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Schlagloch LügenpresseDen Trennstrich gezogen

Kommentar von Georg Seesslen

Die „Lügenpresse“-Propagandisten von Pegida wollen nicht erzählt werden, sondern Erzählung sein. Sie entziehen sich dem demokratisches Diskurs.

Eher kein kritischer Einwurf Bild: dpa

W as ist eigentlich die Aufgabe einer „freien Presse“? Schwer zu sagen. Es hat wohl etwas damit zu tun, gegenüber einer unübersichtlichen, chaotischen, widersprüchlichen Welt „Erzählungen“ zu erzeugen.

Der ehrenwerte Journalist versucht eine Erzählung zu kreieren, die sich möglichst, nun ja, realistisch an die Partikel des Wirklichen hält. Er und sie versuchen möglichst viele Partikel des Wirklichen zusammenzubringen, bevor sie eine Erzählung anbieten, die sie mit den Instrumenten der Aufklärung bearbeiten. Der ehrenwerte Journalist reflektiert die Grenzen seiner Erzählfähigkeit und die Grenzen der Erzählbarkeit. Er steht sich selbst und seiner Erzählung kritisch gegenüber und ist bereit, sie im Zweifelsfall zu revidieren.

Der nicht so ehrenwerte Journalist kreiert die Erzählung, die er schon mehr oder weniger fertig im Kopf hat, die Erzählung, die seiner Einstellung, seinem Milieu, seinem Wissensstand, seinen Interessen entspricht. Er wird im Zweifelsfall Partikel der Wirklichkeit ausblenden oder entsprechend interpretieren, um seiner eigenen Erzählung von der Welt nicht zu widersprechen. Der nicht so ehrenwerte Journalist will die Welt seiner Erzählung (oder der seiner Auftraggeber) unterordnen. Womöglich erklärt er seinen Lesern und Leserinnen immerhin, wie die Erzählung aussieht, die er im Kopf hat, bevor er die Welt aktuell erzählbar machen will.

Der ehrlose Journalist dagegen kreiert die Erzählung, die von ihm gefragt und abgefragt wird. Von seinen Auftraggebern und von deren Kunden, den Zuschauern, Zuhörern und Lesern. Dem ehrlosen Journalisten sind die Partikel der Wirklichkeit nur Anlass und Material, marktgängige, interessengesteuerte Geschichten zu erzeugen. Er ist weder selbstkritisch wie der ehrenwerte Journalist noch konsistent wie der nicht so ehrenwerte Journalist, sondern opportunistisch und skrupellos.

Georg Seeßlen

ist freier Autor und hat bereits über 20 Bücher zum Thema Film veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm: „Kunst frisst Geld. Geld frisst Kunst“, gemeinsam mit Markus Metz verfasst (Suhrkamp). Er lebt in Bayern und Italien.

Natürlich gibt es diese Unterscheidung in der Wirklichkeit einer freien Markt-Presse nicht so klar, wie sie in der Theorie scheinen mag. Je härter das Geschäft wird, desto grauer seine Zonen.

Beispiel Ukraine-Berichterstattung

Die Ukraine-Berichterstattung der freien deutschen Presse ist mehrheitlich voreingenommen, genormt, propagandistisch infiziert und auch politisch gefährlich. Das heißt aber nicht, dass die Erzählung der Gegenseite weniger voreingenommen, genormt, propagandistisch infiziert und am Ende politisch gefährlich wäre.

Zweifellos hat ein Sog den deutschen Journalismus bezüglich der Ukraine-Krise erfasst, in der Produktion einer Erzählung, die „uns“ passt, und mehr noch, die ein entsprechendes „Wir“ erst erzeugt. Mit einer denkwürdig militanten Nebenerscheinung, nämlich dem radikalen Ausschluss aller Kritik und Selbstkritik, der Denunziation aller Dissidenz.

Gegenschnitt: „Lügenpresse!“ Die furchtbare Pegida-Bewegungsversammlung von Nazis, die jetzt schon wissen, dass sie nachher keine gewesen sein werden, hält dieses Schild nicht umsonst hoch, auch das in direkter Übernahme des Neonazi-Rituals: „Die Presse lügt. Die Presse lügt“ skandieren sie, denn sie wollen Erzählung werden und nicht erzählt werden.

Jede Art von antidemokratischer Selbstinszenierung beginnt mit dem großen Bruch: Ab hier gibt es zwei Wahrheiten, zwei Wirklichkeiten, die eine, die allgemeine (liberale und „linke“, die ungläubige und ketzerische), die andere, die wahre, die an Logik und Empathie nicht gebundene privilegierte und eschatologische Wahrheit einer Religion oder eines religiös modellierten Codes. Es ist das große Konstrukt: WIR und DIE ANDEREN.

Insofern bedeutet das „Lügenpresse“ der Pegida ganz und gar nicht, dass man den Medien als Nachrichtenübermittlung oder Erzählmaschine nicht traute. Man ist da, ganz im Gegenteil, nachgerade Presse-süchtig. Wenn ein als Lügenschleuder bekanntes Blatt eine Lügengeschichte über das Verbot von „Weihnachtsmärkten“ durch üble Allianzen von Islamisten und „Liberalen“ druckt, dann wird dies umstandslos „geglaubt“.

„Lügenpresse“ ist also kein kritischer Einwurf, sondern es beschreibt den Trennungsstrich zwischen einer „falschen“ Weltsicht der Allgemeinheit und der „richtigen“ Weltsicht der Privilegierten im Innenraum der alogischen und empathielosen „Wahrheit“. Es erklärt den Bruch mit der humanistischen Erzählungspluralität.

Hilfloser Journalismus

Politiker, die mit dieser Bewegung oder ihren Mitläufern „reden wollen“, begreifen, dass „das Volk“ (eine Fiktion, die sich bei Bedarf verwirklichen lässt) in Deutschland immer rechts steht und sich durch das kategorische „Lügenpresse“ dem demokratischen Diskurs entzogen hat. Weil es sich aber auch um „Wähler“ handelt, wollen sie „das Volk“ eben irgendwie rechts wieder „abholen“.

Die Spaltung von Pegida vollzieht sich genau an diesem Punkt, zwischen den „Gesprächsbereiten“, die vielleicht wieder in die Mainstream-Erzählung zurückfließen (diese freilich weiter nach rechts treiben), und jenen, die das „Lügenpresse“-Schild nicht anders verstehen als konsequenten, radikalen und im Kern „religiösen“ Bruch mit der demokratischen Vielstimmigkeit.

Die freie Presse, ein kompliziertes, manchmal ekliges und manchmal kreatives Durcheinander von ehrenwerten, nicht so ehrenwerten und ehrlosen Personen und Institutionen, ist drauf und dran, die Fähigkeit zu verlieren, Erzählungen der Welt zu erzeugen, mit denen eine demokratische, liberale und kapitalistische, oder auch eine postdemokratische, digitalkontrollierte und finanzkapitalistische Gesellschaft „richtig“ leben kann. Der Markt kann sich „Qualitätsjournalismus“ bald nicht mehr leisten, und der einzelne Berufsjournalist kann sich nicht mehr leisten, durchweg ehrenwert zu bleiben.

Die nicht erzählte oder schlecht erzählte Welt aber ist genau die, in der sich Intoleranz, Fundamentalismus und Terror am Ende ausbreiten. Die Faschisten jeder Couleur wissen, warum sie als Erstes die freie Presse angreifen. Die Demokratie, oder was aus ihr geworden ist, weiß aber nicht, wie sie sie verteidigen könnte.

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7 Kommentare

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  • 1G
    12671 (Profil gelöscht)

    Lügenpresse: Jawohl! Dabei gibt es die ehrenwerten, die eher objektiv sind. Dazu zähle ich die Süddeutsche Zeitung. Die taz ist für mich auch ein Vorreiter, eben kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Auch wenn sie teilweise Leserbriefe löscht und somit die Wahrheit beeinträchtigt. Nur – die ganz große Objektivität wird es nie geben. Ein Yanomani-Einwohner wird die Wahrheit immer anders beurteilen als ein McDonalds-Besucher, der gerade den Fleischklops isst, der von Rindern stammt, die auf brasilianischen ehemaligen Urwaldflächen gegrast haben.

     

    Ich selber habe eine kleine neue Webseite aufgelegt, und versuche auf http://analogo.de/ die verschiedenen Positionen anhand von allseits abrufbaren politischen Übersichten darzustellen. Das ist leider nur eine irre Arbeit und braucht enorm viel Zeit. Aber es ist m. E. ein Weg „Lügen“ zu entkräften, indem man einfach unzählige Fakten dagegenhält. Pressearbeit sollte nämlich Faktenarbeit sein. Und Fakten sind der Hebel, mit dem die Presse auch in Zukunft überleben wird. Die Welt braucht die Berichterstatter, weil die Menschen neugierig sind.

  • Lügenpresse ist meist ungerechtfertigt. Ich staune oft, was dann doch in der Zeitung aufgedeckt wird. So z.B. der Skandal um die "Abzapfluft", den die Fluggesellschaften bis heute unter dem Teppich halten möchten. Dann wurde 2009 die "Verschwörungstheorie" zur sog. Kanzlerakte durch Egon Bahr aufgedeckt usw. Die Berichte zur NSA und CIA-Folteraffäre scheinen die Leser aber kaum interessiert zu haben. Es ist doch nicht verwunderlich, dass viele Medien dem Bürger einfach das präsentieren, was er offensichtlich will MUNDUS VULT DECIPI

  • Wir 68er kannten den Begriff ja ganz gut. Irrtümlich wird er den Nazis zugeschrieben. Dabei wurde gerade Hilers Presse vom Widerstand als Lügenpresse bezeichnet!

  • Dimitri Gutnacht hat mir mal gesagt: “Das Schlimmste, mein Freund, sind nicht die Lügen, die sie dir erzählen. Das Schlimmste sind die Lügen, die du hören möchtest.”

     

    Ich denke, das grundlegende Problem ist nicht "die Lügenpresse", sondern die allgemeine Akzeptanz der Lüge im Dienste einer möglichst simplen Welterklärung.

     

    Wer sich mit der Lüge zufrieden gibt, ist ein schlechter, ein unkritischer Geschichtenhörer. Immer unkritischere Geschichtenhörer erzeugen aber immer dreistere Erzählstümper.

     

    Das geht so lange "gut", bis die Wirklichkeit ihre erschütternden Geschichten so erzählt, dass niemand sie mehr ignorieren kann. Das ist ein großes Hallo-wach! Danach herrscht große Aufmerksamkeit. Vorübergehend. Bei den Überlebenden.

     

    Deshalb hat Georg Seeßlen recht, wenn er im Hier und Jetzt eine bessere, genauere, kritischere, vielfältigere und damit wahrhaftigere Erzählung der Welt einfordert.

     

    Und wir täten gut daran, Lügen aufzuzeigen und Lügner zur Rede zu stellen. Die Wahrheitssucher und redlichen Erzähler zu loben und zu fördern. Und selbst Wahrheit zu suchen und zu erzählen.

  • Der Begriff „Lügenpresse“ hat aus meiner Sicht definitiv seine Berechtigung. Und zu dieser Berechtigung haben die Lohnschreiber und „Journalisten“, Zeitungsverleger und Medien Konzerne wie Axel Springer AG ihren Beitrag geleistet. Ich persönlich wäre von einigen Jahren gar nicht auf Idee gekommen, Inhalte in Deutschen Medien auf Plausibilität und Stichhaltigkeit mit ausländischen Medien querzuprüfen. Un das Ergebnis ist eine Katastrophe für die Publizitätssippe in Deutschland.

    Im Übrigen sind Journalisten bei Bewertung des Begrifflichkeit „Lügenpresse“ naturgemäß nicht objektiv weil sie in dieser Frage aufgrund der Sache selbst befangen, sind.

  • Bravo!

    Dieser Beitrag ist Lehrstück und Leitfaden für den richtigen Umgang mit einer solchen Frage. Einer Frage, die plötzlich wie ein plumper Findling im Raum liegt und zunächst nur fluchend umkreist wird, statt beherzt angepackt.

    Bravo, Georg Seeßlen, fürs Anpacken! Ich hoffe, daraus wird jetzt eine breite und fruchtbare Weiterbearbeitung.

  • Liest sich so, als sei die 'Freie Presse' am aussterben. Die eine halten die Fahne der Pressefreiheit hoch, auch für die, die sich verkaufen. Die andere tragen das Schild Lügenpresse, auch gegen die 'seriöse' Presse. Beide haben Recht, zum Teil und auch nicht.

    Nicht überall wo Presse draufsteht, ist auch Presse drin.