Schottlands Energiepolitik: Gespaltene Klimabilanz
Schottlands Strom ist zu fast 100 Prozent öko, aber seine Ölexporte sind wahre CO2-Schleudern. Die Regionalregierung hat eine unklare Meinung dazu.
E nde August stellte Schottlands „First Minister“ Nicola Sturgeon ihre neue Regionalregierung mit einem breiten Lächeln vor – und ließ sie als Führungsfigur eines ebenso selbstsicheren wie umweltbewussten Landes erscheinen. Denn zu ihrem Kabinett gehören nun auch zwei Mitglieder der grünen Partei. Sturgeons nationalistische Scottish National Party (SNP) drängt ebenso wie die Grünen auf ein neues Referendum für die Unabhängigkeit der 5,5 Millionen Schott:innen vom Vereinigten Königreich.
Ganz offensichtlich ist Schottland – das die Bewahrung seiner Natur und Umwelt zum wesentlichen Teil seiner Identität gemacht hat – ein Fremdkörper in einem von den Konservativen regierten Vereinigten Königreich. Der Wunsch nach Unabhängigkeit erscheint da nur logisch. Und es ist das erste Mal in der Geschichte, dass Mitglieder der Grünen Regierungsämter im Königreich übernehmen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ihre Politik in Schottland Zulauf hat. Schließlich spielt dort die starke und lukrative eigene Öl- und Gasindustrie eine zentrale Rolle – und ist sogar einer der Gründe für das Unabhängigkeitsstreben des Landes.
Aber Schottland wandelt sich. Die Beteiligung der Grünen an der Regionalregierung, die mehr eine Kooperation als eine echte Koalition ist, war eine Folge der Wahlen im Frühjahr 2021, bei der die SNP die absolute Mehrheit um einen Sitz verfehlte. Sie verschafft dem Land neues Prestige, denn es hat trotz seines Ölreichtums einiges im Kampf gegen den Klimawandel vorzuweisen.
Schottland deckt 97 Prozent seines Strombedarfs mit erneuerbaren Energien, vor allem mit Wind- und Wasserkraft. Seine starken Stürme und die bewegte See haben Schottland zum Labor für neue grüne Technologien gemacht, darunter Gezeiten-, Wellen- und schwimmende Windkraftwerke. Schottland hat sich ambitionierte Klimaziele gesetzt und sich gesetzlich verpflichtet, bis 2045 klimaneutral zu werden.
Die speziell auf die beiden neuen grünen Regierungsmitglieder zugeschnittenen Portfolios sind wie gemacht für diese Zeiten einer planetarischen Klimakrise. Lorna Slater, Co-Vorsitzende der schottischen Grünen, wird Ministerin für grüne Aus- und Fortbildung, Kreislaufwirtschaft und Biodiversität, während Patrick Harvie das Ministerium für klimaneutrale Gebäude, nichtfossilen Transport und Verkehr und Mieter:innenrechte leitet. Dazu gibt es einen Minister der SNP für eine sozial gerechte Transformation zur Klimaneutralität. Das Kooperationsabkommen zwischen SNP und den Grünen sieht vor, Energiegewinnung aus dem Meer und durch Offshore-Windkraft auszubauen und mindestens zwei Milliarden Euro in nichtfossile Heiztechnik und Energieeffizienz zu investieren.
Doch Schottlands grünes Image bleibt ein Trugbild, falls es der neuen Regierung nicht gelingt, ein Ende der Öl- und Gasförderung herbeizuführen. Und das wäre für Schottland ein gewaltiger Schritt. Seit fünfzig Jahren haben die Exporte des Nordsee-Öls Beschäftigung gesichert und Steuern in den britischen Staatshaushalt gespült. Zugleich haben sie alle Befürchtungen zerstreut, das „arme“ Schottland könnte seine Ausgaben nicht finanzieren, sollte es das Vereinigte Königreich verlassen. Dies hat überhaupt erst das Erstarken der Unabhängigkeitsbemühungen ermöglicht. Die SNP spricht vor ihren Anhänger:innen stets nur von „unserem Öl“.
Die Emissionen, die durch Schottlands petrochemische Exporte freigesetzt werden, hinterlassen einen gigantischen CO2-Fußabdruck. Die Öl- und Gasförderung hat sich zwar seit den 1990er Jahren deutlich verringert, doch die Menge entsprach 2019 immer noch 562 Millionen Barrel, deren Verbrennung das Sechsfache der in Schottland selbst entstandenen CO2-Emissionen erzeugte. Der Verkaufserlös von etwa 26 Milliarden Euro deckt ein Zehntel des schottischen Bruttoinlandsprodukts. Komplizierter wird es dadurch, dass die schottische Regierung gar keine Befugnisse über die Energiepolitik hat – die Abwicklung der Öl- und Gasförderung kann nur das britische Parlament beschließen. Aber Schottland könnte London ein starkes Signal senden, keine Kohlenwasserstoffe mehr aus der Nordsee zu fördern, und es gäbe damit einen Grund mehr, für die Unabhängigkeit zu streiten.
ist ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler und Journalist in Berlin. Er berichtete unter anderem über den Fall der kommunistischen Staaten in Osteuropa und die Kriege im ehemaligen Jugoslawien. Heute schreibt er schwerpunktmäßig über erneuerbare Energien und die Klimakrise.
In Schottland scheinen die Menschen zu begreifen, dass ihre Zukunft nicht im Öl und Gas liegt. Etwa zwei Drittel sagen laut Umfragen, das Vereinigte Königreich sollte die Nordseeförderung verringern und mehr Geldmittel für grüne Technologien bereitstellen. Doch bei den regierenden Politiker:innen ist niemand, auch nicht die lächelnde Nicola Sturgeon, bereit, ein Datum zu nennen, an dem das letzte Barrel aus dem Boden geholt wird. Die Grünen hatten gefordert, auf die Erkundung neuer Öl- und Gasfelder zu verzichten, konnten sich an diesem Punkt aber nicht durchsetzen.
Nicola Sturgeon laviert in der Öl-Frage
Die heiße Kartoffel ist dabei das gewaltige, 800 Millionen Barrel umfassende nordatlantische „Cambo“-Ölvorkommen in der Nähe der Shetlandinseln, für das auf die Genehmigung zur Förderung gewartet wird. Der britische Premierminister Boris Johnson ist dazu entschlossen, aber Sturgeon sagt weder Ja noch Nein. Sie hat es mehrfach abgelehnt, ein Ende neuer Ölbohrungen in der Nordsee zu fordern. Die schottischen Grünen brachten sie lediglich zu dem Zugeständnis, die Lizenzerteilung für „Cambo“ juristisch prüfen zu lassen. Die schottische Sektion des Umweltschutzbunds Friends of the Earth kritisiert zu Recht, dass die Ausbeutung der bestehenden Vorkommen in der Nordsee im Widerspruch zu den Pariser Klimazielen steht.
Auch wenn Schottland vor einer schwierigen Entscheidung steht – es kann sich nicht ein grünes Mäntelchen umhängen und gleichzeitig an seiner Ölindustrie festhalten. Es geht darum, welches Schottland man sein will. Solange sich unser Planet schneller erwärmt, als das Pariser Klimaabkommen vorausgesehen hat, ist die Unabhängigkeit nicht jeden Preis wert.
Übersetzung: Stefan Schaaf
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind