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Schulbildung für FlüchtlingskinderHungern nach Unterricht

Gastkommentar von Martin Gerner

Während Europas Schulkinder in der Pandemie Onlineunterricht hatten, gibt es in griechischen Flüchtlingslagern oftmals nicht mal Papier. Etwa in Moria.

Recht auf Bildung? Nicht für die Kinder in Flüchtlingslagern wie Kara Tepe Foto: dpa

P ushbacks im Mittelmeer, für die EU-Abgeordnete versuchen, die Frontex zur Rechenschaft zu ziehen. Das macht Schlagzeilen, und das ist gut so. Worüber sich hingegen niemand aufregt, ist die seit Jahren stattfindende Bildungskatastrophe in den Flüchtlingslagern der griechischen EU-Hotspots. „Die meisten Kinder von Geflüchteten sind in Griechenland vom Bildungssystem ausgeschlossen“, warnte Pro Asyl Ende April.

Kein Unterricht für Kinder auf der Flucht – oft bis zu einem Jahr und länger – das hat massive Konsequenzen und führt bisweilen zu irreparablen kognitiven und sozialen Schäden. Die Corona-Pandemie verschärft ihre Lage zusätzlich. Weil die informelle Bildung in den Lagern nicht vorankommt, drohen Tausende Kinder Analphabeten zu bleiben oder doch schwere Lerndefizite zu haben. Die EU darf hier nicht erneut wegschauen und die Genfer Konvention verletzen.

Nach drei Monaten sieht das griechische Gesetz für Flüchtlingskinder eigentlich einen Platz in der Schule vor. Dazu kommt es meist nie. Das Leben der Flüchtlinge ist von Warten bestimmt. Bis zum Erstinterview vergehen Monate, bis zum Asylentscheid sind es oft ein bis zwei Jahre. Im Lager Kara Tepe, dem Provisorium nach dem Brand in Moria, ist von derzeit gut 6.000 Menschen jede/r Dritte ein Kind oder Jugendlicher, die meisten davon im schulpflichtigen Alter. Wer aber kümmert sich um das Recht auf Schule und Unterricht dieser jungen Menschen?

Artikel 22 der Genfer Flüchtlingskonvention garantiert Flüchtlingen öffentliche Erziehung, Zugang zu gleichen Schulen und Studienmöglichkeiten wie Einheimischen. Zwar haben Griechenland und die Unicef ein Programm für formelle Bildung an griechischen Schulen für Flüchtlinge unterzeichnet. Aber die Not ist jetzt am größten, deshalb ist schnelle Hilfe angesagt.

Martin Gerner

Martin Gerner ist freier Autor, Korrespondent und Dozent. Er berichtet von der Balkanroute und aus Konflikt- und Krisengebieten wie Afghanistan und dem Irak. Sein Dokumentarfilm „Generation Kunduz. Der Krieg der Anderen“ wurde weltweit ausgezeichnet. Im Dezember 2020 erschien im Deutschlandfunk Kultur sein Hörfunk-Feature über die Konflikte auf Lesbos.

Stattdessen verschlechtern sich die Bedingungen seit 2015 stetig, wie der Fall Moria zeigt. Unsicherheit, Kriminalität und Gewalt breiteten sich aus. In der Brandnacht vom 8. September kulminierte die aufgestaute Aggression. Die mutmaßlichen Brandstifter wurden dafür jüngst verurteilt. Die wahren Verantwortlichen aber sind die EU und ihre Mitgliedstaaten. Zusammen mit Griechenland, den Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen haben sie die Verantwortung für die Flüchtlinge über Jahre so lange hin- und hergeschoben, bis sich am Ende niemand mehr zuständig fühlte.

So wie die Pushbacks gehören auch Moria, Kara Tepe und die Bildungsnot der Fluchtkinder vor einen EU-Ausschuss. Systematisches Wegschauen darf nicht ungestraft bleiben.

Während Menschen in der Pandemie weltweit digital lernen, haben Flüchtlingskinder auf Lesbos keine derartigen Möglichkeiten. In Moria waren drei Stunden Strom am Tag oft das Höchste der Gefühle. Tafeln, Stifte, Papier – alles, was Unterricht ausmacht, gibt es nur als Mangelerscheinung in den Lagern und oft bereitgestellt von Hilfsorganisationen. Bis auf wenige Ausnahmen fehlt es an Internet-Zugängen. Obwohl technisch möglich, schafft es Europa nicht, den Schutzsuchenden auf Lesbos flächendeckendes WLAN zur Verfügung zu stellen. Dabei besitzen Menschen im Lager ein Recht auf adäquate Kommunikationsmittel.

Hier ist Kreativität gefragt: Die Hilfsorganisation Stand by Me Lesbos hat mit einer Partnerorganisation in Kara Tepe zwei ausrangierte Busse zu mobilen Unterrichtsräumen umgebaut: Steuer und Sitzbänke wurden entfernt, eine Trennwand in der Mitte der Busse eingezogen. Klappstühle geben bis zu neun Teil­neh­mern:­in­nen Platz in der Pandemie. Die umgebauten Fahrzeuge bilden einen der wenigen Internet-Hotspots im Lager.

Asyl-Politik muss aber mehr als nur WLAN-fähig sein. Als Griechenland Mitte Mai die strengen Abriegelungsmaßnahmen für Touristen lockerte, wurden die Menschen in den Flüchtlingslagern weiter unter Verschluss gehalten. Das ist unverhältnismäßig. So werden neue Aggressionen provoziert, von denen es im EU-Diskurs ohnehin schon zu viele gibt.

Zwischen Herbst 2019 bis zum Brand in Moria bauten die visionärsten unter den Entwürdigten in Moria ein halbes Dutzend unabhängiger „Schulen“. Stress, Depression und Gewalt wurden so zeitweilig an einigen Stellen zurückgedrängt. Dazu kommt, dass Bildung bei den Eltern der Flüchtlingskinder oberste Priorität genießt. Diese sollen später in Europa eine gute Arbeit finden, um die in der Heimat lebenden Angehörigen zu unterstützen. Unterrichtsausfall ist für sie daher ebenfalls eine Katastrophe. Einige der Lehrkräfte im Lager sind selbst Flüchtlinge. Sie können sich so – endlich – nützlich machen. Denn als Empfänger unserer Spenden sind sie als Schutzsuchende bislang zur Passivität verdammt. Dies kann tödlich sein, wie durch vielfache Suizid-Versuche bekannt ist. Deshalb braucht es unsere Hilfe zu mehr Eigeninitiative der Schutzsuchenden, um aus dem Teufelskreis der Hilfe im Lager zu entkommen.

Konzepte für Integration und Inklusion gibt es auf Lesbos. Der aktuellen Regierung sind sie allerdings politisch fremd. Griechenland sollte keine Flüchtlinge integrieren müssen, erklärte der griechische Minister für Migration und Asyl, Notis Mitarachi, jüngst zur ausbleibenden Solidarität der EU gegenüber Athen. Im Frühjahr protestierten griechische Eltern gegen die Integration von Flüchtlingskindern in öffentliche Schulen. Umgekehrt verteidigen griechische Lehrer die Rechte der Flüchtlingskinder. Ihre Eltern und Großeltern sind oft selbst aus der Türkei vertrieben worden im Zuge der ethnischen Säuberungen 1922.

Will sich Deutschland solidarisch zeigen, muss Berlin Athen jetzt endlich angemessen zur Seite stehen und mehr als nur kleine Kontingente von Menschen als Notopfer aufnehmen.

Das neue mehrere Millionen Euro teure Flüchtlingslager auf Lesbos soll tief im Inneren der Insel entstehen. Mit rekordverdächtigen Sicherheitsvorkehrungen und abseits jeder Zivilisation, so befürchten Aktivisten. Werden die Kinder dann überhaupt eine Schule besuchen können? Selten waren die Widersprüche und das Scheitern Europas offensichtlicher: Während Deutschland über verbesserten Schulunterricht in Pandemie-Zeiten streitet, hungern Tausende Kinder in Kara Tepe nach Bildung.

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9 Kommentare

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  • Die Schulsituation für Flüchtlingskinder, die es bis Deutschland geschafft haben, sieht hier kaum anders aus: Um der Verpflichtung zur Beschulung nach spätestens 6 Monaten zu entgehen, werden Familien mit Kindern kurz vor Ablauf dieser Frist in eine andere Einrichtung transferiert. So geht das über Jahre hinweg weiter und der schulische Rückstand der Kinder, der sowieso schon durch Sprachnachteile und Sozialisation gegeben ist, wird uneinholbar.

    Viele ZUE für Geflüchtete befinden sich in strukturschwachen Regionen, somit profitieren die entsprechenden Gemeinden allein schon über den Länderfinanzausgleich und andere Strukturfördermittel nicht unerheblich von der Erhöhung der Einwohnerzahl durch Flüchtlinge, zumal für die direkten Kosten andere Instanzen aufkommen. Zu den Verpflichtungen wie z.B. Schulangebote und ggf. infrastruktureller Anschluss möchten man allerdings eher weniger stehen.

    Mit Großherzigkeit und ähnlichen Symptomen der Erbärmlichkeitskultur muss das alles gar nichts zu tun haben. Diese Menschen brauchen keine Gnadenspenden oder gut gemeintes aber schlecht umgesetztes ehrenamtliches Engagement, sondern professionelle Unterstützung für die Schritte vom Ankommen in Deutschland/Europa bis zur beruflichen/gesellschaftlichen Integration, die natürlich nicht ohne Bildung von klein auf zu haben ist.

    Gemessen an dem gesamten Geld, das für die Geflüchteten ausgegeben wird, geht dafür nur ein kleiner Bruchteil drauf, der Rest ist Verwaltung, Ausbremsung, Verzögerung, Abschreckung und schikanöse Kontrolle.

    • @Khaled Chaabouté:

      Guter Kommentar...sie scheinen was von der Sache zu verstehen.

  • Das Hauptargument gegen eine Unterbringung der Geflüchteten in Deutschland sind wohl die immensen Kosten, die dort entstehen.

    Für jeden einzelnen minderjährigen, unbegleiteten Geflüchteten werden in Deutschland jährlich 50.000 Euro ausgegeben:



    www.focus.de/polit...ng_id_8450546.html

    Das Geld wäre vor Ort besser angelegt. Man könnte damit menschenwürdige Unterkünfte, Schulen und Werkstätten einrichten und das Leben der Geflüchteten massiv verbessern.

    • @VanessaH:

      Ich finde ja man sollte Menschen in Not auch helfen ohne sich vorher den ROI auszurechnen. Aber selbst wenn man den Wert von Menschen an ihrer Wirtschaftsleistung festmacht, fällt die Bilanz dieser Investitionen schon mittelfristig gesehen positiv aus.



      "Der "ökonomische Break-even-Point" [2,3] kann bereits 2025 erreicht werden, wenn die Bruttowertschöpfungsbeiträge der dann erwerbstätigen Flüchtlinge die Kosten der Versorgung und Integration der nicht erwerbstätigen Flüchtlinge übersteigen." schrieb Volker Brühl vom Wirtschaftsdienst 2016. Es braucht also weniger als 10 Jahre um in die Gewinnzone zu kommen, vorausgesetzt eben man ermöglicht das statt den Arbeitsmarktzugang mit Hürden und Unsicherheiten zu erschweren, die auch auf potentielle Arbeitgeber durchschlagen, wenn diese ebenfalls immer nur bis zum Ende der jeweiligen Aufenthaltserlaubnis Planungssicherheit haben.



      [1] www.uno-fluechtlin...mieren/faktencheck



      [2] www.wirtschaftsdie...n-die-zukunft.html



      [3] www.bundestag.de/r...11-19-pdf-data.pdf

  • Jeder von uns hat in diesem Augenblick die Möglichkeit zu entscheiden seinen eigenen Wohlstand, eigenen Komfort zu teilen und dabei eigene Bequemlichkeiten aufzugeben.



    Schauen wir hier:



    www.martin-patzelt...ffener-Brief-.html



    Martin Patzelt und seine liebe Frau haben es getan:www.maz-online.de/...ne-Fluechtlings-WG



    Aber wir fordern lieber eine Luftbrücke (haben ja keine eigenen Flugzeuge die wir hergeben müssten). Lamentieren über den Geiz der Anderen und sind stolz auf unsere eigene Großherzigkeit, wenn wir unsere alten, von den Kindern (sind längst aus dem Haus) zerfledderten Teddys "spenden". Ach ja, das alte Fahrrad...soll's auf dem Sperrmüll landen..?.., wenn man noch Gutes damit tun kann??.



    Haben allen unsere Großherzigkeit kund getan, wenn wir die Feder nehmen und wohlfeiles Zeug schreiben...gegenseitig können wir uns unsere Gutherzigkeit so beteuern.

  • Europäische Werte: Kleinlichkeit, Angst, Geiz.

    • 8G
      83379 (Profil gelöscht)
      @tomás zerolo:

      Europa überweist Griechenland genügend Geld, dass die Menschen in Häusern und gut versorgt leben könnten, das Problem ist Korruption und das man mit den Lagern abschrecken will, aber die wenigsten würden Fassbomben und Giftgasangriffe einem höllischen Lager vorziehen. Aber es wird trotzdem versucht die Menschen mit diesen Lagern abzuschrecken.

  • Luftbrücke sofort!

    Wir brauchen sofort eine Luftbrücke aus dem Süden nach Zentraleuropa. In Deutschland gibt es genug aufnahmebereite Städte, dass innerhalb von nur wenigen Tagen die Elendslager in Griechenland. Italien, Spanien und dr Türkei geräumt werden können.

    Und damit die tötliche Überfahrt über das Mittelmeer entfällt brauchen wir Korridore aus Nordafrika nach Europa direkt in die aufnahmebereiten Staaten.

    Eine Ende muss auch das völkerrechtlich verbotene Verhalten der Balkanstaaten an den Außengrenzen haben. Jeder Mensch hat das Recht auf Asyl in der EU.

    • @V M:

      Griechenland und die meisten unserer europäischen Partner möchte aber gar nicht das wir das tun. Die dortige Bevölkerung macht ja jetzt schon Deutschland für die Situation vor Ort verantwortlich. Wenn schon dann muss unsere Luftbrücke direkt in den Herkunftsregionen der Geflüchteten starten. Diese viel beschworene Aufnahmebereitschaft einiger deutscher Kommunen ist doch aber nur ein Lippenbekenntnis einiger Kommunalregierungen im Wissen um die komplette Folgenlosigkeit so einer Solidaritätsbekundung. Was hier wirklich abgeht wenn Geflüchtete in nennenswerter Größenordnung kommen, haben wir ja 2015 gesehen. Das wiederholt ganz sicher kein deutscher Politiker in den nächsten Jahren allen warmen Worten zum Trotz.