Schließung des Siemenswerk in Görlitz: Existenzängste zum Weihnachtsfest
Siemens will sein Werk in Görlitz mit knapp tausend Mitarbeitern schließen. Das trifft die Stadt in gefährlichen Zeiten mitten ins Herz.
In einem kargen Raum im Wachhäuschen sitzt der Techniker und Industriemechaniker Robert Lochner. Er arbeitet im Ingenieurswesen und erstellt Prozessdiagramme. Der 36-Jährige ist ein Siemens-Gewächs: „Ich habe hier meine Ausbildung gemacht, wir sind seit drei Generationen im Unternehmen“, erzählt er. Schon der Vater hat hier in der Entwicklung gearbeitet, bei Kundgebungen geht er mit auf die Straße. Lochners Großvater arbeitete in der Buchhaltung der Vorgängerfirma, die Siemens nach der Wende aufkaufte. „Deshalb sehen viele die Arbeit auch wie in einem Familienbetrieb“, sagt Lochner, „es gibt hier viele Geschichten wie meine.“
Das Werk in der Görlitzer Südvorstadt gibt es seit 1873, damals stellte es noch unter anderem Namen Dampfmaschinen her. Seitdem hat es Wirtschaftskrisen, zwei Weltkriege, die DDR und die Wende überlebt. Dann, 1992, kam die Übernahme durch Siemens, sie brachte recht gute Löhne für einen kleinen Mittelstand. Heute stellt das Werk moderne Industriedampfturbinen her, die für Stromerzeugung in der Papierindustrie, Müllverbrennung und Solarthermie genutzt werden.
Görlitz sei darin Weltmarktführer, erklärt Lochner, sie werden bis nach Marokko verkauft. Und da sich das Werk so auf dezentrale, alternative Energieerzeugung spezialisiert hat, ahnten die Mitarbeiter nicht, dass die Energiewende ihre Arbeitsplätze treffen könnte. „Im Gegenteil: Wir profitieren doch davon, unsere Auftragsbücher sind voll bis Ende 2018“, sagt Lochner.
Geisterstadt rund um das Siemenswerk
Umso überraschender kam Mitte Oktober die Nachricht, dass Siemens Görlitz schließen will. Lochner und seine Kollegen erfuhren es aus den Medien, es hat dann Wochen gedauert, bis das Management die Mitarbeiter offiziell informierte: per Videokonferenz mit anderen betroffenen Standorten, ohne Begründung für die einzelnen, völlig unterschiedlichen Werke.
Es gebe Nachfrageeinbrüche bei den Turbinen durch den Strukturwandel hin zur Energiewende. Schließen soll auch ein Leipziger Kompressorenwerk und ein Generatorenwerk in Erfurt. Knapp tausend Mitarbeiter sind derzeit allein in Görlitz beschäftigt, ausgelagerte Logistik und Zulieferer nicht mitgerechnet. Es ist schwer zu schätzen, wie viele Familien genau betroffen sein werden. Aber es wird die strukturschwache Stadt mitten ins Herz treffen.
Denn Görlitz ist auch die Stadt, in der die AfD gerade dem künftigen sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer das sicher geglaubte CDU-Bundestagsmandat weggeschnappt hat. Während die Altstadt oft für Filme eine gut erhaltene Kulisse bietet, gleicht das Viertel um das zentral gelegene Siemenswerk einer Geisterstadt. Frisch sanierte stehen neben völlig heruntergekommenen, teils nicht einmal entrümpelten Altbauten.
Produktion nach Mühlheim verlegt
In vielen ehemaligen Geschäften liegen noch verstaubte DDR-Auslagen hinter den dreckigen Fensterscheiben, andere leerstehende Erdgeschosse wurden verwüstet. Selbst sanierte Wohnungen stehen oft noch leer. Einen Kilometer entfernt bangen 800 Mitarbeiter beim Waggonhersteller Bombardier um ihre Stellen, weil auch hier die Konzernleitung angekündigt hat, Stellen abzubauen. Dabei ging es mit der Stadt erstmals seit der Wende wieder bergauf.
Profite Am gestrigen Mittwoch beriet der Siemens-Aufsichtsrat den Geschäftsbericht für 2016/17. Er verzeichnete einen Gewinnanstieg nach Steuern von knapp 5,6 auf fast 6,2 Milliarden Euro.
Proteste Die IG Metall Ostsachsen organisierte eine Menschenkette zwischen den Werken von Siemens und Bombardier. Die IG Metall Küste forderte auf einer Kundgebung vor der Siemens-Niederlassung Hamburg Anstrengungen, das Know-how der Windindustrie zu sichern.
„Strukturschwache Regionen gibt es weiß Gott nicht nur im Osten“, sagt Siemens-Konzernsprecher Michael Friedrich auf die Frage, ob die Werksschließungen in Görlitz, Leipzig und Erfurt verantwortbar seien. Zu Görlitz sagt er: „Wir haben bei Dampfturbinen weniger ein Nachfrage- als ein Kostenproblem“, so Friedrich, „am Markt gibt es hohe Konkurrenz durch Wettbewerber aus China und Tschechien“ – die günstiger produzieren. Die Produktion werde wohl nach Mülheim verlegt – wie viele Beschäftigte das wann trifft, muss noch verhandelt werden.
Für Lochner ist ein Umzug weg aus Görlitz keine Option: Seine Frau hat gerade einen kleinen Friseurladen eröffnet. Wenn er zu weit pendeln muss, sieht er seine anderthalbjährige Tochter kaum noch. „In vier Wochen ist Weihnachten, eigentlich sollte man sich besinnlichere Gedanken machen.“ Doch die einzig sichere Prognose in Görlitz ist derzeit: Die Existenzängste werden in über tausend Familien das Fest überschatten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Die Brennelementefabrik und Rosatom
Soll Lingen Außenstelle von Moskaus Atomindustrie werden?
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen