Schuldige und Schuldkomplexe: Phasen des Zusammenzuckens
Die Angst vor Corona weicht gerade anderen Ängsten. Auch alte Reflexe schnappen wieder zu. Klar ist: Stärkere Mächte sind nicht per se die Schlechten.
G efühlsmäßig geht’s ja seit März rund. In meinem Kopf, aber wenn ich mich so umgucke, auch all around the world. Klar, jeden treibt was anderes an und um, für mich gab es bisher drei Phasen: Erst kam die Angst. Nicht um mich, aber um meine Eltern, um all die Menschen in meinem Umfeld, die ich von Covid-19 unmittelbar bedroht sah.
Eine auf andere projizierte Todesangst war das, sie war immer da und ließ mich nachts nicht schlafen, bis sie irgendwann verblasste und Phase zwei einsetzte: euphorische Ruhe. All das pandemieverordnete Weniger, wurde mir klar, ist, zumindest für mich, ein existenzielles Mehr. Weniger Gewusel, weniger Monologe, die einem andere ungefragt ins Ohr drehen, mehr Zeit für alles Mögliche. Klar, ich schämte mich dafür, als Luxus zu empfinden, was andere in tiefe Einsamkeit und wirtschaftlichen Ruin treibt. Der Euphorie war die Scham egal, aber dann kam Phase drei: die Scham.
Nicht mehr nur die über meinen Shutdown-Egoismus, sondern mehr und mehr über einige Mitmenschen, die glauben (und das auch gern in jede Kamera rotzen), dass es doch verdammt noch mal Leute geben muss, die an dieser insgesamt doch recht misslichen Lage schuld sind.
Ohne Schuldige, (am besten irgendwelche leicht zu dämonisierenden Stärkeren) scheint es, ist das alles für einige mal wieder nicht zu ertragen, und wenn es nicht Merkel allein ist, dann mindestens Bill Gates und – na ja, Sie wissen schon.
Könnten mir die paar Tausend Spinner nicht egal sein? Nein, hier schließt sich der Kreis zu Phase eins: Menschen, die freiwillig einen gelben Stern tragen, in dem statt des Worts „Jude“ „ungeimpft“ steht, jagen mir unerträgliche Angst ein, weil sie eben nicht einfach den Verstand verloren haben, sondern vielmehr – zur monströsen Karikatur geronnen – das auf die Spitze treiben, was wir Deutschen (ich sag das jetzt mal so pauschal, weil ich mich einschließe, Ausnahmen sind natürlich ausgenommen) seit Jahrzehnten praktizieren: Schuldabwehr.
Delphine Horvilleur
Ich würde – steile These, ich weiß – mal behaupten, keiner, der in den vergangenen 75 Jahren hier aufgewachsen ist, hat sich nicht mit der Frage der Kollektivschuld beschäftigt, mit der Verantwortung, die die Vergangenheit für uns heute bedeutet, und irgendeinen Schluss für sich daraus gezogen. Allermeistens in bester Absicht. Die Schlüsse reichen von wortreicher Wiedergutmachungsrhetorik bis hin zu Über-Empathie mit bestimmten Menschengruppen; ich würde sagen, alles fast immer getrieben vom Wunsch, endlich gut zu sein. Offene Schuldabwehr findet man eigentlich nur bei echten Nazis.
Und trotzdem finden sich Impulse zur Schuldumkehr und antisemitische Grundmuster – trotz all unserer Anstrengungen – auch weit weit entfernt von Spinnern und Nazis. Sie finden sich bei Menschen, denen ich ein eigentlich gutes Herz und gute Absichten unterstelle, ja, wahrscheinlich fände ich sie, wenn ich gründlich nachguckte, auch in meinem eigenen Kopf.
Muss man diskutieren
Sie finden sich etwa in der jüngsten Debatte über die Frage: Darf ein postkolonialer Philosoph Israels Politik gegenüber den Palästinensern schlimmer finden als das Apartheidregime in Südafrika? Oder: Wird Israels neue Regierung jetzt das Jordantal annektieren? Muss man diskutieren, keine Frage. Was mich zusammenzucken lässt, ist der scharfe, unerbittliche Tonfall, der in Debatten über andere Nationen fehlt.
Es ist die selbstverständliche Abwertung, mit der Israel seine militärische Stärke vorgeworfen wird, als wäre die nicht traurig notwendig. Stärke, die man anderen Ländern, selbst Iran, sehr wohl zugestehen möchte. Es ist die manische Fixierung, mit der auf Israels Verhalten gestarrt wird, während Menschenrechtsverletzungen seitens seiner Nachbarländer, teils ohne Furor zu erregen, durchgehen.
Über derlei Ungleichheit zusammengezuckt, habe ich also diese Woche an Delphine Horvilleurs fabelhafte „Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“ gedacht, in deren Vorwort die französische Rabbinerin schon in wenigen Sätzen das Muster umreißt, das auch – mal leiser, mal lauter – die deutschen Debatten über Israel mitprägt: Anders als der Rassismus, der „den Anderen“ abwertet, wirft der Antisemitismus den „Anderen“ vor, mehr zu haben. Selbst mehr Leid: „Wenn sie (die Juden), schwer getroffen wieder aufstehen“, schreibt Horvilleur, „rufen sie es ihrem Henker in Erinnerung und zwingen ihn, sie noch mehr dafür zu hassen, schwerer als er selbst gelitten zu haben. Sogar hier verfügen sie über ein ‚Mehr‘, das uns etwas vorenthält: In jenem Überschuss an sichtbarem Leid, das uns die Frage aufdrängt, weshalb nicht auch wir die Ehre einer tränenreichen Vergangenheit gehabt haben.“
Klar, um individuelle Schuld am Holocaust geht es 75 Jahre später nahezu nicht mehr. Wer aber glaubt, der Stärkere sei immer und per se der Schlechte und der Schwächere immer einwandfrei zu identifizieren, macht es sich viel zu leicht, wenn es um Israel und Antisemitismus geht.
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