Schriftsteller Artur Klinaŭ über Belarus: „Öffentlichkeit ist gefährlich“
Der Schriftsteller Artur Klinaŭ aus Belarus kritisiert, dass die Politik der EU sein Land in Russlands Arme treibt. Auch die Opposition mache Fehler.
taz: Herr Klinaŭ , Sie halten sich nach einem Stipendium in Berlin derzeit in Deutschland auf, wollen aber zurück nach Belarus. In Ihrem Buch „Acht Tage Revolution“ schreiben Sie: „Jeder in Belarus ist heute Geisel des Regimes.“ Warum gehen Sie dennoch zurück?
Artur Klinaŭ: Ich bin nie emigriert, ich war nur zu einem künstlerischen Aufenthalt in Deutschland. Ich habe immer die Auffassung vertreten, dass man bis zum letzten Moment im Land bleiben muss. Leider haben wir aktuell die Situation, dass jede Person, die überhaupt eine „aktive Position“ innehat, bedroht ist. Egal, ob du dich mit Politik beschäftigst oder im kulturellen Bereich tätig bist.
Nachdem russische und belarussische Truppen in Kasachstan eingesetzt wurden und seit die Ukraine von Putin umzingelt wird, befinden wir uns in einer sehr dynamischen geopolitischen Situation. Was bedeutet diese Entwicklung für Belarus?
Man muss diese Geschehnisse trennen. Die Ereignisse in Kasachstan haben meines Erachtens deutlich gezeigt, dass auch die Revolution in Belarus nie eine Chance hatte. Es gab zwei Möglichkeiten, wie die Aufstände in Belarus hätten enden können. Die erste: So, wie es nun geschehen ist. Die zweite: Es wären direkt Truppen einmarschiert. Ich habe schon die ganze Zeit die Ansicht vertreten, dass es in Belarus derzeit keine Revolution geben kann, denn Putin wird niemals zulassen, dass Belarus einen Weg wie die Ukraine einschlägt.
Zur aktuellen Situation im Russland-Ukraine-Konflikt: Ich glaube, es wird keinen Krieg geben. Ein Krieg mit der Ukraine würde für Putin den Zusammenbruch seines Regimes bedeuten. Das, was sich gerade abspielt, ist politisches Theater. Die Gefahr, dass die Situation außer Kontrolle gerät, besteht natürlich trotzdem. Aber um auf Ihre Ausgangsfrage zurückzukommen: Für Belarus sehe ich zum jetzigen Zeitpunkt zwei Auswege. Zum einen muss es einen breiten Dialog innerhalb der belarussischen Gesellschaft geben, denn sie ist komplett gespalten und dadurch paralysiert. Zum anderen muss der Dialog zwischen Belarus und Europa wiederbelebt werden.
Artur Klinaŭ, 56, ist ein belarussischer Schriftsteller und Maler, er lebt in Minsk. Sein Buch „Minsk. Sonnenstadt der Träume“ (Suhrkamp, 2006) zeichnet die Geschichte von Belarus nach und erzählt vom damaligen Widerstand gegen die Diktatur Lukaschenkos. Zuletzt erschien auf Deutsch „Acht Tage Revolution“ (Suhrkamp, Berlin 2021), darin beschreibt Klinaŭ tagebuchartig die Ereignisse des Sommers 2020 in Belarus und die Suche nach seiner Tochter Marta, die Teil der Opposition ist und kurzzeitig gefangen genommen wird. Klinaŭ gründete 2002 das Magazin „pARTisan“, das sich der zeitgenössischen Kunst (in Belarus) widmet.
Die EU soll auf Lukaschenko zugehen?
Ich verstehe, wenn man sagt, dass im Augenblick ein Dialog mit einem solchen Regime nicht möglich ist. Aber wir müssen wieder dahin kommen.
In einem Interview Ende 2020 sagten Sie, eine „hybride Annexion“ stelle die größte Gefahr dar. Ist diese Gefahr nun größer als je zuvor?
Ja, sie ist natürlich gewachsen. Gerade arbeite ich an einem Buch über Imperien am Beispiel des russischen Imperiums. Wenn man ein Imperium wieder errichten und neu aufbauen will, braucht man ein starkes Zentrum und eine schwache Peripherie. Das ist genau das, was wir heute beobachten. Wir haben ein starkes Zentrum, Moskau, und eine sehr schwache Peripherie, das ist Minsk. So, wie Europa agiert, sorgt es leider dafür, dass Belarus in die Arme des Imperiums zurückgestoßen wird. Natürlich will Europa das nicht und spricht sich für Reformen und für eine Demokratisierung in Belarus aus, aber die Politik der Sanktionen und Bestrafung und des unterbrochenen Dialogs führt dazu, dass genau dieser Effekt eintritt.
Glauben Sie, dass der russisch-belarussische Unionsstaat Wirklichkeit wird, wie Lukaschenko und Jelzin ihn einst anstrebten?
Klar ist, dass Lukaschenko diese Vereinigung nicht will. Soweit er es kann, wird er sich dem widersetzen. Formal würde Belarus wohl unabhängig bleiben, aber de facto würde es von Russland aus regiert. Ich hoffe aber, dass das Problem im Kreml gelöst wird. Ich hoffe auf einen Kollaps des russischen Regimes, weil das dann auch einen Einfluss auf Belarus haben würde.
Sie sind ein Kritiker der neuen, jüngeren Opposition in Belarus. In Ihrem neuen Buch schreiben Sie sinngemäß, die Revolution sei zu früh gekommen. Wie meinen Sie das?
Ich war und bin eher der Ansicht, dass die Revolution keine Aussicht auf Erfolg hatte, solange Putin im Kreml sitzt. Für Belarus gibt es meines Erachtens nur einen Weg: keine Revolution, sondern Evolution. Ein langsamer Prozess, sich von dem Bären zu lösen, um es metaphorisch zu sagen. Es gab vor der gescheiterten Revolution eine langsame, lautlose Liberalisierung in verschiedenen Teilen der Gesellschaft. Wenn dieser Prozess 2020 nicht unterbrochen worden wäre – und damit sind die Wahlen und die Ereignisse danach gemeint –, hätte es einen stetigen Demokratisierungsprozess gegeben. Ich hielt das immer für ein realistisches Szenario. Denn 2020 hatte sich ein Machttransit eigentlich schon angedeutet.
Was kritisieren Sie konkret?
Ich bin der Meinung, dass jeder Politiker, ganz egal, ob nun aus der alten oder neuen Opposition, die Pflicht hat, die Dinge realistisch zu betrachten und seine Anhänger nicht in die Irre zu führen. Konkret: nicht zu behaupten, man hätte schon gewonnen, wenn das nicht der Fall ist. Politiker sollen nicht das Unmögliche fordern, weil Politik die Kunst des Möglichen ist. Aktuell bedeutet das: Die Opposition sollte die Beendigung der Repression und Freilassung aller politischen Gefangenen fordern. Das tut sie auch, allerdings fordert sie darüber hinaus Neuwahlen. Das ist absolut unrealistisch, darauf wird sich die politische Führung nicht einlassen. Die EU hat dieselben Forderungen. Aber wir müssen von den Realitäten ausgehen, da bringt uns die Forderung nach Neuwahlen nicht weiter.
Es gibt noch einen zweiten Punkt, der mir sehr wichtig ist: Politiker müssen Verantwortung übernehmen gegenüber der Gesellschaft. Ich denke, dass die Opposition, die 2020 auf den Plan getreten ist, unverantwortlich gehandelt hat. Wenn du dich an die Spitze einer Bewegung stellst, musst du dir darüber Gedanken machen, wo das hinführen kann. Die Opposition hätte meiner Meinung nach die Konsequenzen antizipieren können, hat dies aber nicht getan. Ich verstehe, dass das brutal klingt, vor allem, weil ein Großteil der Leute heute im Gefängnis sitzt. Aber wir müssen die Dinge beim Namen nennen, anders werden wir aus dieser Krise nicht herauskommen.
Sie würden der Opposition ernsthaft eine (Mit-)Schuld geben?
Nein, Schuld würde ich nicht sagen, aber man hätte die Folgen vorhersehen können. Es ist ja klar, dass das Regime und niemand anders die Leute in den Knast gebracht hat.
Die Opposition allerdings hat an eine friedliche Revolution geglaubt zu dem Zeitpunkt.
Wir müssen zwei Etappen der Revolution unterscheiden. Von Mai bis zum 9. August war der Prozess unterm Strich noch zu kontrollieren. Danach aber ist die Kontrolle entglitten – mit dem erwartbaren Ergebnis.
Ende Februar plant Lukaschenko die Einführung einer neuen Verfassung, die der letzte Schritt zur Stabilisierung des Regimes zu sein scheint. Wie blicken Sie dem Referendum entgegen?
Die Verfassungsänderung wird nicht für Stabilität sorgen. Die Regierung müsste positive Perspektiven für die Gesellschaft aufzeigen, aber außer Repression bietet sie nichts an. Wenn wir uns anschauen, was in der neuen Verfassung geplant ist, gibt es eine kleine Chance, dass sich dahinter auch etwas Positives verbirgt, denn es wird eine Machtbeschränkung und Machtüberführung angedeutet (es soll wieder eine Beschränkung des Präsidentenamts auf zwei Amtszeiten geben, d. Red.). Es ist klar, dass sich der Großteil der Macht weiter auf den Präsidenten konzentrieren wird, trotzdem könnte es ein kleiner Schritt vorwärts sein. Aber es weiß natürlich keiner, ob dieser Mechanismus dann auch tatsächlich zum Tragen kommt.
Mehr als hundert NGOs wurden inzwischen in Belarus verboten, auch der belarussische PEN und die Union der belarussischen Schriftsteller (UBW) wurden aufgelöst. Ist die Kulturszene damit weitestgehend zerschlagen?
Der kulturelle Prozess ist nicht tot. Er kann nicht öffentlich stattfinden, weil jegliche Art von Öffentlichkeit derzeit gefährlich ist. Und weil sie unsichtbar ist, kann die Kultur keinen Einfluss auf die Prozesse in Belarus nehmen. Das ist bedauerlich. Ich habe immer die These vertreten, dass Kultur ein sehr wichtiges Instrument ist, um Veränderungen in der belarussischen Gesellschaft zu erreichen.
In Ihrem Buch schildern Sie auch, wie es Ihrer Tochter Marta als Teil der neuen Opposition ergangen ist, auch sie war im Gefängnis und konnte dann nach Kiew ins Exil gehen. Wie geht es ihr heute?
Sie ist immer noch in Kiew, aber wie für alle, die sich in der Emigration befinden, ist auch für sie das Leben schwer. Es gibt wohl Zehntausende Belarussinnen und Belarussen, die derzeit im Exil sind, vielleicht auch mehr. Diese Menschen werden sicher nicht unter die Räder kommen, sondern sich ein neues Leben aufbauen. Für Belarus aber ist es sehr traurig. Es sind die Aktivsten, die Talentiertesten, die Begabtesten gegangen.
Gedolmetscht hat Barbara Oertel
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