Schlagloch Wohlstand: Alles hängt am „Wir“

Das Beste steht uns noch bevor, sagte Obama zum Antritt seiner zweiten Präsidentschaft. Das heißt: Wir können das Gemeinwohl stärken, wenn wir es wollen.

„The best is yet to come“, verkündet Obama. Bild: dapd

Die junge Frau neigt nicht zu Sentimentalität. Aber als sie am letzten Mittwoch Obamas Rede hörte nein, wir sind nicht so zynisch, wie die Kommentatoren glauben. Wir sind mehr als die Summe unserer individuellen Begierden – da habe sie feuchte Augen bekommen. Die Sehnsucht nach einem Wir, das über Familie und Gruppe hinausreicht in Vergangenheit und Zukunft, sie scheint unausrottbar.

Und deshalb war die junge Frau nicht die einzige mit feuchten Augen, als Obama seinen Wahlsieg in die zweihundertjährige Geschichte einer kurvenreichen, widersprüchlichen Emanzipation einstellte, die immer gefährdet sei, aber noch lange noch nicht zu Ende: „The best is yet to come“. Wir können es schaffen: Schulden abtragen, die Klimakatastrophe vermeiden, Schulen bauen, in denen jedes Kind seine Potentiale entfaltet, Arbeitslosigkeit überwinden, Lebensrisiken solidarisch versichern,wenn wir ein „Wir“ zustande bringen.

The best is yet to come – das ist ein Lied von Frank Sinatra. Und Obama ein Auslaufmodell, aus der Zeit, als Gesellschaften noch zuversichtlich waren, ihre Zukunft wählen und gestalten zu können, schreibt der deutsch-amerikanische Germanist Hans-Ulrich Gumbrecht in der Welt: „In dieser Wahlnacht wollten wir unerklärlich fast noch ein letztes Mal dieser Vision glauben, und wussten doch, dass er in den Worten und Sätzen einer Vergangenheit sprach, die nie mehr zurückkommen wird.“

Mathias Greffrath ist freier Autor und lebt in Berlin. Er ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac und erhielt 1988 den Jean-Améry-Preis für Essayistik. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle über den in der NSU-Affäre proaktiv gewordenen Verfassungsschutz.

Obama sei der „erste Präsident eines postpolitischen Zeitalters“, in dem eine Vorstellung von Politik als einer kollektiven Veranstaltung, in der nicht Prozentpunkte im Verteilungsstreit, sondern Systemstrukturen zum Politikum werden, „unumkehrbar“ untergehe. Ökologische Gefahren, von denen niemand mehr glaube, sie seien abzuwenden; der „unvermeidliche“ Abbau von Sozialstaatlichkeit; die gar nicht unrealistische Drohung eines Weltkriegs um lebensnotwendige Rohstoffe, all das biete keine positiven Gestaltungsalternativen. Nein, das Beste hätten wir hinter uns, allenfalls sei das Schlimmste zu verhindern.

Die Erben von zweihundert Jahren Arbeit

Wenn wir uns probeweise dieser phantasielosen Apokalyptik überließen, diesem Marsch in eine postpolitische Notverordnungsordnung mit pseudodemokratischer Fassade vor unverrückbaren Eigentumsverhältnissen, dann lägen Merkel und Steinbrück allerdings gleichauf in Führung, vor Obama. Beide geben nicht einmal vor, etwas Neues zu wollen. Angela Merkels Vision von einer durch harte Opfer bewirkten Wiederkehr des alten Wachstums ist eine Illusion, wenn nicht gar nur Taktik. Und Peer Steinbrück ist überzeugt davon, dass die Sozialdemokraten durch den Erfolg des Sozialstaats ihre Idee eingebüßt haben.

Leider, so sagte er kürzlich, hätten sie noch keine neue gefunden. Allerdings sieht es auch nicht so aus, als habe er die Absicht, eine zu entwickeln. Vielen von denen aber, ohne die nichts läuft im Land, vom Facharbeiter und Erzieherin bis hin zum Ingenieur und zur Geschäftsführerin reicht das nicht. Sie wissen zur Genüge, was die wirklich großen Probleme sind: Energie, Rente, Bildung, Arbeit, Gesundheit, Finanzmäkte – und die internationalen Ungleichgewichte. Sie sehnen sich nach einer Zuspitzung von Alternativen auf allen diesen Gebieten.

Die Errungenschaften der sozialen Demokratie unter Bedingungen schrumpfenden Wachstums halbwegs zu verteidigen, das wäre schon eine Leistung. Aber mehr als das? “Das Beste kommt noch“ – wie soll das heute gehen? Und mit welcher Rhetorik? Vielleicht so, oder so ähnlich: Wir sind reich geworden, weil wir Erben sind. Die Erben von zweihundert Jahren Arbeit. Die Erben einer Nation, die sich nach glänzenden Erfolgen und schlimmsten Verirrungen zum Primat des Gemeinwohls bekannt hat, gegen die schrankenlose Selbstverwirklichung der Kapitaleigner.

Und darin sind wir Erben einer europäischen Geschichte. die vom Alten Testament über Aristoteles, Thomas von Aquin, Rousseau, Kant und Rathenau, bis hin zu Marx und Benedikt XVI. die Idee des Gemeinwohl stark gemacht hat. Und ohne diesen Primat des Gemeinwohls wird unser Lieblingskind, der Individualismus zerstörerisch.

Wenn wir es wollen

Ein Wahlkämpfer im Epochenbruch könnte aus dem Artikel 14,2 des Grundgesetzes – „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ – das rhetorische Leitmotiv seiner Kampagne machen, eine große Diskussion entfachen über die Frage: Welche Bereiche unseres Lebens müssen der Logik des Kapitals entzogen werden und der des Gemeineigentums folgen?

Das Beste kommt noch, würde ein solcher Wahlkämpfer vielleicht auch sagen, auch wenn wir 200 Jahre Schieflage in der Eigentumsordnung nicht in vier Jahren beseitigen können. Aber auf mittlere Sicht werden wir einiges umschichten. Lassen Sie mich nur eines nennen: Bildung. Die Anzahl der Lehrer aller Schulen zu verdoppeln, so dass auf acht Schüler ein Lehrer käme, würde rund 100 Milliarden pro Jahr kosten, das entspricht einem Prozent aller Privatvermögen. Eine Steuerreform in diese Richtung wäre eine Investition in die Zukunft unserer Kinder und des Landes. The best is yet to come, wenn wir es wollen.

Ein Kanzlerkandidat, der so redete, oder so ähnlich, hätte auch in unserem nüchternen Land, davon bin ich überzeugt, bessere demoskopische Werte als Peer Steinbrück zur Zeit. Aber ein solcher Kandidat könnte nur rot-rot-grün regieren, zusammen mit der einzigen Partei also, deren führende Repräsentanten sich gelegentlich talkshow-wirksam und ernst gemeint auf Perikles, Kant, Goethe, Adam Smith, John Stuart Mill, Walter Eucken oder Ludwig Erhard beziehen (auch wenn die Partei selbst diesem Erbe bis auf weiteres nicht gerecht wird).

Und das heißt: Im nächsten Jahr gibt es keine realistische Möglichkeit, einen Politikwechsel zu wählen. Erhard Eppler setzt deshalb, bei aller Loyalität zum aktuellen Kandidaten, auf 2017. Dann ist er 90. Und Gumbrecht 69. Und die junge Frau immer noch im besten Alter.

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