

      Ich hoffe sehr, daß Lehrer dann mit 60% Kurzarbeitergeld über die Runden kommen.



      Oder bleiben die bei vollen Bezügen zu Hause? Dann sollten sie die Wahl haben: Arbeiten oder Kurzarbeitergeld. Und damit stehen die sich noch besser als die Arbeitnehmer, die keine Wahl haben.

      • @Falk:

        Sie meinen, die LehrerInnen, die zur Risikogruppe gehören, sollten sich freikaufen können? Nach dem Motto Geld oder Leben?

      • 0G
        01349 (Profil gelöscht)
        @Falk:

        Es geht hier nicht um irgendwelche Prozente Geld, sondern darum, dass Menschen sehenden Auges in Lebensgefahr gebracht werden.

        Mit der ausdrücklichen Ansage, dass die Trauernden ja hinterher zum Schulpsychologen gehen könnten.

  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Es war schon immer etwas Anderes, in Immobilien herumzumakeln als sich mit Bildung und Menschen zu beschäftigen.

    Weissagungen des Papalongo, 08/15.



    Querverweis: Das Peter-Prinzip.

  • ja, ein Latschet Umgang mit Pandemien ist halt nicht umsonst zu bekommen - irgendwer leidet dafür.



    Ich hoffe, dass es keine Infektionen gibt, aber wenn, sollten die Betroffenen die NRW-Regierung wegen schwerer, vorsätzlicher Körperverletzung (aus niederen Beweggründen, und wider besseren Wissens noch dazu) verklagen